Sabine Gries:
Eigentlich ganz normal?
Lesbische Mädchen und Frauen in zeitgenössischer Kinder- und Jugendliteratur.
Münster u.a.: LIT Verlag 2008.
348 Seiten, ISBN 978-3-8258-1094-8, € 24,90
Abstract: Sabine Gries geht in ihrer auf einer breiten Materialbasis fußenden Studie der Frage nach, welches Bild von lesbischen Mädchen und Frauen die vornehmlich zeitgenössische Kinder-, Jugend- und Ratgeberliteratur sowie Trendmagazine vermitteln. Unter der Oberfläche eines vermeintlich aufklärerischen Impetus werden der Verfasserin zufolge alte Klischees, Vorurteile und unwissenschaftliche Behauptungen verbreitet. Die Untersuchung steht in der Tradition textimmanenter und sozio-historischer Ansätze, ohne dass selbige expressis verbis reflektiert, begründet und mit der Auswahl der untersuchten Gegenstände abgestimmt würden; Gender- und Queer-Studies finden keine Berücksichtigung. Außerdem geraten Inhaltswiedergaben zum Teil zu ausführlich.
„Es ist sicher zu loben, dass das Thema ‚lesbische Mädchen und Frauen‘ […] überhaupt angesprochen wird. Die Ergebnisse erscheinen aber häufig gewollt und bemüht, sind in sich unlogisch und zementieren uralte Vorurteile über absonderliche, todunglückliche und gleichzeitig verantwortungslose Lesben.“ (S. 333) – Zu diesem Fazit gelangt Sabine Gries in ihrer Untersuchung zur Darstellung von Lesben in zeitgenössischer Kinder- und Jugendliteratur.
Die Autorin referiert im ersten Teil ihrer Studie ausgewählte Definitionsversuche und gibt Aufschluss über die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur, wobei – mit mannigfachen Beispielen – ein besonderer Fokus auf die im Zeitalter der Aufklärung entstandenen Gattungen der realistischen Kindergeschichte und des Mädchenbuches gerichtet wird. „Lesbische Mädchen und Frauen als literarische Protagonistinnen“ von den Anfängen bis in die 1980er Jahre bilden einen weiteren Schwerpunkt der Betrachtungen. Die allgemeinen Ausführungen zur Jugendliteratur erscheinen in sich kohärent, ermöglichen einen fundierten Überblick und lassen den Untersuchungsgegenstand als Spiegel sozio-historischer Einflüsse erscheinen. Positiv ist dabei hervorzuheben, dass bisherige Forschungspositionen zu homosexuellen Subtexten nicht unreflektiert übernommen werden (vgl. S. 87 und 91). Überzeugender könnte Gries ihre Kritik jedoch belegen, wenn sie sie deutlicher in Auseinandersetzung mit den primären Quellen vortragen würde. Zudem fällt auf, dass sie wissenschaftstheoretische Bezüge wie die besagten Subtexte zwar kritisiert, selbst jedoch keine methodologische Reflexion respektive Positionsbestimmung vornimmt. Selbige wäre gerade unter einer Überschrift wie „Grundlagen“ wünschenswert.
In einem zweiten Teil der Studie stellt Gries eigene Untersuchungsergebnisse vor, die sie deutlicher als im ersten Teil an den Primärtexten belegt. Der Untersuchungsgegenstand ist breit gefächert: Neben einer Vielzahl belletristischer Kinder- und Jugendbücher seit den 1980er Jahren finden sich auch mittlerweile ‚historische‘ Texte der Mädchenliteratur, des Weiteren Ratgeberliteratur für junge Mädchen sowie Jugendzeitschriften wie Sugar, Mädchen oder Bravo girl aus den Jahren 2003 bis 2007. Da sich Gries auf Printmedien beschränkt, finden Film, Fernsehen und Internet keine Berücksichtigung, was insofern bedauerlich ist, als Gries methodologisch neben textimmanenten Verfahren auch hier sozio-historische Ansätze verfolgt; dabei sollten die vorerwähnten Massenmedien nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, zumal gerade diese von Jugendlichen häufig frequentiert werden.
Die Gliederung der Untersuchungsergebnisse in die Sparten Belletristik, Ratgeberliteratur und Jugendzeitschriften ist grundsätzlich sinnvoll. Dass die Autorin jedoch an den Anfang der Präsentation ihrer Untersuchungsergebnisse erneut einen Rückblick auf historische Mädchenliteratur stellt, ist nur bedingt nachvollziehbar. Eine Verbindung mit den in den „Grundlagen“ referierten Erkenntnissen hätte die Studie deutlicher als ein Ganzes erscheinen lassen.
