Julia Reuter, Paula-Irene Villa (Hg.):
Postkoloniale Soziologie.
Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention.
Bielefeld: transcript Verlag 2010.
338 Seiten, ISBN 978-3-89942-906-0. € 28,80
Abstract: Welche Inspirationen und Anforderungen ergeben sich aus dem Projekt der ‚Dekolonisierung‘ der Soziologie auf der theoretischen, konzeptionellen und empirischen Ebene für die deutsche soziologische Debatte? Die im Band versammelten Beiträge bieten erste Versuche zur Beantwortung dieser Fragen. Während Selbstreflexivität großgeschrieben wird, mangelt es auch diesem Band noch an empirischer Fundierung der postkolonialen Kritik.
Postkolonialismus ist mittlerweile an deutschen Universitäten nicht nur ‚hip‘, sondern gilt auch als ‚exzellent‘. Der Begriff ,postkolonial‘ droht dabei zu einem vermarktbaren Label zu verkommen, der bestehenden Forschungsprogrammen zu einer Aura von Innovation verhilft, wie Castro Varela und Dhawan im Schlussbeitrag des Bandes kritisieren. Wie also kann die Gefahr einer leeren Worthülse abgewendet und der Begriff wieder mit dem politischen Programm der postkolonialen Theorie gefüllt werden? Indem soziologische Forscher/-innen sich der postkolonialen Kritik öffnen und bereit sind, ihre Grundbegriffe und Theorien zu hinterfragen. Die Theorie-Kritik muss dabei die empirische Ebene im Blick behalten und die Ausbuchstabierung der postkolonialen Kritik in der empirischen Sozialforschung leisten.
Den Titel ihres Bandes wollen die Herausgeberinnen daher als programmatischen Aufruf zur postkolonialen Reflexion und Intervention in der deutschsprachigen Soziologiediskussion verstanden wissen. Zu oft werden hier postkoloniale Perspektiven als exotische Importe aus anglophonen kultur- und literaturwissenschaftlichen Debatten angesehen (Boatca/Costa, S. 73). In ihrem Einführungsbeitrag beschreiben Reuter und Villa das Potential von postcolonial studies für verschiedene Felder der Soziologie, darunter Wissenschafts-, Kultur- und Modernitätssoziologie. Zusammengefasst fordern sie einen selbstreflexiv-analytischen Dreischritt: erstens die eigene Position als Forscher/-in herrschaftskritisch zu reflektieren, zweitens Grundannahmen der Soziologie auf Basis postkolonialer Kritik zu hinterfragen, drittens postkoloniale Reformulierungen empirisch zu fundieren. Der Band bietet ein Forum für Autor/-innen, die sich der Herausforderung gestellt haben, dieses postkoloniale Programm für die deutsche soziologische Debatte zu ,provinzialisieren‘: zu übersetzen, zu übertragen, dabei an bestehende Diskussionen anzuknüpfen und gegebenenfalls anzuecken.
Letzteres ist nicht nur Stärke der postcolonial studies, sondern auch die Stärke des Bandes. In kaum einem Beitrag fehlt die postkoloniale Hinterfragung theoretischer Grundannahmen der Soziologie. An erster Stelle steht hierbei die Kritik an einem universalistischen Konzept der Moderne, das implizit ‚den Westen‘ als Ursprung und Parameter der ‚Moderne‘ konstruiert. Die Hartnäckigkeit des Modernisierungsnarrativs in der heutigen Soziologie lässt sich wissenschaftsgeschichtlich erklären: In der intellektuellen Arbeitsteilung des 19. Jh. wurde der Soziologie die Beschäftigung mit der ,entwickelten‘ Gesellschaft zugewiesen, während sich Orientalistik und Ethnologie mit der Analyse der ,anderen‘ Gesellschaften auseinandersetzten (vgl. Boatca/Costa). Dies hatte zur Folge, dass ,der Westen‘ zum globalen Modernisierungsmaßstab und -motor gegenüber ,unterentwickelten‘ Gesellschaften im ,Rest der Welt‘ gemacht wurde. Auch der Eurozentrismus der Globalisierungsdebatte (vgl. Gabbert), das an Nationalstaaten orientierte Containerdenken (vgl. Rehbein) sowie die orientalistische Konstruktion des ‚Anderen‘ im kosmopolitischen Diskurs (vgl. Köhler) sind Symptome einer soziologischen Denkweise, die sich bisher weitgehend an westlichen Gesellschaftsmodellen orientiert und globale Abhängigkeiten häufig ausblendet hat.
