Die 60er Jahre begannen vielversprechend

Rezension von Thomas Koinzer

Axel Schildt, Detlef Siegfried, Karl Christian Lammers (Hg.):

Dynamische Zeiten.

Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften.

Hamburg: Hans Christians Verlag 2000.

831 Seiten, ISBN 3–7672–1356–7, DM 78,00

Abstract: Der Band ist ein äußerst anregender, erster, wenn auch unvollständiger Versuch, in 30 Einzelbeiträgen sich den verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen der 60er Jahre in beiden deutschen Staaten zu nähern. Besonders die sozial- und kulturhistorisch relevanten Tendenzen der Zeit werden betont und ihre Bedeutung zwischen Wiederaufbau und kultureller Moderne nach den „dynamischen Zeiten“ verdeutlicht.

Es waren dynamische Zeiten. Was als zeitgenössische Einschätzung, sehnsüchtiger Rückblick und historiographische Analyse gelten kann, kennzeichnet eine Periode, die in politischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Hinsicht beachtenswerte Entwicklungen und Ergebnisse zeitigte. Der Sammelband Dynamische Zeiten legt insgesamt 27 Einzelstudien und drei thematische Überblicksdarstellungen vor, welche die Zeit zwischen den späten 50er und den frühen 70er Jahren in beiden deutschen Staaten unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchten.

Die gemeinhin als „sechziger Jahre“ bezeichnete Periode war ein Zeitraum beschleunigten gesellschaftlichen Wandels, ein „Scharnierjahrzehnt“ zwischen dem Wiederaufbau der 50er Jahre und der „kulturellen Moderne“ der nachfolgenden Jahrzehnte. Als ein Gelenk, das die Verbindung zwischen zwei Teilen darstellt und gleichzeitig in der Lage ist, diese sich einander näher zu bringen, waren diese Jahre für den Westen Deutschlands Testfeld und Laufwerkstatt von Individualisierung und neuen Formen von Öffentlichkeit. Es war das Jahrzehnt, in dem sich die Westdeutschen aus der deutschen Untertanenmentalität zu befreien begannen, während die Gesellschaft der DDR darin bis zum Ende verhaftet blieb. Das Coverfoto des Einbandes scheint die Betrachter und Betrachterinnen in dieser Meinung zu bestärken: eine junge Frau mit Sonnenbrille und in luftiger Sommerbekleidung, das Kofferradio neben ihr, sich die Zeit vertreibend. Die „neue“ Weiblichkeit und Lebenslust sowie die technischen und kulturellen Insignien deuten es an. Hier ist eine neue Zeit, die neuen Deutschen. Das muss der Westen in den 60ern sein, so wie er in ähnlicher Form auch auf dem Buchumschlag von Arthur Marwicks The Sixties, Oxford 1998, vorbildhaft prangt. Doch die deutsche Sixtiesforschung lockt mit einem Foto „ostdeutscher Verhältnisse“ bzw. mit einem auch im SED-Staat geschätzten jugendlichen Image der Zeit.

Die 60er waren im Westen Deutschlands mehr als 1968 und im Osten mehr als Mauerbau, Einheitsschule und Parteitagsbeschlüsse. Der Band gibt Beispiele dafür, wieviel mehr. Einige Aufsätze fassen bisherige Forschungen zusammen, andere stellen Fragen, um zum Weiterfragen anzuregen. Genau das, was von einer guten Textsammlung, welche die Beiträge einer deutsch-dänischen Konferenz des Jahres 1998 vereint, zu erwarten ist. Dabei ist einerseits der Schritt über die „innerdeutsche Grenze“ gelungen, eine Perspektive, die dem von Axel Schildt und Arnold Sywottek herausgegebenen Buch Modernisierung im Wiederaufbau, Bonn 1993, fehlte. Andererseits ist Dynamische Zeiten die Weiterführung gesellschaftsgeschichtlicher Erforschung deutscher Nachkriegszeiten. Bemerkenswert für die Beiträge zur Geschichte der westdeutschen Gesellschaft ist, dass die Ereignisse des Jahres 1968 nicht Ausgangspunkt der Betrachtungen bzw. deren Höhe- oder Endpunkt sind. Die Jahre davor werden nicht als bloße Vorgeschichte des politischen und kulturellen Bruchs von 1968 bewertet. Der „Eigenwert“ der 60er (S. 13) als eine vielversprechende „Phase der Gärung“ (S. 23) wird betont, eine Feststellung, die auch für die kaum von 1968 beeinflußte DDR zutreffend ist.