Gries kann nachweisen, dass erotische Mädchenfreundschaften seit mehr als 20 Jahren zunehmend Thema der Kinder- und Jugendliteratur sind. An der Art und Weise, wie Liebe unter Mädchen und Frauen – auch in Mädchenzeitschriften und Trendmagazinen – dargestellt wird, nimmt sie jedoch Anstand. Den Leserinnen und Lesern werde ein Bild vermittelt, das nur vordergründig von Toleranz und ‚Normalität‘ geprägt sei. Folgende Einsichten würden suggeriert: „1. Es ist nicht schlimm und eigentlich ganz normal, lesbisch zu sein. 2. Du, Leserin, bist selbst ganz sicher nicht lesbisch. 3. Es gibt jedoch Lesben, denen du als guter Mensch tolerant und aufgeschlossen gegenüberstehen sollst, denn eigentlich sind sie nicht anders als du. 4. Uneigentlich sind die echten Lesben dann aber doch ganz anders.“ (S. 321) Zudem seien die vermittelten Inhalte stereotypisiert: Glückliche Partnerschaften, gelungene lesbische Selbstfindung, Familienkonflikte und deren erfolgreiche Beseitigung, Konflikte mit Gleichaltrigen, die gelöst würden oder für die Entwicklung der Heldin irrelevant seien, und schließlich die beste, selbst nicht homosexuelle Freundin, welche die Heldin unterstütze und schon immer deren Veranlagung gekannt habe – all dies sind nach Gries Stereotype der untersuchten Literatur, die zu bemängeln seien. Nicht zwangsweise zu bemängeln, wohl aber zu bedauern ist aus Sicht des Rezensenten die Tatsache, dass die Autorin an dieser Stelle keinen Exkurs zu Stereotypenbildung und deren (kognitionspsychologischen) Funktionen in Kinder- und Jugendliteratur allgemein wagt, um von da ausgehend die ‚Qualität‘ der Stereotype zu beleuchten.
Irrwitzige Beispielgeschichten, unwissenschaftliche Behauptungen und uralte Vorurteile kann Gries als integrale Bestandteile von Ratgeberliteratur ausfindig machen. Dabei gelingt es ihr, diese Aspekte im Einzelnen anhand von zahlreichen Belegen zu illustrieren. So zitiert sie etwa Hirscher (2002): „Wie bereits erwähnt, ist die menschliche Sexualität in gewisser Weise gestaltungsoffen. Mit anderen Worten: Man kann sie auch lenken. Es sollte dein Ziel sein, deine Sexualität in die natürlichen Bahnen zu lenken.“ (S. 255) Oder Braun/Martin (2000): „Derweil lag ich auf dem Rücken, meine Arme fest an meinen Körper gepresst, hielt die Luft an und stellte mich einfach tot. Weder wusste ich genau, was sie vorhatte, noch wäre mir eingefallen, was ich hätte tun können. Am liebsten wäre ich vor Unsicherheit gestorben.“ (S. 280) Leider setzt Gries den unwissenschaftlichen Behauptungen und negativen Beispielen in der Regel keine wissenschaftlichen Erkenntnisse oder konkrete Verbesserungsvorschläge entgegen. Häufig beschränkt sich die Autorin ihrerseits auf unwissenschaftliche Kommentare, die zwar einen gewissen Unterhaltungswert haben mögen, insgesamt jedoch nur wenig fundiert erscheinen. So kommentiert sie die zitierte Beispielgeschichte mit folgenden Worten: „Das klingt wie das Geständnis einer viktorianischen Braut nach der Hochzeitsnacht, in die sie mit dem mütterlichen Rat ‚Schließ die Augen und denk an England‘ geschickt worden war, nicht aber nach den Lebens- und Liebesmöglichkeiten jugendlicher Lesben im 21. Jahrhundert.“ (S. 280)
Kann man die Studie von Sabine Gries empfehlen? – Ja, man kann, mit Einschränkungen. Die Verfasserin legt eine fleißige Arbeit vor, die sich durch eine breite, zum Teil auch ‚internationale‘ Materialbasis auszeichnet, deren Auswertung nicht wenige Resultate zu Tage fördert. Thesenartige Zusammenfassungen der Zwischenergebnisse erleichtern die Orientierung. Eine deutlichere methodologische Reflexion und eine Berücksichtigung von Ansätzen der Gender- und Queer-Studies wären allerdings zweckmäßig gewesen. Leider fehlt es Gries teilweise an einem objektivierenden, sachlichen Blick. Ironisch-sarkastische Aussagen wie „Jede Frau ist also auf Grund ihrer angeborenen Weiblichkeit eine potenziell lesbische und damit lesbenverstehende Frau? Das klingt ungefähr so logisch wie die Aussage, dass jeder Mensch potenziell ein im Wachkoma liegender Mensch ist und sich deshalb ohne Probleme in die Psyche eines Wachkomapatienten einfühlen könnte“ (S. 83) lassen eine gewisse Distanz vermissen. Das zeigt sich sprachlich auch in dem mehrfach fehlerhaften Modusgebrauch – Konjunktive sind Gries’ Stärke nicht. Um die in dieser Untersuchung implizit durch textimmanente bzw. sozio-historische Ansätze gewonnenen Ergebnisse von einer anderen Seite zu beleuchten, wären nun empirische Anschlussstudien wünschenswert, die sich der von Gries vermuteten Wirkung der untersuchten Werke widmen.
URN urn:nbn:de:0114-qn111188
Jens F. Heiderich
Frauenlob-Gymnasium Mainz
Studienrat für die Fächer Deutsch und Französisch am Frauenlob-Gymnasium Mainz; Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift für Romanische Sprachen und ihre Didaktik (http://www.zromsd.de); Lehrbeauftragter für Fachdidaktik des Französischen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Universitätsdozent für Fachdidaktik Deutsch
E-Mail: mail@jensheiderich.de
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter http://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons