Was braucht genderkompetente Schulentwicklung?

Rezension von Claudia Schneider

Malwine Seemann:

Geschlechtergerechtigkeit in der Schule.

Eine Studie zum Gender Mainstreaming in Schweden.

Bielefeld: transcript Verlag 2009.

276 Seiten, ISBN 978-3-8376-1253-0, € 33,80

Abstract: Gender Mainstreaming-Prozesse in Bildungsorganisationen sind geeignet, Wissen darüber zu liefern, wie Gender in Organisationen eingeschrieben ist – in Strukturen, Abläufe und Routinen, in Haltungen und Werte. Darüber gibt die Studie von Seemann jedoch nur zum Teil Auskunft: Der breiten Material-Fülle (Textdokumente und über 40 Expert/-innen-Interviews) fehlt an relevanten Stellen die Tiefe: Wie ist für die jeweilige Schule Geschlechtergerechtigkeit definiert? Was ist das Ziel, woran ist die Zielerreichung zu erkennen? Wie werden Konflikte und Widerstände gemanagt? Welche strukturellen Veränderungen können realisiert werden? Ausgeblendet bleibt in Seemanns Untersuchung auch das Doing Gender – das (Re)Produzieren von Geschlecherdifferenzen – auf der Ebene von Fachunterricht, Fachkulturen und Didaktik.

In ihrer nun in Buchform vorliegenden Dissertation untersuchte Malwine Seemann die Strategie des Gender Mainstreaming (GM) und seine Implementierung im Schulbereich am Beispiel von Schweden, „wo sich der erklärte politische Wille, strukturelle Bedingungen und ein tiefes Verständnis der Geschlechterverhältnisse für die Zielsetzung der Geschlechtergleichstellung günstig auswirkten“ (S. 12).

Methodisch ist die Studie hauptsächlich auf insgesamt 44 Interviews aufgebaut, die die Autorin zwischen 2003 und 2006 mit Expert/-innen führte – einerseits mit Vertreterinnen und Vertretern sowohl von außerschulischen, zu Gleichstellung arbeitenden Institutionen auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene als auch der Schulbehörde, der Lehrer/-innen-Gewerkschaft, der Universität und der Kommunalpolitik sowie andererseits mit schulischen Expert/-innen aus vier Schulprojekten: Projektleiterinnen, Projektanleiter/-innen, Schulleiterinnen, Lehrer/-innen; dabei waren alle Schulformen von der Vorschule bis zum Gymnasium vertreten.

Schulentwicklung als Prozess

Einleitend fasst Seemann die zentralen Elemente von Gender Mainstreaming als politischer Strategie zusammen. Wenn dabei, wie sie schreibt, nicht Individuen im Fokus stehen, sondern Routinen und Prozesse, und GM nicht auf Integration zielt, sondern auf Transformation (S. 26), dann befinden wir uns auf den Ebenen der formalen Organisationsstrukturen und informellen Organisationskulturen – somit ist GM als Organisationsentwicklungsprozess zu verstehen. Erkennbar sind solche erfolgreich verlaufenen Prozesse u. a. daran, dass Veränderungen bleiben, auch wenn die handelnden Personen gehen sollten, da die Organisation sich als Ganzes verändert.

Von besonderem Interesse ist also, welche Schulentwicklungsprozesse in den untersuchten Projekten in Gang kamen, welche Veränderungen der Organisation Schule, ihrer Abläufe, Regeln und Routinen konkret erreicht wurden? Bei genauer Lektüre lassen sich lediglich zwei Beispiele für Änderungen auf der organisationalen bzw. strukturellen Ebene finden:

Im Rahmen der 3R-Methode – einem in Schweden entwickelten Instrumentarium für GM-Verfahren, das Repräsentationen (z. B. die Anzahl von Mädchen und Jungen in einem bestimmten Schultyp), Ressourcen (z. B. wie viel Geld oder Raum wird für welche Aktivitäten zur Verfügung gestellt) und Realitäten (warum ist eine Situation so) untersucht – wurde in einer Schule die Frage nach den finanziellen Ressourcen gestellt: Wie viel der eingesetzten Gelder kommt Mädchen, wie viel Jungen zugute? Das Ergebnis war: Die Jungen erhielten mehr individuelle Fördermaßnahmen als Mädchen. Daraufhin wurde auf struktureller Ebene die Höchstzahl an Schüler/-innen pro Klasse reduziert, wovon alle Schüler/-innen profitierten (S. 116). Hier bestätigt sich ein zentrales Element in GM-Prozessen – es gibt sie nicht ‚umsonst‘. Diese strukturverändernde Maßnahme wurde erst ermöglicht durch die vorhandenen finanziellen Möglichkeiten der Schule.

In einem zweiten Beispiel aus einer Vorschule führte die Aufmerksamkeit auf die Verteilung der räumlichen Ressourcen zu einer Veränderung: Statt eines Raumes, in dem sich ausschließlich Jungen aufhielten, die Konstruktionsspiele spielten, lärmten und kämpften, wurde die Möglichkeit für Konstruktionsspiele in kleineren Gruppen geschaffen. Dadurch wurde allen Kindern ermöglicht, den Raum zu nutzen und Spielerfahrungen mit Konstruktionsmaterialien zu machen (S. 179).

