Mechthild Koreuber (Hg.):
Geschlechterforschung in Mathematik und Informatik.
Eine (inter)disziplinäre Herausforderung.
Baden-Baden: Nomos Verlag 2010.
241 Seiten, ISBN 978-3-8329-4537-4, € 39,00
Abstract: Im vorliegenden Sammelband wird gezeigt, dass die Genderforschung zu Mathematik und Informatik vielfältige Beiträge leisten kann. Es werden Forschungsergebnisse präsentiert, die aus ganz unterschiedlichen (inter-)disziplinären Perspektiven an das Thema herangehen. Dabei geht es nicht nur um Frauen (und Männer) in Mathematik bzw. Informatik. Es wird z. B. auch eine mathematische Theorie, die Lehre von Gerade und Ungerade, aus feministischer Sicht neu interpretiert, indem sie mit der Weberei im antiken Griechenland in Verbindung gebracht wird.
Geschlechterforschung in Mathematik und Informatik – was kann das sein? Wie können diese scheinbar geschlechtsneutralen Fächer aus der Genderperspektive studiert werden? Im vorliegenden Sammelband wird eine Vielzahl von Zugängen zu dieser Frage präsentiert.
Der Band ist entstanden aus einer Ringvorlesung am Fachbereich Mathematik und Informatik der Freien Universität Berlin. Es ist bemerkenswert, dass die Ringvorlesung dort stattfinden konnte: Zumindest einige Verantwortliche müssen sich damals dafür entschieden haben, Geschlechterforschung in den beiden Fächern zum Thema zu machen. Damit erhielten die Lehrenden und Studierenden aus den Fächern die Gelegenheit, sich auf Genderthemen einzulassen und zu erfahren, dass und in welcher Vielfalt hier geforscht wird. Der vorliegende Band enthält den größten Teil der zu Aufsätzen überarbeiteten Vorträge; daneben sind auch einige Beiträge aufgenommen worden, die ergänzende Themen behandeln.
Thematisch geht es einerseits um Frauen (und Männer) in den Fächern Mathematik und Informatik, es geht aber auch darüber hinaus um die Fächer selbst, die Fachkulturen, die Wahrnehmung der Fächer in der Öffentlichkeit, die Geschichte und Epistemologie der Fächer.
Im Folgenden möchte ich einige Beiträge des Buches etwas näher vorstellen. Ich folge dabei meinem persönlichen Interesse als wissenschaftlich tätige Mathematikerin, die auch in der Lehramtsausbildung engagiert ist.
In mehreren Aufsätzen werden das Studium der Mathematik sowie Karriereverläufe in der Mathematik behandelt. Die Soziologin Anina Mischau stellt in ihrem Beitrag „Doing gender by doing mathematics? – Frauen und Männer im Mathematikstudium“ Ergebnisse einer Studie vor, in der Studierende der verschiedenen Mathematikstudiengänge befragt wurden. Es zeigte sich darin u. a., dass die Studierenden stereotype Vorstellungen vom Fach Mathematik haben; vor allem die männlichen Studierenden glauben häufig noch, dass Frauen für Mathematik weniger begabt seien. Im Mathematikstudium wird das Fach als „von Männern gemacht“ (S. 25) vermittelt.
Irene Pieper-Seier ist Mathematikerin und war in Deutschland die erste, die aus dem Fach heraus Forschungsfragen zu Mathematik und Geschlecht entwickelt und in Kooperation mit Oldenburger Kolleginnen in zwei Studien behandelt hat. In ihrem Beitrag „Berufsziel MathematikerIn – Über die Erfahrungen von Studentinnen und Studenten mit der Mathematik: Eine Risikofolgenabschätzung“ berichtet sie über Ergebnisse dieser Studien. Eine wesentliche Forschungsfrage der ersten Studie war die nach der Einstellung von Mathematikstudierenden zur Promotion bzw. die dahinter liegende Frage danach, was Frauen von der Promotion abhält. Es stellte sich heraus, dass Mathematikstudentinnen ein geringeres fachbezogenes Selbstvertrauen haben als ihre männlichen Kommilitonen. Studentinnen „wünschen sich positive Rückmeldungen“ (S. 49); Mathematikprofessorinnen – so zeigte die zweite Studie – haben diese bereits frühzeitig zu Beginn ihrer Karriere erhalten.
Sowohl in Mathematik als auch in Informatik sollte ein Ziel der Lehre an Schule und Hochschule sein, ein Bild des Fachs zu vermitteln, das es Mädchen und Frauen ermöglicht, eine positive Einstellung zum Fach zu erlangen. Die Mathematikdidaktikerin Christine Keitel ist in der Ausbildung angehender Grundschullehrer/-innen tätig. In ihrem Beitrag „Geschlechtererziehung in der Mathematiklehrerinnenaus- und fortbildung – Ein immer noch verdrängtes Problem?“ zeigt sie Ansätze, wie man die eher negative und durch Angst geprägte Beziehung der Studierenden des Grundschullehramts zur Mathematik überwinden kann. Sie schlägt Themen für Lehrveranstaltungen vor (z. B. „Mathematik und Sprache“, „Mathematik und Common Sense“, S. 43), die Mathematik aus ungewohnten Blickwinkeln beleuchten. Dies halte ich für einen sehr guten Ansatz. Gender steht hierbei nicht im Zentrum, die Themen können aber Anlass geben, auch über Gender zu diskutieren.
