Gisela Steins (Hg.):
Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010.
430 Seiten, ISBN 978-3-531-16391-8, € 49,95
Abstract: In 22 Kapiteln veranschaulichen die Autor/-innen dieses Bandes die facettenreiche psychologische Forschung zum Thema Geschlecht. Auch wenn die Zusammenstellung der Beiträge und die Konzeption des Gesamtwerkes nicht an jeder Stelle überzeugen können, bieten zahlreiche Einzelbeiträge einen hervorragenden Überblick über den Beitrag der psychologischen Fächer zu den Fragen der Geschlechterforschung.
Mit dem in diesem Jahr erschienenen Band Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung hat Gisela Steins ein ehrgeiziges Projekt realisiert, dessen 22 Kapitel den Facettenreichtum psychologischer Forschung in Bezug auf das Thema Geschlecht verdeutlichen. In der Einleitung benennt die Herausgeberin ihr Anliegen, die „extrem unterschiedliche[n] Perspektiven“ der Psychologie „auf die Bedeutung der Variable ‚Geschlecht‘ als Kategorie“ (S. 12) darzustellen.
Dieses Vorhaben kann in mancher Hinsicht als gelungen bezeichnet werden, denn der Band vereint einige stark divergierende Ansätze, die von sehr unterschiedlichen Prämissen ausgehen. So werden beispielsweise in einem mit „Entwicklungspsychologie, Kulturwissenschaften, Biopsychologie“ betitelten Kapitel (Bischof-Köhler) Unterschiede zwischen den Geschlechtern evolutionsbiologisch begründet. Genau entgegengesetzt dazu wird in einem anderen Beitrag („Kritische Psychologie“ (Tißberger)) argumentiert, dass die Kategorien Rasse und Geschlecht durch eine „Naturalisierung“, also durch „die Ontologisierung phänotypischer Merkmale entstehen“ (S. 379) und erst damit zu Kategorien werden, anhand derer Menschen – im Kontext von Machtverhältnissen – unterschieden und klassifiziert werden.
Die vorgenommene Auswahl und Gewichtung der psychologischen Disziplinen bzw. Themenfelder in dem vorliegenden Band ist allerdings überraschend, da sie in vielen Fällen nicht mit der Relevanz ihrer jeweiligen Erträge für die Geschlechterforschung korrespondiert. So fehlen einige zentrale Bereiche der Psychologie in dem Band vollständig. Die Klinische Psychologie als zentrales Anwendungsfach ist nicht vertreten, was die Herausgeberin mit Bedauern in der Einleitung selbst thematisiert. Andere Fächer werden zwar berücksichtigt, aber nicht im dem Maße, die ihrem jeweiligen Beitrag zur Geschlechterforschung tatsächlich entsprechen. Dagegen wurde einigen randständigen Themen erstaunlich viel Raum zugestanden. So hat die Entwicklungspsychologie mit einem sehr lesenswerten Beitrag über die differentielle Bedeutung des Körperbildes für männliche und weibliche Jugendliche (Boeger) für mein Dafürhalten zu wenig Raum bekommen, weshalb nur ein kleiner Bereich der wichtigen psychologischen Erkenntnisse zur geschlechtsspezifischen Entwicklung abdeckt werden konnte. Der Beitrag über „Verkehrspsychologie“ (Limbourg/Reiter) ist für sich genommen zwar informativ und lesenswert, es mutet aber seltsam an, dass er fast doppelt so umfangreich geworden ist wie das (sehr dichte und informative) Kapitel über „Sozialpsychologie“ (Hannover). Schließlich hat die Sozialpsychologie doch mehr und vor allem Grundsätzlicheres zur empirisch fundierten Theoriebildung im Bereich Geschlechterforschung beigetragen als die Verkehrspsychologie. Dieses Missverhältnis wird zwar – wohl eher zufällig – ein wenig dadurch ausgeglichen, dass sich der mit „Politische Psychologie“ überschriebene Beitrag (Genkova) so gut wie ausschließlich mit den gängigen sozialpsychologischen Konzepten ‚Geschlechterstereotype‘ und ‚Vorurteile‘ beschäftigt, aber insgesamt offenbaren diese Gewichtungen gewisse konzeptionelle Mängel.