Am Beginn des Bandes beschreiben Schildt und Sywottek in ihren beiden Überblicksdarstellungen die politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in einem weiten Bogen, um das Terrain abzustecken und die in den Einzelbeiträgen herausgehobenen Aspekte zusammenzuführen. Beide Beiträge bilden den Rahmen, der die oft an den im weitesten Sinne kulturellen Veränderungen der 60er Jahre orientierten Aufsätze verbindet. Dass die vielgestaltigen kulturellen Entwicklungen dieser Zeit eine vorsichtig herausgehobene Position im Band einnehmen, wird durch den zweiten Beitrag von Anselm Döring-Manteuffel (Eine neue Stufe der Verwestlichung? Kultur und Öffentlichkeit in den 60er Jahren) unterstrichen, der einführend zusammenbringt, was folgt: anregende Auseinandersetzungen mit Aspekten aus der Geschichte der Medien (Konrad Dussel), des Konsums (Wolfgang Ruppert), der Bildenden Kunst (Hans-Joachim Manske) und Schriftstellerei (Per Æ hrgaard). In diesem, dem sechsten und letzten Abschnitt der sinnvoll thematisch geordneten und sich teilweise ergänzenden Blöcke des Bandes wird der Strukturwandel von Kultur und Öffentlichkeit an ausgewählten Beispielen dargestellt. Herausgehoben wird dabei, wie die kulturelle und konsumistische Orientierung der Zeit eine keineswegs entpolitisierende Wirkung auf die Deutschen in Ost und West hatte, sondern neue Formen der Teilnahme des Einzelnen oder von Gruppen am gesellschaftlichen Wandel hervorbrachte (Studenten, Künstler, Schriftsteller, Radiomacher und Filmemacher meist männlichen Geschlechts).

Der Bezug auf die überwiegend männlichen Protagonisten des kulturellen Wandels ist auffällig; es wird versucht, diese Einseitigkeit durch die im fünften Abschnitt unter der Überschrift „Generation und Geschlecht“ zusammengefassten drei Beiträge einigermaßen auszugleichen. Während sich die beiden Aufsätze der die 60er scheinbar dominierenden „Jugend-Generation“ in Ost und West widmen (Dorothee Wierling bzw. Detlef Siegfried), ist der Beitrag von Ute Frevert eine vergleichende und äusserst anregende Sicht auf den Wandel der Geschlechterverhältnisse. Frevert zeigt, dass die 60er eher als Übergangszeit denn als Zeit eines radikalen Wandels verstanden werden müssen und schafft es, Kontinuität und Wandel in sowie Tranfers zwischen Ost und West heraus zu arbeiten.

Der vierte Block widmet sich der Ausbildung moderner Strukturen in den politischen Parteien (Karsten Rudolph), Verbänden (Wolfgang Schroeder) und Kirchen (Karl Gabriel und Martin Greschat). Auffällig ist hier,wie im ganzen Band, der eher unterentwickelte und somit Forschungsbedarf anzeigende Blick auf die DDR-Gesellschaft in diesen Feldern.

Der dritte Block thematisiert zwar den gesellschaftlichen Wandel allgemein, konzentriert sich aber auf die reformerischen Diskurse in verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen ausschließlich der Bundesrepublik. Die Beiträge zur Westernisierung der Bundesrepublik (Anselm Doering-Manteufell),zu ihrer Deutschland- und Außenpolitik (Arnold Sywottek), zur Planungsgeschichte und Bildungsreform (Michael Ruck bzw. Alfons Kerkmann) und zur Reform von Justiz und Polizei (Jörg Requarte und Klaus Weinhauer) zeigen die Infragestellung der im Wiederaufbau der 50er Jahre rekonstruierten Strukturen und analysieren deren Veränderungen und den Reformeifer in den 60er Jahren.

Die Beiträge über die von Verwissenschaflichung und Planbarkeit geprägten ökonomischen Entwicklungen in Ost und West (Gerd Hardach bzw. André Steiner), zur Arbeitsmigration (Ulrich Herbert und Karin Hunn) und zur (West)intergrationspolitik der Bundesrepublik (Werner Bührer) bilden den zweiten Block. Diesem geht ein erster großer Themenkomplex voraus: die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in beiden deutschen Gesellschaften. Wie durch einzelne Beiträge im von Christoph Kleßmann u .a. herausgegebenen Band Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung, Berlin 1999, bereits gezeigt wurde, war die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus eine gesellschaftliche Herausforderung in beiden deutschen Staaten. Die Aufsätze in Dynamische Zeiten setzen sich vergleichend mit den Debatten um Aufarbeitung und Schlussstrich auseinander (Detlef Siegfried), fassen die akademischen Diskurse zum NS in der Bundesrepublik zusammen (Bernd Rusinek) und sind eine Auseinandersetzung mit der „braunen“ Vergangenheit an westdeutschen Hochschulen bzw. im DDR – Radio (Karl – Christian Lammers bzw. Christoph Clasen).

Der Sammelband gibt einen sehr guten ersten Einblick in die Forschungen zu den 60er Jahren. Er versteht sich als Vorreiter und dadurch „notwendigerweise unvollständiger Versuch, die sozialhistorisch rekonstruierbaren harten Basistrends mit den zunehmend bedeutsamen, methodisch aber schwieriger fassbaren weichen Feldern der kulturellen Praxis und der Ideen zu verknüpfen.“ (S. 17) Ein Versuch, der häufig ausschließlich die bundesrepublikanische Gesellschaft in den Blick nimmt. Die „kulturelle Praxis“ des Ostens zu erschließen bleibt eine Herausforderung ebenso wie die vergleichende Sicht. Fragen lassen sich genügend formulieren. Dynamische Zeiten ist nichtsdestotrotz ein Markstein und hoffentlich auch ein Ausgangspunkt für zahlreiche weitere Forschungen zu den 60er Jahren.

URN urn:nbn:de:0114-qn023079

Thomas Koinzer

Humboldt Universität Berlin, Philosophische Fakultät IV, Institut für Schulpädagogik und Pädagogische Psychologie

E-Mail: thomas.koinzer@rz.hu-berlin.de

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