Gabriele Winker, Nina Degele:
Intersektionalität.
Zur Analyse sozialer Ungleichheiten.
Bielefeld: transcript Verlag 2009.
163 Seiten, ISBN 978-3-8376-1149-6, € 13,80
Abstract: Gabriele Winker und Nina Degele legen mit ihrer kompakten Monographie erstmals für den deutschsprachigen Raum eine in Theorie, Methodologie und Empirie stringente eigenständige Abhandlung zur intersektionalen Analyse von sozialen Ungleichheiten vor. Das in jeder Hinsicht übersichtlich gestaltete Buch besticht durch eine begründete Argumentation, insbesondere in Bezug auf die theoretischen Vorentscheidungen, durch eine klare Gliederung und vor allem durch die Schritt für Schritt nachvollziehbare Umsetzung des vorgeschlagenen theoretischen und methodologischen Rahmens in die empirische Sozialforschung. Es ist daher uneingeschränkt empfehlenswert, auch für den Einsatz in der Hochschullehre, und es ist von hohem Anregungspotential für die wissenschaftliche Weiterentwicklung intersektionaler Analysen von sozialen Ungleichheiten.
Spätestens seit den 1980er Jahren setzt sich auch in der deutschsprachigen soziologischen Ungleichheitsforschung die Erkenntnis durch, dass soziale Ungleichheit keineswegs nur als durch Kategorien wie Klasse oder Schicht bedingt auftritt, sondern vielfältige Formen annehmen und durch vielfältige ungleichheitsgenerierende Kategorien begründet sein kann. So insistiert(e) beispielsweise die Frauen- und Geschlechterforschung auf der kategorialen Bedeutung von Geschlecht, die Migrationsforschung betont(e) die ungleichheitsgenerierende Wirkung von ‚Rasse‘ und/oder Ethnie, und die Alter(n)sforschung steuert(e) die Kategorie Alter(n) bei. Dementsprechend ist die Rede von sozialen Ungleichheiten im Plural aus der ungleichheitstheoretischen Diskussion nicht mehr wegzudenken. Theoretische Reflexionen und methodologische Präzisierungen erfährt diese Debatte seit Ende der 1980er Jahre vor allem aus der anglo-amerikanischen Frauen- und Geschlechterforschung, die die Multikulturalität der von ihr analysierten Gesellschaften und der in diesen wirkenden –zweifelsohne miteinander verschränkten – Ungleichheitskategorien in ihren Wechselwirkungen auch theoretisch zu begreifen sucht(e) und dieser Forschungsperspektive den Namen ‚Intersektionalität‘ gab. An Intersektionalität orientierte empirische Forschung ist für die Sozialwissenschaften nicht neu, zu denken ist etwa an Kreuzungen von Kategorien wie Klasse, Geschlecht und Alter in statistischen Analysen. Neu ist aber das theoretische und methodologische Ringen um Beschreibung und Erklärung der Wechselwirkungen und Interdependenzen der einzelnen Kategorien jenseits eines bloßen additiven Nebeneinanders.
Obwohl sich die verfügbare, vor allem englischsprachige Literatur zu diesem Themenkomplex seit einigen Jahren explosionsartig zu vervielfältigen scheint, sind schlüssige Forschungskonzepte, die das Phänomen der Intersektionalität in theoretischer, methodologischer und empirischer Hinsicht zu analysieren versuchen, nach wie vor rar. Im deutschsprachigen Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung finden sich bisher überwiegend theoretisch ausgerichtete Beiträge, die die komplexer werdende internationale Debatte über Intersektionalität ordnen und für deutschsprachige theoretische und empirische Gesellschaftsanalysen anwendbar machen wollen. Nur vereinzelt liegen bisher empirisch ausgerichtete Konzepte vor. Den diesbezüglich wohl elaboriertesten und überzeugendsten Versuch stellt der „Praxeologische Intersektionalitätsansatz“ von Gabriele Winker und Nina Degele dar, der nun, in Weiterentwicklung verschiedener Aufsatzpublikationen und ,grauer‘ Papiere beider Autorinnen, erstmals kompakt in Buchform aufbereitet „den gemeinsamen dreijährigen Denk- und Schreibprozess“ (S. 8) der beiden Sozialwissenschaftlerinnen bündelt. Die Lektüre des vom Umfang her mit 163 Seiten eher bescheidenen Büchleins ist uneingeschränkt empfehlenswert und höchst anregend für die intersektionale Analyse sozialer Ungleichheiten.
