Hans Bertram, Birgit Bertram:
Familie, Sozialisation und die Zukunft der Kinder.
Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2009.
234 Seiten, ISBN 978-3-86649-287-5, € 24,90
Abstract: Hans und Birgit Bertram präsentieren einen umfassenden Einblick in eine Vielzahl an Themen der Familien- und Kindheitsforschung und bieten einen fundierten Überblick über die Sozialisationsforschung. Sie halten ein faktenreich unterlegtes Plädoyer für eine kritische Betrachtung der klassischen Sozialisationstheorien und plädieren für eine sozial-ökologische Sichtweise der Familienentwicklung. Das Buch liefert wichtige Argumente für eine neue Perspektive in der – seit Jahrzehnten geführten – Debatte über die Zukunft der Familie und überzeugt trotz einiger formaler Schwächen als umfassendes, gut lesbares Werk, das auch in der Lehre sinnvoll einsetzbar ist. Es fasst wissenschaftliche Debatten und Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte zusammen und ergänzt so auch die öffentlichen Diskussionen.
Kinder stellen, so eine These von Hannah Arendt, eine Verbindung zwischen dem Paar und der es umgebenden Welt her: Die Liebe ist exklusiv und trennt das Paar von der Welt, während durch Kinder die Beziehung zur Welt (wieder) hergestellt wird. Hans und Birgit Bertram greifen diese Überlegung auf und beschäftigen sich mit der Erweiterung der sozialen Bezüge und Beziehungen eines Paares durch das Hinzukommen von Kindern. Sie fragen nach den Beziehungen von Eltern, ihren Kindern und der sie umgebenden Umwelt und fassen vorliegende Forschungsergebnisse zu diesen Themenkomplexen zusammen.
In der aktuellen wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte werden die Beziehungen von Eltern und Kindern zu ihrer Umwelt häufig auf die Institutionen Kindergarten und Schule reduziert. Dabei wird aus Sicht der Autor/-innen ein Kompensationsmodell zugrunde gelegt, nach dem die Familie der optimale Ort für kindliche Sozialisation sei und unzureichendes elterliches Verhalten von den Institutionen Schule und Kindergarten ergänzt und kompensiert werden müsse. Die Autor/-innen stellen dieses Modell theoretisch wie empirisch in Frage, weil es die kindliche Entwicklung ebenso wie die innerfamilialen Beziehungen auf Fragen von Abweichung und kognitiver Leistungsfähigkeit reduziere, während eine Reihe anderer Aspekte ausgeblendet werde. Sie schlagen in Orientierung am sozial-ökologischen Ansatz von Urie Bronfenbrenner ein Interaktionsmodell vor, welches kindliche Entwicklung in einen breiteren Kontext stellt und nicht darauf abzielt, etwaiges elterliches Fehlverhalten zu kompensieren. Vielmehr gehe es darum, das Ressourcenpotenzial von Familien so zu stärken, dass es der kindlichen Entwicklung zugute kommen könne. Die Autor/-innen präsentieren eine gut nachvollziehbare Darstellung von Bronfenbrenners Modell. Familie wird hier nicht als homogener Sozialisationsort betrachtet, an dem Kinder einseitig von ihren Eltern beeinflusst werden, sondern als komplexes und differenziertes Zusammenwirken zahlreicher Einflussfaktoren. Dieser Zugang ist zwar nicht neu, aber im vorliegenden Werk gut zusammengefasst und angewendet.
Die kindliche Entwicklung wird zunehmend als ein Prozess von Herstellungsleistungen interpretiert, der ausgehend von der Familie auch in anderen Lebensbereichen stattfindet. In der empirischen Forschung wird ‚gelingende‘ Sozialisation aber nach wie vor häufig durch (kognitive) Einzelleistungen definiert. In diesem Zusammenhang sehen die Autor/-innen internationale Vergleichsuntersuchungen zur kognitiven Intelligenz wie PISA, PIRLSS oder IGLU äußerst skeptisch und kritisieren deren theoretische Grundannahmen: Von der Kompensationsthese ausgehend würden soziale Variationen von Leistungsdifferenzen mit Defiziten im Elternhaus erklärt und der Einfluss von Eltern und Umweltfaktoren viel zu undifferenziert und statisch betrachtet. Das Konzept des kindlichen Wohlbefindens bietet nach Auffassung der Autor/-innen Möglichkeiten, von einer solchen Überbetonung der kognitiven Leistung hin zu einer ganzheitlichen Perspektive zu finden und unterschiedliche Kompetenzen der Kinder ebenso zu berücksichtigen wie die Umweltfaktoren und Veränderungsprozesse, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen.