Eine Fülle an Material

Das Buch bietet eine Fülle von zusammengetragenen Informationen bezüglich Schulprojekten, Fortbildungsangeboten, Informations-Broschüren für Lehrer/-innen, Eltern und Schulen sowie von Erfahrungsberichten im Rahmen der geführten Interviews. Aber genau das ist auch seine große Schwäche. Die Informationen sind dann zu ungenau – ein „positive[s] Beispiel der Veränderungen im Eingangsbereich der Schule“ (S. 210) etwa wird nicht weiter beschrieben, die „beeindruckende Zunahme genderpädagogischer Erfolge bei Schülerinnen und Schülern“ (S. 222) nicht näher definiert. Welcher Art waren diese Errungenschaften, wie ließen sie sich messen, was wird unter ‚genderpädagogischem Erfolg‘ verstanden? Schwer zu unterscheiden ist manchmal in den Ausführungen der Autorin, ob es sich um Programme, Handlungsanweisungen, Absichtserklärungen – oder um Umsetzungen und Erfahrungen handelt.

Bei der Erhebungsmethode des offenen, leitfaden-gestützten Interviews mit Expertinnen und Experten liegt der Fokus auf der Frage: Was wird erzählt? Welche Themen kristallisieren sich durch eine vergleichende Analyse der Äußerungen der Befragten besonders heraus? Für Seemann ergaben sich aus ihrer Studie sechs zentrale Themen: Als Faktoren, die für die Entwicklung einer geschlechtergerechten Schule bzw. für die Implementierung von Gender Mainstreaming bedeutsam waren benennt sie: (1) Genderbewusstsein als „eye-opener“, (2) theoretisches und praktisches Lernen, (3) Gleichstellung als Prozess aller Beteiligten; als zentrale Problembereiche folgen: (4) Umgang mit inneren Widerständen gegen die Genderarbeit, (5) Umgang mit der geringen Präsenz von Männern in der Genderarbeit und (6) Umgang mit dem Problem der Verknüpfung von Gender mit ethnischen Zuschreibungen.

Eine Fülle an Versäumnissen

Worauf jedoch nicht geachtet wurde – weder in den Interviews, noch in der anschließenden Analyse: Was wird nicht erzählt? Welche für Gender Mainstreaming im Schulbereich relevanten Dimensionen werden nicht erwähnt?

Weitere nicht gestellte bzw. nicht geklärte Fragen drängen sich auf: Wie wird Geschlechtergerechtigkeit definiert, wann ist sie erreicht? Was genau ist „genderpädagogisches Grundwissen“ (S. 90)? Was bedeutet ‚Gender‘ für die Akteur/-innen der Interviews, auf welche theoretische Fundierung bezieht sich die Autorin? Insgesamt entsteht beim Lesen der Eindruck, dass Gender sein analytisches Potential und seine politische Sprengkraft verloren hat. Wie es GM-Vorhaben gelingen kann, das strategische Potential von Gender zu nützen, das in der Überwindung des Systems der Zwei-Geschlechtlichkeit, in Pluralisierung und Ergebnisoffenheit liegt, ohne erneut in bipolare Deutungsmuster zu verfallen und duale Geschlechterkonzeption zu verfestigen, einer solch relevanten Problemstellung wird nicht nachgegangen.

Schwierigkeiten und Grenzen der Implementierung sieht die Autorin v. a. in der Entwicklung eines konkreten, zeitbegrenzten Handlungsplanes mit Nennung von Verantwortlichen für Ausführung, Evaluierung und Weiterverfolgung – in den einzelnen Projekten wurden Pläne aufgestellt, aber nicht evaluiert (S. 252). Die für Organisationsentwicklungsprozesse notwendigen Steuerungselemente (Einrichtung von Steuergruppen, klare Funktionsbeschreibungen, Befugnisse und zeitliche und budgetäre Ressourcen) werden von ihr allerdings nicht behandelt.

Sprachliche Schwächen zeigt die Publikation an den Stellen, wo die Autorin unkommentiert schwedische Termini wortwörtlich eindeutscht (z. B. „Geschlechtsmachtordnung“ für „könsmaktordning“), ohne die spezifische Bedeutung des Wortes im Schwedischen beizufügen, oder in eine Mischung aus beiden Sprachen übersetzt („Gleichstellungsombudsman“) oder Personen-Bezeichnungen nicht erklärt werden (was ist eine Anleiterin?). Gewonnen hätte das Buch durch eine straffere Wiedergabe der langatmigen Interviews sowie durch die konzeptionelle Entscheidung, die Expert/-innengespräche nicht entlang der einzelnen 33 (Gruppen-)Interviews, sondern entlang von sich herauskristallisierenden Themen darzustellen.

Eines der theoretisch-wissenschaftlichen Defizite des vorliegenden Buches ist, dass das in Forschungen der letzten gut 30 Jahre generierte Wissen über schulisches Doing Gender im Fachunterricht (Schwedisch, Mathematik, Physik …) nicht rezipiert und integriert wird, weder in die Interviews mit den Expert/-innen noch in die Analyse durch die Autorin. Dass und wie geschlechtsspezifische Prägungen, Geschlechterrollen und Rollenzwänge im (koedukativen) Unterricht erst produziert werden, wäre das Herzstück von schulischen Gender Mainstreaming-Prozessen – das heißt, die ständige dynamische Herstellung der Geschlechterdifferenz durch Schüler/-innen, Lehrer/-innen und durch Rahmenbedingungen wie Lehrbücher, Lehrpläne, geschlechtliche Konnotierungen von Fachkulturen etc. in den Blick zu nehmen, statt diese als ein vorgängiges Gegebenes zu nehmen.

URN urn:nbn:de:0114-qn112225

Magistra Claudia Schneider

EfEU – Verein zur Erarbeitung feministischer Erziehungs- und Unterrichtsmodelle

Vorstandsmitglied

E-Mail: schneider@efeu.or.at

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