Worum geht es in dem Buch? Winker/Degele gelingt es zunächst, in der Einleitung (Kapitel 1) knapp, präzise und verständlich einen Überblick über Essentials der ungestüm um sich greifenden Diskussionen der Frauen- und Geschlechterforschung zu Intersektionalität zu geben. Mit dem Fokus auf die Debatten der Frauen- und Geschlechterforschung wird hier zunächst die Geschichte des Konzepts Intersektionalität vorgestellt, das den Autorinnen zufolge „auf dem besten Weg“ ist, „zu einem neuen Paradigma in den Gender und Queer Studies zu avancieren“ (S. 10). Zusammengefasst wird auch, welche Kategorien sich wie in den aktuellen Debatten im Konzept der Intersektionalität niederschlagen, und festgehalten, dass bisherige Umsetzungsversuche eher beliebig die verschiedenen möglichen Analyseebenen in den Blick nehmen.
Auf das deutlich werdende Unbehagen an vorliegenden Ansätzen antworten die Autorinnen im Theorieteil des Buches (Kapitel 2) mit drei begründeten theoretischen Entscheidungen für ihren eigenen Entwurf. Die erste Entscheidung mündet im Anschluss an Sandra Harding in die Anwendung eines Mehrebenenansatzes, der die Makro- und Mesoebene von Sozialstrukturen einschließlich Organisationen und Institutionen, die Mikroebene in Gestalt von Prozessen der Identitätsbildung und die Repräsentationsebene von kulturellen Symbolen umfasst. Die zweite Entscheidung betrifft die Bestimmung der als relevant angesehenen und miteinander verzahnten Herrschaftssysteme auf der Strukturebene: Hier setzen sich die beiden Sozialwissenschaftlerinnen „mit der Verknüpfung von Geschlechter- und Klassenverhältnissen“ (S. 30) auseinander. Ihre dritte Entscheidung schließlich bezieht sich auf die Anzahl und Auswahl der in ihrem eigenen Ansatz als miteinander verknüpft berücksichtigten vier Strukturkategorien, nämlich – wie in anderen Ansätzen auch – die ‚Großen Drei‘ Rasse, Klasse und Geschlecht sowie als Viertes die Kategorie Körper, in der sie so verschiedene ungleichheitsgenerierende Aspekte wie Alter, Behinderung, Gesundheit und Attraktivität gebündelt sehen.
In methodologischer Hinsicht (Kapitel 3) entscheiden sich Winker/Degele für ein an Pierre Bourdieu angelehntes praxeologisches Vorgehen, das heißt, dass sie soziale Praxen als Verbindung der von ihnen ausgewählten drei Analyseebenen und als Ausgangspunkt empirischer Erkundungen ansehen. Ausgesprochen überzeugend ist das von ihnen entwickelte Modell zur Analyse der Wechselwirkungen der drei Ebenen im Feld sozialer Praxen, das systematische Bezugnahmen dieser Ebenen in jeweils beide Richtungen ermöglicht. Ebenfalls überzeugend, auch und gerade im Hinblick auf empirische intersektionale Forschung, sind die vorgeschlagenen und ausführlich beschriebenen acht Schritte zur intersektionalen Mehrebenenanalyse.
Abgerundet wird das Buch durch die umfassende Darstellung eines empirischen Beispiels aus eigenen auf qualitativen Interviews basierenden Forschungen zum Alltag erwerbsloser Personen (Kapitel 4), an dem die beiden Verfasserinnen die Anwendbarkeit ihres Ansatzes praktisch demonstrieren. Im Resümee (Kapitel 5) schließlich stellen sie die von ihnen entwickelten und verwendeten Werkzeuge nochmals gebündelt vor und reflektieren die Möglichkeiten und Grenzen ihres Ansatzes.
