Elisabeth Holzleithner:
Gerechtigkeit.
Wien: facultas.wuv Universitätsverlag 2009.
123 Seiten, ISBN 978-3-8252-3238-2, € 9,90
Abstract: Klar, knapp und konkret – so preist sich die Reihe „UTB Profile“ an, mit dem Anspruch, das Wichtigste zu einem Thema oder über eine Person zusammenzufassen. Klar sind die Sprache und die Argumentation von Elisabeth Holzleithner. Und knapp ist eine Darstellung zum Begriff Gerechtigkeit mit 123 Seiten fraglos. Was das Konkrete angeht, wäre vor allem am Anfang, aber auch an einigen anderen Stellen im Buch ein intuitiverer oder lebensweltlicher motivierter Zugang wünschenswert gewesen.
Der schmale Band ist in zwei Teile gegliedert. Im kurzen einführenden Abschnitt unter dem Titel „Warum Gerechtigkeit?“ wird dargelegt, was mit dem „Ideal und seine[n] Bedeutungen“ gemeint ist. Im längeren zweiten Teil – „Gerechtigkeit im Profil“ – informiert die Autorin in zwei Kapiteln über die Geschichte des Gerechtigkeitsbegriffs sowie über aktuelle theoretische Positionen zu diesem und fächert in vier weiteren Kapiteln gerechtigkeitsrelevante Anwendungsbereiche auf. Insbesondere für den Einführungsteil hätte ich mir einen nicht nur theoretisch, sondern auch alltagspraktisch orientierten Zugang gewünscht.
Holzleithner geht begriffsbestimmend vor und definiert Gerechtigkeit als „primär für Beziehungen unter Menschen relevant“. Der Begriff gebe an, „was wir einander wechselseitig schulden: an Verhalten, an Gütern und Lasten, an Rechten und Pflichten“ (S. 7). Die Beziehung unter Menschen umfasse zwei Dimensionen. In der subjektiven werde Gerechtigkeit als eine persönliche Eigenschaft oder Tugend verstanden. Die objektive verweise auf Gerechtigkeit als geforderte Eigenschaft von (menschgemachten) Institutionen. Auf den ersten Blick erscheint Gerechtigkeit als ein durch und durch sozialer Begriff. Genau aus diesem Grund stellt sich aber auch die Frage: Entspricht sie einem menschlichen Grundbedürfnis? Wenn ja, woher kommt es? Warum reagieren Menschen mehr oder weniger heftig auf tatsächliche oder vermeintliche Ungerechtigkeiten? Gibt es möglicherweise anthropologische oder psychologisch erklärbare Grundlagen dafür? Hier ist es schade, dass Holzleithner die empirische Gerechtigkeitsforschung nur am Rande erwähnt. Mit ihr hätte noch sehr viel deutlicher gemacht werden können, warum das Thema Menschen auch dann beschäftigt, wenn sie keinen theoretischen Zugang dazu haben oder sich für begründungstheoretische Fragen nicht interessieren. Kurz, warum Gerechtigkeit kein bloß philosophisches, sondern auch ein lebensweltliches Thema ist.
Holzleithner gibt wohlweislich keine inhaltliche Definition von Gerechtigkeit. Es gebe, schreibt sie, häufig „keine Einigung darüber, was gerecht ist“ (S. 7). Dies wird im historischen Kapitel deutlich, in dem die Autorin – mit großen Sprüngen auf der Zeitachse – die Stationen des europäischen Denkens über Gerechtigkeit nachzeichnet. Außerdem ist die Perspektive keine einheitliche. Je nach Autor liegt der Schwerpunkt auf dem (Herrschafts-)Verhältnis unter Menschen (politische Gerechtigkeit), auf dem Problem der Verteilung von und des Zugangs zu (knappen) Gütern (Verteilungsgerechtigkeit), auf dem Ausgleich von Unrechtsverhältnissen (korrektive Gerechtigkeit) oder auf dem Verfahren, mit welchem in Konfliktfällen Gerechtigkeitsfragen abgewickelt werden (Verfahrensgerechtigkeit). Für das 20. Jahrhundert und die aktuelle Diskussion konstatiert Holzleithner eine Schwerpunktsetzung auf die Verteilungsgerechtigkeit sowie die politische Gerechtigkeit (S. 37). Ausgehend von dem 1971 erschienenen einflussreichen Buch Eine Theorie der Gerechtigkeit des amerikanischen Philosophen John Rawls möchte die Autorin in Kapitel 2 einen „Wegweiser durch die komplexe und viel verzweigte Denklandschaft“ (S. 39) der an Rawls anschließenden und bis heute lebhaft geführten Diskussion geben.
