Christoph Palmert, Suzan Douma, Matthias Meitzler, Johannes Wahl:
Devianz als Alltag.
Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Prostitution, Freiern und Stripclubs im Frankfurter Bahnhofsviertel.
Norderstedt: Books on Demand 2009.
208 Seiten, ISBN 978-3-8370-6460-5, € 18,50
Abstract: Der vorliegende Band umfasst Beiträge von vier Nachwuchswissenschaftler/-innen, die das Prostitutionsmilieu des Bahnhofsviertels von Frankfurt am Main einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen haben. Wie der Titel des Werks zu erkennen gibt, ordnen sie ihre Studien in die Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Devianz‘ ein. Der verwendete methodologische Ansatz – die Feldforschung – scheint hier besonders angebracht zu sein, um herrschende Vorstellungen vom devianten Charakter der Prostitution mit der Empirie zu konfrontieren. Leider scheitert der Band daran, die ethnographischen Beobachtungen mit einer wissenschaftlichen Analyse der Begriffe ‚Devianz‘ und ‚Normen‘ (und deren sozialen Konstruktion) zu verknüpfen. Bedauernswert ist zudem die fehlende Reflexion über den Zusammenhang zwischen Raum, Gender und Politik im Lichte des Sonderfalls der Prostitution im Frankfurter Bahnhofsviertel.
Die Autor/-innen dieses Sammelbandes haben es sich zum Ziel gesetzt, das Prostitutionsmilieu des Bahnhofsviertels von Frankfurt am Main einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Johannes Wahl beschreibt im ersten Text des Bandes in kompakter Form die Geschichte der Prostitution, deren Wahrnehmung und die ihr gesetzten sozialen und politischen Rahmenbedingungen. Im zweiten Text gibt Suzan Douma einen Einblick in die Struktur und die täglichen Abläufe eines Bordells im Frankfurter Bahnhofsviertel. Christoph Palmert zeigt anschließend die Handlungs- und Diskursregister der unterschiedlichen Akteur/-innen im Prostitutionsmilieu des Bahnhofsviertels und skizziert eine Annäherung zwischen der aktuellen und zukünftigen Entwicklung des Frankfurter Bahnhofsviertels und jener von Las Vegas. Im vierten Text schließlich, verfasst von Matthias Meitzler, werden die Begriffe von Normen, Kontrolle und ‚Devianz‘ im Zusammenhang mit dem spezifischen Umfeld des Bahnhofsviertels von Frankfurt hinterfragt.
Das Projekt der vier Autor/-innen ist an erster Stelle durch seinen Anspruch definiert, einen Blick hinter die Kulissen eines Phänomens zu ermöglichen, welches oft als Herausforderung für die Sozialwissenschaften beschrieben wird: Als politisch, sozial und moralisch umstrittenes Phänomen erscheint der Verkauf von sexuellen Diensten als ein emotionsgeladenes Forschungsobjekt. Zu dessen Verständnis gehört genauso eine präzise wissenschaftliche Analyse des Phänomens wie eine Selbstreflexion der Forschenden über die eigenen Vorurteile. Mit dem gewählten Titel wird das Werk in das Feld der Studien über ‚Devianz‘ eingeordnet, ein Konzept von welchem wir – insbesondere seit Howard S. Becker (Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance. New York: Free Press of Glencoe, Collier-Macmillan 1963) – wissen, dass es in der sozialwissenschaftlichen Forschung als nicht problemlos angesehen wird: Die Relativität von ‚Devianz‘ setzt eine überlegte und distanzierte Anwendung des Konzepts voraus. In diesem Sinne trägt eine Darstellung der Prostitution als deviante Aktivität per se – wie dies in den drei ersten Beiträgen dieses Bands der Fall zu sein scheint – nicht zu ihrem Verständnis bei. Vielmehr sollte es darum gehen zu untersuchen, wie ‚Devianz‘ durch normative Reaktionen auf besondere Verhaltensweisen sozial konstruiert wird. Deswegen kann nur eine soziologische Analyse von ‚Devianz‘, welche die historischen, moralischen und politischen Komponenten beachtet, die zum Prozess dieser Etikettierung führen, und welche die Auswirkungen dieser Etikettierung auf die vorhandenen Handlungsoptionen und den Diskurs der in die Prostitution involvierten Akteur/-innen in den Blick nimmt, zu differenzierteren Sichtweisen auf die gesellschaftliche Konstruiertheit des Phänomens beitragen. Zwar sind in den einzelnen Beiträgen manche Elemente vorhanden, die zu einer solchen Analyse der ‚Devianz‘ und deren sozialer Konstruktiertheit hätten beitragen können, allerdings werden sie hier nicht nur viel zu wenig miteinander verknüpft (weshalb es dem Band deutlich an Konsistenz mangelt), sondern auch kaum vor dem Hintergrund der durchgeführten ethnographischen Beobachtungen reflektiert.
