Daniel Wildmann:
Der veränderbare Körper.
Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900.
Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 2009.
329 Seiten, ISBN 978-3-16-150094-7, € 64,00
Abstract: In seiner körpergeschichtlichen Studie widmet sich Daniel Wildmann nationaljüdischen Turnvereinen in Deutschland im Zeitraum von 1898 bis 1921. Er zeichnet nach, wie sich der Entwurf eines jüdischen Turnkollektivs in politischen Auseinandersetzungen im Spannungsfeld von Zionismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich verorten lässt und an welche medizinischen Diskurse die Debatten um eine körperlich-therapeutische Wirkung von Turnen anknüpften. Schwerpunkt seiner Arbeit ist jedoch das Herausarbeiten der geschlechtlichen Kodierung der jüdischen turnenden Männer- und Frauenkörper. Hier zeigt Wildmann, dass insbesondere eine eigensinnige Aneignung und Umdeutung von Vorstellungen der jüdischen Antike sowie Körperbilder einer Offiziers-Männlichkeit die Vorstellung von idealer jüdischer Männlichkeit prägten.
„Wir wollen kräftige Muskeljuden werden“, rief die Turnerin Betti Eger vom Jüdischen Turnverein Bar Kochbar Berlin im Jahr 1911 ihren Geschlechtsgenossinnen zu. Damit sagte sie nicht nur etwas über die rein körperlichen Ziele von jüdischem organisierten Turnen aus, sondern implizit auch etwas über den Zusammenhang von Körper, Politik, Geschlecht und jüdischer Emanzipation in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Daniel Wildmann hat eine Geschichte über jüdisches Turnen in Vereinen in Deutschland geschrieben, in der er die politische, medizinische und geschlechtliche Dimension dieses Phänomens in den Jahren von 1898 bis 1921 in den Blick nimmt. Sein Fokus richtet sich auf die Frage, wie durch Turnen jüdische Männlichkeit konstruiert wurde, aber auch darauf, welche Bedeutung weiblichem Turnen zukam – das Zitat von Betti Eger gibt hierzu eine erste Auskunft.
Ein solches Erkenntnisinteresse ist vielversprechend. Geschlechtergeschichte als ein mehrfach relationales Projekt zu entwerfen ist oft gefordert, aber nur selten eingelöst worden. Thema und Zuschnitt der Studie von Wildmann können solchen Forderungen gerecht werden, tritt doch in dieser Arbeit Männlichkeit in Relation zu Weiblichkeit in Erscheinung und wird zugleich mit dem Körper ein Untersuchungsfeld im theoretisch umkämpften Schnittfeld von Diskursen und Erfahrungen betreten, in dem sich Wissen über race und gender als „Leibhaftige Vergangenheit“ (Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000) präsentiert.
Als Quellenfundus dient in erster Linie die Jüdische Turnerzeitung, die über 21 Jahre das zentrale Publikationsorgan der nationaljüdischen Turnbewegung darstellte.
Gerade an eben jenem Begriff des „nationaljüdischen Turnens“ lässt sich die politische Dimension ablesen. Wildmann arbeitet überzeugend heraus, warum sich die Funktionäre der jüdischen Turnbewegung gerade des Terminus „nationaljüdisch“ bedienten. Dieser Begriff war zwar bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Sammelbezeichnung für politische Konzepte, die in einer eigenen Staatlichkeit in Palästina die jüdische Zukunft erblickten. Seit sich für dieses Ziel der Begriff des Zionismus durchsetzte, konnte der Terminus „nationaljüdisch“ nun aber in Nuancen anders belegt werden. Für „nationaljüdisches Turnen“ in Deutschland bedeutete das, „dass damit aus jüdischer Perspektive ein zur nichtjüdischen Umwelt differentes Kollektiv beschrieben wurde, dessen Werte positiv gesetzt werden konnten“ (S. 29). Die Gemeinschaft jüdischer Turner (und ab 1902 auch zunehmend von Turnerinnen) grenzte sich damit vom homogen gedachten Kollektivkörper einer deutschen Nation ab, musste sich aber zugleich begrifflich-ideologisch nicht komplett an zionistische Kollektivierungen anlehnen, die im deutschen Kaiserreich mindestens als verdächtig galten. Turnen beinhaltete dabei konzeptionell weitaus mehr als ein bloßes Freizeitvergnügen. Die Arbeit am Körper sollte dazu dienen, Grundlage für ein auch physisch zu erneuerndes Judentum zu sein, oder, wie die Jüdische Turnerzeitung im Januar 1900 schrieb: „Wir wollen dem schlaffen jüdischen Leib die verlorene Spannkraft wiedergeben.“
Nationaljüdisch organisiertes Turnen war also in erster Linie ein therapeutisches Projekt für einen neu zu denkenden jüdischen Nationalkörper. Antisemitische Ideologie aufgreifend und umdeutend ging es den Turnerfunktionären darum, eine vermeintliche Degeneration der Körper von Jüdinnen und Juden als das historische Ergebnis von Diskriminierung und Ausgrenzung zu deuten. Nationaljüdisches Turnen wurde nun als eine Möglichkeit präsentiert, sich des eigenen Körpers wieder zu bemächtigen und auf diese Weise auf das (Wieder-)Erstarken eines jüdischen Nationalkörpers hinzuarbeiten.