Sehr unbefriedigend ist darüber hinaus die wiederholte Behandlung von Themen und Fragestellungen in mehreren Kapiteln. Die drei aufeinanderfolgenden Kapitel „Neuropsychologie“ (Hirnstein/Hausmann), „Kognitive Neurowissenschaften“ (Jordan) und „Allgemeine Psychologie I“ (Haider/Malberg) beschreiben die gleichen umfangreichen Forschungsfelder, wobei der Eindruck entsteht, die Autor/-innen seien von der Herausgeberin gar nicht über die parallel entstehenden Kapitel informiert worden. Sehr knapp und auf engstem Raum versuchen die Verfasser/-innen der jeweiligen Beiträge geschlechtsspezifische Unterschiede im Bereich kognitiver Fähigkeiten auf allen dazu gehörenden Ebenen (z. B. behaviorale und funktionelle Differenzen bezüglich allgemeiner und spezifischer kognitiver Fähigkeiten, Differenzen in Hirnanatomie und neuronalen Strukturen) zu beschreiben und darüber hinaus auch alle generell denkbaren Erklärungsansätze (Einfluss von Sexualhormonen, von Umweltfaktoren, von evolutionären, psychologischen und sozialen Faktoren) zu behandeln. Dies führt beispielsweise dazu, dass alle drei Beiträge auch noch über die sozialpsychologischen Studien zum stereotype threat berichten. Es ist zu bedauern, dass diese Redundanzen (sowie der Arbeitsauftrag, auf etwa 20 Seiten irgendwie ‚alles‘ abzuhandeln?) dazu geführt haben, dass das Kerngeschäft der Beiträge vernachlässigt werden musste, nämlich die Leser/-innen anschaulich, nachvollziehbar und in nötiger Ausführlichkeit darüber zu informieren, welche Erkenntnisse die psychologischen Neurowissenschaften zur Beschreibung und Erklärung von Geschlechterdifferenzen im Bereich kognitiver Fähigkeiten beisteuern.
Aber nicht nur durch die Zuweisung von Kapiteln und Seitenzahlen zu den einzelnen Disziplinen ist eine etwas schiefe Gewichtung erfolgt. Die Autor/-innen selbst gehen mit ihren Themen auch unterschiedlich angemessen um. So finden sich ausgezeichnete Beiträge in diesem Band, die den Leser/-innen einen sehr guten Überblick über die zentralen Konzepte und aktuellen Befunde des jeweiligen Faches in Bezug auf Geschlechterforschung bieten – beispielsweise in den Kapiteln „Medienpsychologie“ (Trepte/Reinecke), „Gesundheitspsychologie“ (Sieverding), „Sozialpsychologie“ (Hannover), „Emotionspsychologie“ (Lozo). Vereinzelte Autor/-innen nutzen allerdings den Band dazu, ihr eigenes kleines Spezialgebiet einem größeren Publikum näherzubringen, womit sie den Beitrag der von ihnen zu beschreibenden Disziplin ausgesprochen randständig erscheinen lassen. Hinter dem Kapitel „Sportsoziologie“ (Radtke) verbirgt sich beispielsweise die Schilderung einer Untersuchung der Autorin zur Geschlechterverteilung in ehrenamtlichen Führungspositionen im Sport, was dem deutlich umfassenderen Titel des Beitrags nicht gerecht wird. Und auch wenn es interessant ist zu erfahren, auf welche Weise die Kategorie Geschlecht in anonymen Drohbriefen auftaucht und analysiert werden kann, verdient ein ausschließlich diese Fragestellung fokussierender Beitrag nicht den Titel „Forensische Psychologie“ (Haas). Schade, dass hier die Gelegenheit verpasst wurde, einen Überblick über das ergiebige Forschungsfeld zu geschlechtsspezifischen Differenzen bei Straftaten zu erstellen. Ähnlich verblüffend trägt ein Beitrag, der sich größtenteils psychoanalytischen Ansätzen der Geschlechterforschung widmet, den Titel „Differentielle Psychologie“ (statt „Psychoanalyse“) (Rothe). Auch in diesem Falle verspricht der Titel etwas, was nicht eingelöst wird. Zudem führt dies dazu, dass ein Beitrag fehlt, der den Forschungsstand zum Thema Geschlecht innerhalb der differentiellen Psychologie aus der Innensicht des Faches selbst schildert, obwohl ein solcher doch sehr informativ gewesen wäre.
Insgesamt hat Gisela Steins mit dem Handbuch Psychologie und Geschlechterforschung einen interessanten und ergiebigen Band vorgelegt, der zahlreiche sehr gute Einzelbeiträge zu bieten hat, die mit Gewinn zu lesen sind. Allerdings bleibt er in seiner Gesamtkonzeption hinter dem zurück, was er mit der Bezeichnung als Handbuch verspricht, nämlich den Forschungstand der zentralen Subdisziplinen der Psychologie in Bezug auf die Geschlechterforschung abzubilden.
URN urn:nbn:de:0114-qn112196
Univ.-Prof. Dr. Ursula Kessels
Universität zu Köln
Professorin für Pädagogische Psychologie im Department Psychologie an der Humanwissenschaftlichen Fakultät
E-Mail: ursula.kessels@uni-koeln.de
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