Barbara Paul, Johanna Schaffer (Hg.):
Mehr(wert) queer – Queer Added (Value).
Visuelle Kultur, Kunst und Gender-Politiken – Visual Culture, Art, and Gender Politics.
Bielefeld: transcript Verlag 2009.
243 Seiten, ISBN 978-3-8376-1057-4, € 24,80
Abstract: ‚Mehr Queer‘ lautet die Programmatik der Autor/-innen des Sammelbandes, die sich in ihren Beiträgen mit ästhetischen und politischen Praxen auseinandersetzen, welche die Ordnungsparameter der Binarität und Heterosexualität verunsichern. Der Titel Mehr(wert) queer schließt dabei an ökonomische Semantiken an, um die Verwobenheit von symbolischer Kunst und ökonomischen Realitäten in den Blick zu bekommen, aber auch um aktiv an Umdeutungen mitzuwirken. Im Mittelpunkt stehen visuelle Kunst- und Bilderpolitiken, die Normalitätsdiskurse um Sexualität, Geschlecht und Begehren hinterfragen. Die Autor/-innen kommen aus den Kunst- und Kulturwissenschaften, den Medienwissenschaften, der Philosophie, aber auch aus der künstlerischen sowie der kunst- und kulturpolitischen Praxis.
Mehr(wert) queer ist ein Sammelband, der im Anschluss an eine Tagung, die 2008 in Linz stattgefunden hat, entstanden ist. Diskutiert wird, welcher Mehrwert sich „für queer, mit queer, durch queer“ (S. 8) gewinnen lässt. Damit greifen die Herausgeber/-innen eine neoliberale Semantik innerhalb der Kulturproduktion auf, die die zunehmenden gesellschaftlichen Zwänge der Flexibilisierung, Eigenverantwortung und Selbstorganisation als kulturpolitische Freiheit präsentieren. An diese Umdeutungen und Um-Interpretationen zugunsten einer ökonomischen Logik und eines ökonomischen Mehrwerts versuchen die einzelnen Aufsätze anzuschließen. „Mehr(wert) queer“ steht für den Ansatz, mehr genderkritisches Kultur- und Kunst-Wissen zu produzieren, und zugleich für die Abhängigkeit und Unterworfenheit der Kunst unter ökonomische Gesichtspunkte. Im Folgenden werden vier der sieben Beiträge vorgestellt, an denen sich die unterschiedlichen Facetten eines „Mehr(wert) queer“ besonders gut erschließen.
Sushila Mesquita konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die Visualisierung des Schweizer Partnerschaftsgesetzes durch die „Liebe ist…“-Plakatkampagne im Jahr 2007, im Vorfeld des Volksentscheids. Ihr Fokus liegt dabei auf der Bildsprache. Die Bilder zeigen gleichgeschlechtliche Pärchen, die zusammen picknicken, sich Blumen ans Krankenbett bringen oder zusammen auf einer Parkbank sitzen. Gezeigt wird ein Idealtypus gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft: monogam, voll erwerbstätig und kinderlos. Diese Norm, auf die das Partnerschaftsgesetz zugeschnitten ist, grenzt sich zwar vom Eherecht ab (kein gemeinsamer Name, kein gemeinsames Bürgerrecht), setzt jedoch zugleich die Ehe als Maßstab. Gerade durch das Zitat der heteronormativen Formatvorlage ‚Ehe‘ gelingt die Anerkennung des Partnerschaftsgesetzes. Die stereotypisierten Darstellungen, die Verniedlichung der Paarbeziehungen funktionieren dabei nur in Zusammenhang mit den Subtexten der Kampagne, die als Anrufungen wirken – Beispiel: „Liebe ist … nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten zu haben“. Dadurch werden die gezeigten Personen als Fürsorge- und Verantwortungsgemeinschaft subjektiviert. Mesquita zeigt die Ambivalenzen der „Liebe ist…“-Kampagne und damit auch die des Partnerschaftsgesetzes deutlich auf. Rechtliche und ökonomische Diskrepanzen zwischen dem Partnerschaftsgesetz und der Ehe, die als herrschende Wertegemeinschaft bestehen bleibt, werden deutlich. Die Bilderpolitik der Kampagne feiert eine passförmige Sichtbarkeit (für bestimmte Paare) und tilgt zugleich auf elegante Weise sexuelles Begehren und sexuelle Praktiken aus dem Lebensentwurf – und löscht damit den Ursprung rechtlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung aus der Bildebene. Zwar behauptet die Autorin, in der „Liebe ist…“-Kampagne Anknüpfungspunkte für eine queere Bilderpolitik zu finden. Wie diese Sichtbarkeit aussehen kann und welche Art von Sichtbarkeit queere Politiken symbolisieren können, ohne gleichzeitig ökonomische Interessen zu bedienen, bleibt eine offene Frage. Damit endet der Aufsatz an einem Problem, das von Anfang an mitgedacht hätte werden können. Entstanden ist hier ein reflektierter und exakter Beitrag über die Vor- und Nachteile des Schweizer Partnerschaftsgesetzes, der „Mehr(wert) queer“ bleibt jedoch auf der Strecke.