Welche Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit umfasste ein solcher durch Turnen gestärkter Nationalkörper? Hier zeigt Wildmann, dass es auch in den nationaljüdischen Vereinen um die Förderung einer Frauengesundheit ging, die Mutterschaft als das Gebären von Nachwuchs für die jüdische Nation überhöhte. Die satzungsgemäße Integration von Frauen in die Vereine, ihre Sichtbarkeit bei öffentlichen Turnvorführungen und auch die Turnübungen, die die männlichen Funktionäre den weiblichen Körpern zugestanden, waren jedoch weit progressiver als in den ‚deutschen‘ Turnvereinen. So konnten jüdische Turnerinnen auch an Turnfesten außerhalb ihrer Heimatstädte teilnehmen, eine Praxis, die die ‚deutschen‘ Vereine ihren weiblichen Mitgliedern noch lange verwehrten. Geschlechterverhältnisse gerieten also zumindest partiell – dies zeigt Wildmann überzeugend – durch jüdisch organisiertes Turnen aus dem Gleichgewicht.
Eine Differenz zum Männlichen – darauf achteten die Funktionäre – blieb jedoch bestehen. Hier orientieren sich die Turner an dem von Max Nordau entworfenen Konzept eines „Muskeljudenthums“. Zwar durften auch die Körper von Frauen über Muskeln verfügen – das zu Beginn angeführte Zitat deutet dies an –, Vorbild für männliche Turner wurde jedoch eine militärische Männlichkeit, die ihren Körper in den Dienst der jüdischen Nation stellte. Hier spielte die Aneignung von antiker jüdischer Geschichte für die Konstitution von Männlichkeit eine entscheidende Rolle. So dienten die Figur des Bar Kochbar und der Makkabäeraufstand als positive historische Identifikationsfolien in Publikationen der Jüdischen Turnerzeitung. In der sportlichen Wettkampfpraxis der Antike, in der die Athleten nackt gegeneinander angetreten sind, seien die jüdischen Athleten aufgrund ihrer Beschneidung ständig als solche zu erkennen und deshalb Diskriminierungen ausgesetzt gewesen. Das sichtbare Tragen von Turnhemden mit Davidstern in ihren Vereinen sahen die jüdischen Sportfunktionäre als eine positiv gewendete Antwort auf die antike Diskriminierungspraxis, als ein sichtbares Signal und öffentliches Bekenntnis zum Judentum. Neben dieser historischen Dimension bei der Konstituierung von Männlichkeit orientierten sich maskuline Körperideale am Bild eines ‚aufrechten‘ Mannes – und reagierten damit auf Körperinszenierungen einer Offiziersmännlichkeit, von der jüdische Männer de facto im Kaiserreich ausgeschlossen blieben.
Es gelingt Daniel Wildmann in seiner Studie, den geschlechtlichen Körper als historischen Erfahrungsraum zu erschließen. Dabei rekonstruiert er sowohl die Historizität von Kollektivkörpern als auch die geschlechtliche Kodierung der Körper von Männern und Frauen, die sich in einem solchen Kollektiv versammelt haben. Einen „Abdruck der Geschichte im Körper“ kann der Autor auf diese Weise zweifelsfrei und überzeugend nachweisen. Die Studie zeigt, dass Aushandlungsprozesse von Männlichkeit bei vermeintlich marginalisierten Männern auf ambivalente Weise stattgefunden haben und dass gerade jenseits des Mainstreams von hegemonialer Männlichkeit die eigentlich spannenden Prozesse zu beobachten sind: Körperkonzepte wurden von Akteur/-innen historisiert, Geschichte diente als Erfahrungsraum, der spannungsreich und eigensinnig angeeignet werden konnte.
Der Quellenlage ist es geschuldet, dass sich die Studie nur der diskursiven Konstruktion von geschlechtlichen Kollektiv- und Individualkörpern widmet, schwerpunktmäßig durch die Analyse der Publikationstätigkeit der Jüdischen Turnerzeitung. Geschlecht und Körper treten hier primär in ihrer Fremddefinition durch zumeist männliche Sportfunktionäre zutage. Inwieweit sich die jüdischen Turner/-innen solche Fremdzuschreibungen auch als Selbstzuschreibungen angeeignet haben und welche Strahlkraft solche Fremdzuschreibungen in der jüdischen Community entfaltet haben, kann die Studie deshalb zwangsläufig nicht beantworten.
Der Text von Wildmann regt zu weiteren Forschungen an, etwa zu einem Vergleich der Körperkonzepte von jüdischen Sexualwissenschaftlern in Kaiserreich und Weimarer Republik mit denen der jüdischen Turnfunktionäre oder zu einer vertiefenden Analyse der vergeschlechtlichten Körperkonzepte von Jüdinnen und Juden, die eben nicht turnten, sondern sich dem Konkurrenzunternehmen des Sports gewidmet haben.
URN urn:nbn:de:0114-qn111224
Dr. Martin Lücke
Freie Universität Berlin
Friedrich-Meinecke-Institut, Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte
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E-Mail: martin.luecke@fu-berlin.de
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