Trotz massiver demographischer, ökonomischer und lebensgeschichtlicher Veränderungen ist die traditionelle Kernfamilie nach wie vor verbreitet. Dass dieses Modell nicht mehr als adäquat betrachtet werden kann, zeigen die Autor/-innen am Beispiel der Elternrolle: Auch wenn Mutter- und Vaterschaft emotional lebensbestimmend sein mögen, sind sie heute als (exklusive) Lebensmodelle kaum noch funktional, da sie nur begrenzte Phasen in einem sehr langen Leben darstellen. Frauen- und Mutterrolle fallen zunehmend auseinander, da die Phase, in der (kleine) Kinder versorgt werden müssen, heute nur noch einen verhältnismäßig kurzen Lebensabschnitt einnimmt. Daher erscheint eine Festschreibung von Frauen auf die Mutterrolle als sinnstiftendes Element im Lebensverlauf problematisch. Die aktive Teilhabe von Müttern am Berufsleben als eine der zentralen Veränderungen, welche die Lebensbedingungen von Familien beeinflussen, wird daher im Buch ausführlich analysiert. Außerdem wird auch auf die zunehmende Differenzierung der Männer- und Väterrolle hingewiesen: Männer erleben einen Bedeutungsverlust der Rolle als Haupternährer und werden sich in Zukunft, so die Einschätzung der Autor/-innen, stärker mit emotional-fürsorglichen Aspekten ihrer Rollen auseinandersetzen (müssen).
Die Rolle der Kinder wird sich, so die Prognose der Autor/-innen, vermutlich besonders stark wandeln: Die demographischen Veränderungen führen dazu, dass die gemeinsam geteilte Lebenszeit von Eltern und Kindern noch nie so lang war wie heute. Damit wird die Beziehung reziproker, weil Kinder zwar anfangs schutzbedürftig und von den Eltern abhängig sind, sich dieses Verhältnis aber durchaus ändern kann, wenn später die Eltern Hilfe und Unterstützung ihrer Kinder benötigen. Kinder werden dadurch, so die Diagnose, von abhängigen, unschuldigen kleinen Wesen zu eigenständigen Partnern ihrer Eltern. Care wird als wichtiger, reziprok zu denkender Begriff in die Diskussion gebracht und verstanden als „die subjektive Bereitschaft, für jemanden, den man liebt, Verantwortung zu übernehmen, selbst wenn keine Gegenleistung zu erwarten ist.“ (S. 195)
Abschließend skizzieren Bertram und Bertram Überlegungen zur Verbesserung der kindlichen und familialen Lebensbedingungen. Moderne Familienpolitik müsse demnach individuelle und familiale Entwicklung ebenso wie die familialen Lebensformen in einen sozial-ökologischen Kontext einbetten. Dafür wäre ein Modell nötig, das nicht versucht, die Nachteile, welche Familien erleben, auszugleichen („Lastenausgleich“), sondern das auf die Ressourcen, Fähigkeiten und Leistungen von Familien fokussiert und Eltern in ihren Leistungen für die kindliche Entwicklung unterstützt („Leistungsausgleich“). Eine solche Perspektive würde sichtbar machen, dass „ohne die Familien und ihre Kinder die Entwicklung des Humankapitals der Gesellschaft als Ganzes ernsthaft gefährdet ist.“ (S. 194)
Bertram und Bertram haben ein Werk vorgelegt, welches einen fundierten Überblick über Teile der Kindheits-, Familien- und Sozialisationsforschung gibt und einen wichtigen Beitrag zum bereits seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt zwischen traditioneller Sozialisationsforschung und sozial-ökologischen Betrachtungsweisen darstellt.
Die große Themenbreite trägt aber auch zu einem Schwachpunkt dieser Publikation bei: Es wird eine Vielzahl unterschiedlicher Themen angesprochen, und die Systematik der Darstellung erschließt sich dem/der Leser/-in nicht immer: Etwas mehr Übersichtlichkeit wäre durchaus wünschenswert. Dies wird durch eine zum Teil etwas irreführende Benennung der einzelnen Kapitel verstärkt. Die Titel wecken zum Teil falsche Erwartungen, was das thematische Zuordnen und Wiederfinden einzelner inhaltlicher Aussagen erschwert. Insgesamt werden die im Titel angekündigten Themenbereiche („Familie, Sozialisation und die Zukunft der Kinder“) in sehr unterschiedlicher Intensität behandelt und damit nicht alle gesteckten Ziele erreicht. Schade ist, dass der im Titel angekündigte Themenkomplex „Zukunft der Kinder“ nicht systematisch dargestellt wird, was sich angesichts der aktuellen familiensoziologischen Beschäftigung mit dem Thema „Zukunft der Familie“ angeboten hätte.
Dennoch sind die Kapitel auch einzeln gut lesbar, und jeder Abschnitt enthält eine Zusammenstellung von Verständnisfragen, weshalb das Buch auch im Lehrkontext sinnvoll einzusetzen ist. Das Glossar im Anhang ist ebenfalls positiv zu erwähnen. Im Großen und Ganzen also ein fundiertes Werk, das in einigen Teilen mehr Überblick, in anderen mehr Detailwissen gibt und durchaus anregend und kurzweilig zu lesen ist.
URN urn:nbn:de:0114-qn112069
Mag.a Dr.in Ulrike Zartler
Universität Wien
Institut für Soziologie
E-Mail: ulrike.zartler@univie.ac.at
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