Antke Engel diskutiert das Konzept der Performativität als Macht und Herrschaftskritik. Der ‚Macht der Bilder‘, wie sie im Kontext der visuellen Kunst und Kultur beschworen wird, setzt die Autorin den Begriff der sozialen Produktivität der Bilder gegenüber. Angelehnt an Michel Foucault entwirft sie den Begriff der sozialen Produktivität als produktive Macht und zugleich als Lokalität: Der Ort ist mit dem Sozialen verknüpft. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf einem kulturell Imaginären, das Unruhe in das regierende Konzept der Heteronormativität bringen soll. Als Unruhestifter fungiert hier ein weiterentwickelter Begriff der Performativität, der zunächst auf diesen Begriff bei Judith Butler, Austin und Derrida rekurriert. Die Autorin kombiniert ihn mit dem Moment der Phantasie, das sie in Bezug auf Verschiebungen und Umarbeitungen gebraucht: ein wirksamer Katalysator für performative Praxen. Am Beispiel der pinups for beginners, einem Kalender der Künstlerin *durbahn, diskutiert Antke Engel das Moment der Phantasie. Hier wird diese zu einem mit Begehren beladenen Vorstellungsbild. Eine Vorstellung, dem die pinups for beginners gerade nicht entsprechen: hier eine Brust, dort eine schmale Hüfte und ein kantiges Profil. Skizzen, die dem Nichterfüllen der Norm frönen. Keine eindeutige Möglichkeit der Zuordnung, kein Diktat des Phallus. Die Pinups weigern sich, die Macht des Phallus widerzuspiegeln und ihm eine Form idealisierter Weiblichkeit zur Verfügung zu stellen. Stattdessen verlangen die Bilder einen eigenen Lese- und Rezeptionswillen. Engel geht nun davon aus, dass sich diese Lektürearbeit durch Phantasie irritieren und inspirieren lässt – und dabei eine soziale Produktivität entfaltet, in der die, die das Bild anschauen, mit in dieses hineingezogen werden. Damit zeigt uns die Autorin neue Bahnen für das Begehren auf – ein Begehren, das scheitert, sich aber zugleich neu entwirft. Performativität wird in diesem Sinne nicht mehr als Wiederholung von Normen, sondern als Wiederholung und Neuschöpfung von Phantasien verstanden – vorausgesetzt, die Phantasien der Betrachter/-innen haben Spaß daran, das sozio-kulturelle Geschehen zu durchkreuzen, denn die Betrachtenden sind frei, sich umzudrehen und aus dem Bild als Rezeptions- und Umarbeitungskatalysator auszutreten.
An den Arbeiten des Künstlers Felix Gonzalez-Torres, für die er selbst keine Vis-a-vis-Erklärungen bietet, diskutiert Renate Lorenz das „Nicht-Zeigen“. Als ein Beispiel nimmt sie „untitled (Placebo-Landscape-for Ronni)“: In silbernes Cellophan gewickelte Bonbons liegen auf dem Boden und bilden ein Rechteck. Ein weiteres Beispiel ist „untitled (Ross)“, in dem ein farbenfroher Bonbons-Berg in einer Ecke angehäuft wurde. Was diese Installationen als queer zu kennzeichnen erlaubt, fragt Renate Lorenz und nimmt die Leser/-innen mit auf eine Reise, auf der sie sich von dem Gedanken der Repräsentation verabschieden können. Die Interpretationen und Thesen der Autorin kreisen um die Suche und Darstellung queerer Körper, ohne dass diese ausgestellt werden: Das Bonbon wird zum Zeichen, das mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen werden kann. Einzig das Gewicht der Bonbons scheint auf die Abwesenheit des Körpers hinzuweisen. Damit werden die vielfältigen Arbeiten von Gonzales-Torres erst durch die Untertitel bzw. im Blick derer, die sie anschauen, zu einem Ganzen. Renate Lorenz versucht hier eine Zusammenführung der ‚Anrufung‘ von Louis Althusser mit Teresa de Lauretis Konzept der Phantasie. Damit gelingt ihr ein erstaunlicher Zugang zum Werk von Gonzales-Torres. Das queere Moment entsteht erst im Zusammentreffen mit der Phantasie der Betrachtenden. Wer „untitled“ anschaut, wird unvorhergesehen Teil einer Anrufung und damit Teil einer sexuellen Szene. Die Szene der Anrufung wiederum wird Teil einer sozialen Praxis: Der abwesende Körper wird zum Körper im Raum, in den die Betrachter/-innen mit eingeschlossen sind. Eine Installation, die diese als queer adressiert. Die Ökonomie der Repräsentation wird unterbrochen: Statt dass die Betrachter/-innen auf das Kunstwerk blicken, blickt das Kunstwerk zurück, spiegelt ihre Körper und konfrontiert sie mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Hier gibt es keine voyeuristischen Momente, denen queere Körper so oft ausgesetzt sind. Stattdessen gelingt es, Queerness und tradierte Wissensformen zu überschreiten und damit einen „Mehr(wert) queer“ deutlich zu machen.