Der verwendete methodologische Ansatz, die Feldforschung, hätte jedoch für die vorliegenden Beiträge von besonderer Bedeutung sein können, da mit Hilfe dieses Verfahrens herrschende Vorstellungen von der ‚Devianz‘ der Prostitution mit der Empirie konfrontiert und die Formen untersucht werden können, mit denen die betroffenen Akteur/-innen vor Ort diese Etikettierung ihrer Tätigkeit bestätigen oder zu umgehen versuchen. Die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit der empirischen Analysen wird in allen Beiträgen allerdings durch den Mangel von grundlegenden Erläuterungen zur durchgeführten Feldforschung erheblich in Frage gestellt; so fehlen etwa Angaben zur Dauer der durchgeführten Beobachtungen oder zur Anzahl der befragten Personen, obwohl diese Angaben für die Überprüfung der Hypothesen und der gewonnenen Resultate von erheblicher Bedeutung wären. Außerdem wird die Feldforschung nur in den seltensten Fällen von den Autor/-innen genutzt, um die Vergabe des Etiketts ‚Devianz‘ zu reflektieren. Im Gegenteil nähern sich die Autor/-innen dem Forschungsgegenstand vorwiegend anhand normativer und vorherrschender Schemata, was zum Beispiel mit der Stigmatisierung der Sexualwünsche von Freiern als „absurd“ (S. 67) besonders sichtbar wird. Die abschließende Feststellung von Suzan Douma, laut welcher Prostituierte schließlich „gewöhnliche Leute“ (S. 84) seien, wird zwar von ihr selbst als das Ergebnis eines Distanzierungsprozesses von normativen Vorurteilen gegenüber Sexarbeitern dargestellt, bestätigt aber den Eindruck, dass die Etiketten ‚deviant‘ und ‚gewöhnlich‘, ‚normal‘ und ‚anormal‘ hier nicht hinterfragt, sondern als Analysekategorien verwendet wurden.
Diese Tendenz zur Normativität, von welcher zahlreiche Werke über den Verkauf sexueller Dienste betroffen sind und welche darin besteht, die Spezifik der betroffenen Akteur/-innen, ihrer Motivationen und ihrer Beziehungen zueinander (insbesondere aus einer Gender-Perspektive) als gegeben darzustellen, könnte ausgeglichen werden, wenn sich die soziologische Beschäftigung mit der Sexarbeit der Methodik anderer soziologischer Arbeiten zu emotional weniger aufgeladenen Themen annähern würde. Diese Annäherung könnte es erlauben, die Haltung zum Forschungsobjekt zu versachlichen und somit einige Gemeinplätze in Frage zu stellen wie etwa die Darstellung der Prostituierten als „nicht emanzipiert“ (S. 121): Inwiefern muss der Verkauf sexueller Leistungen als das Zeichen einer Unterordnung der sich prostituierenden Frau unter den sexuelle Dienste in Anspruch nehmenden Mann gesehen werden? Erlaubt diese unhinterfragte Annahme männlicher Dominanz eine Analyse der Komplexität der Machtverhältnisse zwischen Prostituierten, Freiern und Zuhältern? Wäre die Frage der ‚Devianz‘ als Prozess der sozialen Etikettierung bestimmter Verhaltensweisen an eine zentralere Stelle des Werkes gerückt worden, anstelle nur im letzten Teil behandelt zu werden, und wäre diese Fragestellung stärker mit dem im Feld erhobenen Material in Verbindung gebracht worden, hätten die Autor/-innen die Reflexion über die soziale Konstruktion von Normen und deren Relativität besser herausarbeiten können. Angewandt auf das Forschungsobjekt dieses Werkes hätten es solche Überlegungen