Carsten Schulte und Maria Knobelsdorf kommen aus der Informatikdidaktik. In ihrem Beitrag „‚Jungen können das eben besser‘ – Wie Computernutzungserfahrungen Vorstellungen über Informatik prägen“ berichten sie über ihre Analyse von Computernutzungsbiographien. Informatikferne Personen – häufig Mädchen und Frauen – haben oft die Vorstellung, dass Informatik „magische Fähigkeiten“ mit dem Computer erfordere (S. 106). Ein Ansatz zur Überwindung dieser Vorstellung sei, den informatikfernen Personen zu einem „Konzeptwechsel“ zu verhelfen: Informatik sei nicht nur „passive Nutzung“ des Computers, sondern „kreatives Entwerfen“ (S. 102).
Mir wird oft die Frage gestellt, ob es eine ‚weibliche‘ Mathematik gebe, ob Frauen auf andere Art Mathematik machen als Männer. Für in der heutigen, über die Jahrhunderte männlich geprägten Fachcommunity sozialisierte Mathematikerinnen würde ich dies verneinen. Dennoch ist es interessant, nach ‚weiblichen Spuren‘ in der Mathematik Ausschau zu halten, die Mathematikgeschichte aus feministischer Perspektive neu zu schreiben. Dies wird in zwei Beiträgen des Sammelbandes versucht.
Mechthild Koreuber beschäftigt sich schon länger mit einer der wichtigsten Mathematikerinnen überhaupt, nämlich mit Emmy Noether (1882-1935). In ihrem Beitrag „Biographien über Emmy Noether – Konstruktionen zu Leben und Werk“ untersucht sie verschiedene Lesarten der veröffentlichten Biographien Noethers. Sie zeigt, wie durch Biographien ein Bild geprägt wird, das immer aus dem Kontext und der Zeit heraus zu verstehen ist. So ordnete z. B. der Mathematiker Hermann Weyl in seinem Nachruf auf Noether ihre Forschungsgebiete chronologisch verschiedenen Perioden zu, was übersieht, dass Noether oft auch mehrere Forschungsthemen gleichzeitig behandelte und ihre Themen außerdem nicht unabhängig, sondern miteinander verwoben waren. Weyls Darstellung war so wirkmächtig, dass noch Jahrzehnte später die gängigen Beschreibungen von Noethers Forschungstätigkeit diese verschiedenen Perioden benennen. Unter der Überschrift „Sich ein Bild machen…“ (S. 144) analysiert Koreuber die in der Literatur zu findenden Aussagen zu Emmy Noethers Aussehen; die Beschreibung von „mathematischer Genialität“ gehe hier stets mit der „Konstruktion einer unattraktiven Frau“ einher (S. 145).
Sehr spannend erscheinen mir die Betrachtungen der Mathematikerin und Philosophin Ellen Harlizius-Klück zu einem innermathematischen Thema, der Lehre von Gerade und Ungerade, aus wissenschaftshistorischer und philosophischer Perspektive. In ihrem Beitrag „‚Nur nicht von einer Frau geboren werden…‘ – Über den Zusammenhang von deduktiver Mathematik und Weberei in der Antike“ stellt sie diskussionswürdige Thesen auf, die allerdings nicht in allen Details leicht verständlich sind. Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen ist die Weberei im antiken Griechenland. Schon ihre Beschreibung des Webstuhls und der zugehörigen Begriffe ist faszinierend. Für die Weberei seien – wie für die Mathematik – Trennen , Ordnen, Klassifizieren wichtig. Um schöne Muster weben zu können, sei es notwendig, Teilbarkeitsregeln für natürliche Zahlen, insbesondere die Unterscheidung von Gerade und Ungerade zu kennen. In der Mathematikgeschichte werde die in der Antike entwickelte Lehre von Gerade und Ungerade als anwendungsfrei, als „beweistechnische Erfindung“ (S. 163) angesehen. Harlizius-Klück dagegen meint, sie gehe zurück auf die Anwendung in der von Frauen betriebenen Weberei.
In weiteren Beiträgen des Buches werden Genderaspekte der Informatik, der Softwaregestaltung, des E-Learnings beleuchtet. Insgesamt wird also ein breites Spektrum an Themen präsentiert. Die Beiträge zeigen, wie vielfältig die Zugänge zu Gender in Mathematik und Informatik sind. Es wird aber auch deutlich, dass es nach wie vor schwierig ist, den Kern der Fächer, das mathematische bzw. informatische Wissen, aus der Genderpersektive zu analysieren. Dies gilt insbesondere für die Mathematik mit ihrem über die Jahrtausende gewachsenen Wissenskorpus.
Das vorliegende Buch ist meines Erachtens ein wichtiges Überblickswerk zur neueren Geschlechterforschung zu Mathematik und Informatik vor allem im deutschsprachigen Raum. Mein Wunsch ist, dass das Buch von Personen aus Mathematik und Informatik gelesen wird, so dass sie einen Einblick in die Geschlechterforschung zu ihren Fächern erhalten. Dies könnte Anlass geben, die gegenderte Fachidentität der beiden Fächer auch von innen heraus zu hinterfragen und so langfristig zu einem „Degendering“ der Fächer beizutragen.
URN urn:nbn:de:0114-qn112274
Prof. Dr. Andrea Blunck
Universität Hamburg
Professorin für Mathematik und Gender Studies, Fachbereich Mathematik
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