Susanne Lummerding betrachtet den Mehrwert als queeren und positiven Kampfbegriff gegen identitätslogische Repräsentationskonzepte. Im Ausgang vom Konzept des marxistisch-kapitalismuskritischen Mehrwerts untersucht sie unter Zuhilfenahme des ‚Genießens‘ bei Jacques Lacan den Begriff des Überschusses. Es ist ein Versuch, Ethik und Verantwortung queer zu denken. Genießen als Produktion des Überschusses, das nicht der Idee der Befriedigung folgt, fungiert hier als ethischer Imperativ. Die Autorin versucht dieses Mehr-Genießen als kritische und politische Strategie zu gewinnen. Dabei wagt sie es, die neoliberale Ökonomie vom Imperativ der Akkumulation und zugleich von der stetigen Bezugnahme auf eine berechenbare Identitätslogik zu entkoppeln. An Lacan und Marx angelehnt hangelt sie sich gekonnt vom ‚Mehrwert‘ bei Marx zu einer Ethik der Verantwortung, einem ‚Mehr-Genießen‘ bei Lacan. In der Unterscheidung zwischen Politik und Politischem (Claude Lefort, Ernesto Laclau) und als Einschreibung zwischen Symbolischem als Kohärenz und Inkohärenz als Unmöglichkeit, fixe Bedeutung vorzunehmen, verortet Lummerding die Produktivität. Eine Produktivität, die das Risiko sucht, Identitätspositionen zur Disposition zu stellen und Realitäten der Binarität als Konstruktion aufzuzeigen. So stellt Lummerding auch den Begriff „Mehr(wert) queer“ als Kategorie heraus, die Sicherheiten verspricht und die als Lifestyle-Label besetzt wird. Dieser herausfordernde und beeindruckende Aufsatz nähert sich dem „Mehr(wert) queer“ von seiner ökonomischsten Seite, ohne in eine neoliberale Semantik zu verfallen.
Die Beiträge schlagen eine Brücke zwischen queer theory, visueller Kunst und Bilderpolitiken. Aber dieser Brückenschlag wirkt etwas mühsam. Die Beiträge erscheinen, trotz der Fokussierung auf den Begriff „Mehr(wert) queer“, der eher für eine Vielfalt an theoretischen Auseinandersetzungen als für eine einheitliche definierte Herangehensweise nutzbar scheint, oft zusammenhangslos und verloren. Mitunter mag das der Form eines Tagungsbandes geschuldet sein. Auch wird der „Mehr(wert) queer“ nicht überall deutlich. Zwar wird das Stichwort Ökonomisierung inflationär verwendet, es findet jedoch kaum eine Auseinandersetzung mit neoliberalen Politiken und symbolischer Visualisierung statt. (Noch am besten gelingt das im Beitrag von Susanne Lummerding, die den Kampf zwischen Ökonomisierung und queertheoretischen Bemühungen auf hohem Niveau diskutiert und dabei nicht vergisst, dass auch der „Mehr(wert) queer“ sich erneut in einen identitätslogischen und Kategorisierungen liebenden Diskurs einzuschreiben droht). Dennoch kann man das Sammelwerk uneingeschränkt empfehlen. Es bietet einen breitgefächerten Zugang zu den deutschsprachigen queer studies und gibt damit einen exemplarischen Aus- und Überblick über queer-feministische Bilderpolitiken. Zudem haben sich die Herausgeber/-innen die Mühe gemacht, alle Beiträge auch ins Englische übersetzen zu lassen.
URN urn:nbn:de:0114-qn111191
Julia Jäckel
Promotionsstudentin an der Universität München im Fach Soziologie, Forschungskolleg Prof. Dr. Paula-Irene Villa
E-Mail: juliasjaeckel@googlemail.com
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