Gründe, das Buch von Gabriele Winker und Nina Degele allen, die sich für theoretische und empirische Gesellschaftsanalysen zu sozialen Ungleichheiten interessieren, zu empfehlen, gibt es viele. Bestechend ist zunächst der gelingende Versuch, theoretische Grundlegung, methodologische Reflexion und empirische Anwendung des entwickelten eigenen Ansatzes schlüssig und nachvollziehbar im Rahmen eines erfreulich begrenzten Seitenumfangs sehr gut gegliedert und anschaulich darzulegen. Das Buch wird daher nicht nur die an Diskussionen über Intersektionalität interessierte scientific community vor allem in der Frauen- und Geschlechterforschung erreichen, sondern wird, trotz und wegen seiner Kompaktheit, auch fortgeschrittene Studierende der Sozialwissenschaften in ihren Bemühungen um intersektionale empirische Forschung begleiten und unterstützen, denn die notwendigen einzelnen Analyseschritte werden gut nachvollziehbar beschrieben.
Daneben enthält das Buch vor allem im Hinblick auf die Theoriebildung zu Intersektionalität umfassendes intellektuelles Anregungspotential. Um der Anwendbarkeit des entworfenen Ansatzes willen sind die theoretischen Vorentscheidungen der Verfasserinnen sämtlich wohl begründet und also auch für kritische Leserinnen (und Leser) nachvollziehbar. Und doch bleiben hierzu Fragezeichen, von denen abschließend einige skizziert werden sollen.
Denkbar wäre etwa, die Erkenntnispotentiale eines anderen systematischen Zuschnitts der Mehrebenenanalyse, beispielsweise im Anschluss an Giddens’ Strukturierungstheorie, auszuloten. Wie sähe eine intersektionale Ungleichheitenanalyse aus, wenn Makro- und Mesoebene getrennt behandelt und Repräsentationen als Bestandteil von Strukturierungsprozessen – und nicht als eigene Ebene – erfasst würden? Auch scheint keineswegs ausgemacht, dass die gewählten vier Strukturkategorien in der vorliegenden Fassung für den hiesigen gesellschaftlichen Kontext die treffsichersten und umfassend genug sind. Zu diskutieren wäre in diesem Zusammenhang etwa über verschiedene Auffassungen der Kategorie Klasse, gerade auch vor dem Hintergrund einer hierzu vergleichsweise breiten Debatte in der nicht auf Geschlecht fokussierenden Ungleichheitsforschung, die ja keineswegs nur Klassen, sondern auch Schichten, Milieus und Lebensstile kennt. Nicht abschließend geklärt scheint mir auch, ob die Kategorie Körper die Vielfalt der von Winker/Degele darunter subsumierten Ungleichheiten adäquat genug einholt. Schließlich kann der eingrenzende Fokus auf Klassen- und Geschlechterverhältnisse als zentrale zu berücksichtigende Herrschaftssysteme nicht unwidersprochen bleiben, werden damit in den anschließenden Analysen doch andere Herrschaftsformen wie etwa Imperialismus und Bodyismus als weniger bedeutsam an den Rand gedrängt.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Die aufgeworfenen Fragen stellen keine Schwachpunkte des hier rezensierten Buches dar, sondern werden durch die überzeugende Anlage des Buches erst als Fragen formulierbar. Daran weiterzudenken stellt eine neue Herausforderung für die Theoriebildung zu Intersektionalität dar.
URN urn:nbn:de:0114-qn111133
Dr. Heike Kahlert
Universität Rostock
Institut für Soziologie und Demographie
Homepage: http://www.wiwi.uni-rostock.de/soziologie/makrosoziologie/kahlert/
E-Mail: heike.kahlert@uni-rostock.de
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