Konkrete Vorschläge zur theoretischen Reformulierung soziologischer Annahmen wurden insbesondere in der Modernitätssoziologie erarbeitet. Statt die linearen Evolutionslinien überkommener Modernisierungsnarrative nachzuzeichnen, werden hier „hybride Verflechtungszusammenhänge“ hervorgehoben, um die Auffassung, dass die Moderne ursprünglich westlich sei, zu dezentrieren. Viele Autor/-innen verweisen dabei auf Randerias Konzepte der verflochtenen Geschichten und der verwobenen Modernen. Diese gehen von einer „konstitutive[n] Verknüpfung zwischen westeuropäischen Modernitätsmustern und (post-)kolonialen Modernisierungsprozessen“ (Boatca/Costa, S. 75) aus. Ähnlich fordert Rehbein eine „kaleidoskopische Dialektik“ und damit eine multiperspektivische Herangehensweise an soziale Phänomene, die auch ein aktives Bemühen um Verstehen und Verständigung in einer globalisierten Welt beinhaltet. Eine Reihe von Beiträgen bemüht sich um einen Verständigungsprozess zwischen soziologischen und postkolonialen Ansätzen auf theoretischer Ebene. So findet Köhler in Saids Konzept des ,Irdischen‘ einen hilfreichen Anknüpfungspunkt an neokosmopolitische Debatten. Kerner dagegen beleuchtet Gemeinsamkeiten und Grenzen der Debatten über Intersektionalität und postkoloniale Kritik in der feministischen Diskussion.
Die empirische Fundierung der kritischen Denkanstöße ist bei den meisten Autor/-innen jedoch allein anekdotisch gegeben. Ausnahmen bilden die Beiträge von Puwar und Lutz. Puwar zeigt am Beispiel Bourdieus Ansätze für eine postkoloniale Kontextualisierung soziologischer Denker auf. Bourdieus selektive Rezeption als Klassentheoretiker hatte auch eine sehr selektive Übersetzung seiner Werke zur Folge, und der koloniale Kontext seiner Arbeit ist bisher nur ansatzweise erforscht. Lutz hingegen beschäftigt sich mit einer postkolonialen Umschreibung von Methoden in der Biographieforschung. Zentral für sie ist dabei die Frage nach Sprachfähigkeit. In Bezugnahme auf Spivak bezeichnet sie damit „keineswegs nur die Kenntnis und der aktive Umgang mit einer (fremden) Sprache […], sondern das Sprechen im hegemonialen Feld“ (S. 130). Bei der Erforschung von Migrationsbiographien müssten dementsprechend die Subjektivierungsprozesse untersucht werden, die mit dem Erlangen von Sprachfähigkeit im hegemonialen Normalisierungsdiskurs des Aufnahmelandes zusammenhängen.
Postkoloniale Soziologie bedeutet im vorliegenden Band vorrangig – selbstreflexive – postkoloniale Kritik an theoretischen Grundannahmen der Soziologie. Während sich manche Beiträge mit theoretischen Neuformulierungen beschäftigen, ist eine empirische Rückkoppelung kaum gegeben. Hier jedoch könnte genau die Stärke einer weiterführenden postkolonialen Intervention in soziologische Debatten liegen. Denn der Begriff ‚postkolonial‘ ist auch deshalb so marktfähig geworden, weil er sich jeglicher exakten Markierung widersetzt. Das politische Veränderungspotential postkolonialer Perspektiven für die Soziologie hingegen liegt in ihrer konkreten Ausbuchstabierung für die soziologische Forschung. So wäre es bitter notwendig, Methoden empirischer Sozialforschung einer postkolonialen Kritik zu unterziehen, um konkrete Verständigungsprozesse im Forschungsalltag umzugestalten. Auch folgt aus einer postkolonialen Perspektive auf die Soziologie der Dialog mit anderen Disziplinen: Postkoloniale Bezüge könnten als Plattform für sebstreflexive und herrschaftskritische Interdisziplinarität dienen. Die vorliegenden vorsichtigen Schritte in ein bisher fast unbearbeitetes Feld bieten gute Ansatzpunkte für derartige Konkretisierungen.
URN urn:nbn:de:0114-qn112242
Ruth Streicher
Freie Universität Berlin
Doktorandin an der Berlin Graduate School for Muslim Cultures and Societies (BGSMCS)
E-Mail: ruth.streicher@gmail.com
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