den Autor/-innen erlaubt, die simple Identifizierung des ‚devianten‘ Charakters des Bahnhofsviertels hinter sich zu lassen (diese Identifizierung basiert auf einer bewussten Amalgamierung unterschiedlichster Indikatoren wie Drogenkonsum, Prostitution, Präsenz von Ausländern etc., vgl. S. 125), um sich darauf zu konzentrieren, wie Akteur/-innen des Prostitutionsmilieus zu Grenzgänger/-innen der politischen, sozialen und moralischen Ordnung gemacht werden: Inwiefern hängt die Wahrnehmung der Prostitution im Frankfurter Bahnhofsviertel als ‚deviant‘ mit der sozialen Konstruktion des Viertels selbst als stigmatisiert zusammen? Was steckt vor allem hinter diesem Begriff der „sozialen Konstruktion“ von ‚Devianz‘?
Da die Etikettierung von ‚Devianz‘ immer das Ergebnis von Interaktionen zwischen normenproduzierenden (oder -reproduzierenden) und normenüberschreitenden Akteuren ist, sollten genau solche Interaktionen zum Schwerpunkt der Analyse werden. Nur anhand einer Analyse der Interaktionen zwischen den Akteuren, die ‚Devianz‘ zuschreiben und kontrollieren (die Polizei, aber auch die Bordellbetreiber, welche anscheinend größtenteils zur Regulierung des Viertels beitragen), und deren Zielgruppen (überwiegend Prostituierte und Drogensüchtige) könnten Zuschreibungsmechanismen und deren Konsequenzen auf das Handeln der Betroffenen (Anpassung, Umgehung, Widerstand etc.) beleuchtet werden und somit der Begriff ‚Devianz‘, dessen Relativität und dessen soziale Konstruktion erörtert werden.
Dieser Ansatz hätte es auch ermöglicht, das reiche Potenzial der nur kurz skizzierten Hypothese auszuschöpfen, laut welcher eine tolerantere Politik gegenüber ‚abweichendem‘ Verhalten im Bahnhofsviertel die ‚Devianz‘ auf diese urbane Zone zu beschränken und damit ihre Kontrolle zu erleichtern versucht. Somit hätte auch das Thema ‚Raum‘ an eine zentralere Stelle der Analyse gerückt werden können. Obwohl sich die Autor/-innen auf einen geografisch festgelegten Raum konzentriert haben, welcher zweifellos soziale und wirtschaftliche Besonderheiten aufweist, wird die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ort und Handlung (oder Nichthandlung) kaum gestellt. Diese Perspektive hätte es ermöglicht, die Analyse mit anderen wissenschaftlichen Arbeiten aus dem deutschsprachigen Raum zu verknüpfen (siehe u. a.: Jenny Künkel: Das Quartier als revanchistische Stadtpolitik. Verdrängung des Sexgewerbes im Namen eines neoliberalen Konstrukts. In: Olaf Schnur (Hg.): Quartiersforschung zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008; Rebecca Pates, Daniel Schmidt: Die Verwaltung der Prostitution. Eine vergleichende Studie am Beispiel deutscher, polnischer und tschechischer Kommunen. Bielefeld: transcript Verlag 2009; Renate Ruhne: Raum Macht Geschlecht. Zur Soziologie eines Wirkungsgefüges am Beispiel von (Un)Sicherheiten im öffentlichen Raum. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2003) und somit die Relation zwischen Raum, Gender und Politik zu hinterfragen.
URN urn:nbn:de:0114-qn111058
Mathilde Darley
Alexander-von-Humboldt-Stiftung; Universität Leipzig; Centre Marc Bloch Berlin
Politikwissenschaftlerin
E-Mail: mathilde.darley@cmb.hu-berlin.de
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