Rawls, der mit seiner Theorie von ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ beschreibt, wie eine Gesellschaft eingerichtet sein müsste, damit man sie als gerecht bezeichnen kann, vertritt im Politischen eine liberale, strikt egalitäre Position der Freiheit und Gleichheit aller (erstes Gerechtigkeitsprinzip). Seine Konzeption lässt soziale und ökonomische Ungleichheiten zu, schränkt diese jedoch durch das zweite, das sogenannte Differenzprinzip, ein. Dabei hat das Prinzip der gleichen Grundfreiheiten Vorrang vor dem Differenzprinzip. Dies haben Vertreter anderer Schulen, insbesondere des Kommunitarismus, kritisiert: „Diese monieren, der Liberalismus Rawls’scher Provenienz, ja liberale Theorien überhaupt […] seien nicht imstande, die Eingebundenheit von Menschen in Gemeinschaften und die ihnen gegenüber bestehenden Verpflichtungen zu erfassen.“ (S. 42 f.) Die Autorin führt anschließend aus, worin die Kritik der Kommunitaristen am Rawls’schen Liberalismus besteht und welches deren Gegenvorschlag ist. Der kommunitaristische Gerechtigkeitsbegriff ist seinerseits der Kritik durch multikulturelle Ansätze ausgesetzt, diese werden ihrerseits von libertären Theorien, die wiederum vom Egalitarismus beanstandet usw. Insgesamt werden in diesem Kapitel nacheinander sechs Positionen abgehandelt. Durch die Pro/Kontra-Darstellungsform entsteht tatsächlich ein differenziertes Bild der „komplexe[n] und viel verzweigte[n] Denklandschaft“ rund um aktuelle Gerechtigkeitsdiskussionen.
Wo es Holzleithner gelingt, die Stärken und Schwächen einer Position aufzuzeigen und sie in ein Verhältnis zu anderen Positionen zu setzen, vermag das Buch zu überzeugen. Dies ist beispielsweise auch im Kapitel „Geschlechtergerechtigkeit im Kontext der Ungleichheit“ beim Abschnitt „Gerechtigkeit durch Gleichstellung“ der Fall. Hier diskutiert die Autorin kenntnisreich die kontroverse Frage einer Quotenregelung sowie das Gendermainstreaming-Modell. In anderen Kapiteln hingegen, wie etwa „Gerechtigkeit im Sozialstaat und in Nahbeziehungen“, werden die relevanten Themen (Gerechtigkeitsfragen in bezug auf Arbeit, Gesundheit, Bildung etc.) zwar aufgegriffen, aber nicht ausführlich genug erörtert.
Worin unterscheidet sich das Buch von anderen Einführungstexten zum Thema? Während es mittlerweile Standard ist, Gerechtigkeitsfragen nicht nur im lokalen, sondern auch im globalen Maßstab, bzw. nicht nur im zwischenmenschlichen, sondern auch im Mensch-Umwelt-Verhältnis zu stellen, so ist es keineswegs selbstverständlich, das Geschlechterverhältnis ausdrücklich in die Überlegungen einzubeziehen. Otfried Höffes bei Beck erschienene Einführung etwa enthält kein solches Kapitel. Für die feministisch geschulte Juristin Holzleithner versteht sich dies hingegen von selbst. En passant weist sie zudem an verschiedenen Stellen des Buches auf die Vernachlässigung der Dimension des Geschlechterverhältnisses durch die jeweiligen Autoren hin.
Die Aufgabe, auf etwas mehr als hundert Seiten das Wichtigste zu einem so komplexen Thema wie Gerechtigkeit aufzugreifen, hat die Autorin im Großen und Ganzen gut gemeistert. Die Darstellung ist dort am spannendsten, wo verschiedenen Positionen gegeneinander abgewogen werden und in eine Art argumentativen Dialog miteinander treten. Allerdings stellt sich hier manchmal (z. B. im Abschnitt über Multikulturalismus) die Frage, ob das noch Einführungsniveau ist. Wer einen Einblick in die Dimensionen des Gerechtigkeitsbegriffs mitsamt seinen Anwendungsbereichen erhalten möchte, bekommt ihn mit diesem Buch.
URN urn:nbn:de:0114-qn112269
Dr. Kathrin Hönig
Universität St. Gallen
Lehrbeauftragte für Philosophie
E-Mail: kathrin.hoenig@unisg.ch
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