Dominik Groß (Hg.):
Gender schafft Wissen. Wissenschaft Gender?
Geschlechtsspezifische Unterscheidungen und Rollenzuschreibungen im Wandel der Zeit.
Kassel: Kassel University Press 2009.
341 Seiten, ISBN 978-3-89958-449-3, € 29,00
Abstract: Die Autor/-innen dieses Sammelbandes gehen geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen in einem komplexen Verständnis von Wissenschaftsgeschichte nach und thematisieren dabei mehrere ineinandergreifende Ebenen: u. a. Einzel- und Gruppenakteure, systemische Komponenten, Strukturmomente der Geschlechterdifferenz und wissenschaftliche Praxen. Dabei wird allerdings ein Verständnis von gender-Forschung privilegiert, das die Untersuchungen auf Frauen und Weiblichkeit konzentriert. Körper-, Sexualitäts- und Männlichkeitsdispositionen bleiben wie intergeschlechtliche Verhältnisse mithin Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte, die sich auch nach diesem Band noch als erweiterungsfähig darstellen.
Wissenschaftsgeschichte hat in den letzten Jahren einen signifikanten Aufschwung erlebt. Dabei gibt es innerhalb dieser historiographischen Konjunktur verschiedene Binnenkonjunkturen. Eine davon ist die Fokussierung von Geschlechterdispositionen, zu denen der zu besprechende Band, der aus einer Konferenz des Aachener Kompetenzzentrums für Wissenschaftsgeschichte im Juni 2008 resultiert, vielfältige Diskussionsbeiträge leistet.
Zu den Stärken des Bandes gehört seine interdisziplinäre Ausrichtung; vertreten sind u. a. die Disziplinen Geschichte, Mathematik, Medizin, Religionsgeschichte und Literaturwissenschaft. Konzeptionell überzeugt der Band durch seine Kombination aus der Präsentation von Forschungsergebnissen und der Bereitstellung von Arbeitsmitteln zur weiteren Forschung. Letztere besteht in der Edition des Briefwechsels zwischen Hélène Metzger-Bruhl und Otto Neurath (15 Briefe) und einer umfangreichen Bibliographie zur geschlechtergeschichtlichen Wissenschaftsforschung.
Thematisch ist der Band in vier Sektionen eingeteilt, die nacheinander geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen, Wissenschaftlerinnen in Männerdomänen, einzelne Professionen und den Umgang mit Schwangerschaft in den Blick nehmen. Dabei muss man die Annahme, dass die Positionierung von Frauen innerhalb von Schwangerschaftsdiskursen „einiges aussagt über die Freiräume, die Frauen in anderen gesellschaftlichen Bereichen […], wie z. B. dem Bereich der Wissenschaft, genießen“ (S. 17), nicht teilen, um auch den vierten Abschnitt mit Gewinn zu lesen. Insgesamt reißen die 14 Aufsätze – die anders als in anderen aktuellen Publikationen zum Zusammenhang von Geschlecht und Wissenschaft nicht nur von Autorinnen stammen – inhaltlich ein breites Spektrum auf; der Band transportiert, auch das zeichnet ihn aus, eine facettenreiche Vorstellung von Wissenschaftsgeschichte.
Ohne das immer herauszustellen, werden sehr verschiedene, sich wechselseitig ergänzende Ebenen fokussiert, wie nur einige Beispiele verdeutlichen sollen. So gehen etwa Christine Roll und Rebecca Belvederesi-Kochs auf erstens Einzel- bzw. Gruppenakteure und zweitens systemische Aspekte maskuliner Dominanz ein. Roll stellt aussagekräftige Kurzbiographien von drei Wissenschaftlerinnen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und von zwei gelehrten Frauen aus der Frühen Neuzeit vor (inwieweit bei letzteren von Wissenschaft im modernen Sinne gesprochen werden kann, bleibt allerdings undiskutiert). Die Autorin referiert die biographischen Stationen und Werke, wobei sie herausstellt, dass diese im zeitgenössischen Rahmen wesentlich von der Förderung von Männern (v. a. der Väter) abhängig waren. Sie beschreibt die Ausrichtung akademischer Positionen auf ein männliches Ideal, wodurch auch die Distanz zu explizit emanzipatorischen Diskursen, die Roll bei Frauen, die im wissenschaftlichen Feld erfolgreich sind, ausmacht, erklärbar wird: Eine Identifikation mit dem ‚Weiblichen‘ als dem Systemfremdem, so könnte der als Einleitung geeignete Beitrag ergänzt werden, stellt – ähnlich wie aus politikwissenschaftlichen Arbeiten zu Spitzenpolitikerinnen bekannt – eine eminente Gefährdung der eigenen Stellung dar. Methodisch kann der biographische Zugriff Einblicke in konkrete Lebensumstände eröffnen, die ansonsten nur schwer zugänglich wären, ist aber insofern problematisch, als er dazu tendiert, weibliche Gegenheroinen zu installieren, die männlichen Erfolgsschemata folgen, wie die neuere Biographietheorie zeigt. Belvederesi-Kochs arbeitet in ihrer kompetent kontextualisierten Analyse die Interventionen der „Women’s Group“ innerhalb der Birmingham School of Cultural Studies heraus und zeigt, wie diese Gruppe sich vom Rand der akademischen Aufmerksamkeit bis zur Herausgabe eines Heftes der Hauszeitschrift gekämpft hat. Der Aufsatz verdeutlicht, wie mühsam und gegen welche Widerstände gender-Perspektiven als relevante Fragestellung etabliert werden mussten. Die Autorin verschränkt dazu die Akteursebene mit der systemischen Ebene, indem sie Analysen zu den Protagonistinnen und zu den von den Mitgliedern der Birmingham School veröffentlichten Artikeln durchführt.
Drittens werden (akademische und außerakademische) Strukturmomente der Geschlechterdifferenz thematisiert. Hierfür können die beiden Beiträge von Gereon Schäfer und Dominik Groß (zum Teil mit Tobias Fischer) stehen. Sie stellen ausführlich statistisches Material zur Geschlechterverteilung in der Zahnheilkunde vor und wollen Antworten auf die Fragen finden, die sich aus diesem ergäben, denn es bestehe eine Diskrepanz zwischen der Zunahme von Studentinnen und der Besetzung der hinsichtlich Prestige, Einfluss und Einkommen attraktivsten Positionen. So argumentieren die Autoren, dass der Grund für die geringere Zahl an selbständigen Frauen mit eigener Praxis in begrenztem Kapitalzugang und/oder geringerer Risikobereitschaft, in der erhöhten Zeitbelastung und den Ausfallzeiten bei Schwangerschaft und Kindererziehung zu suchen ist. In der Standespolitik seien Frauen in Folge juristischer und arbeitsrechtlicher Bestimmungen (z. B. das faktische Berufsverbot infolge des so genannten ‚Zahnärztinnenurteils‘) weniger engagiert. Zudem, so die Autoren, bestehe bei ihnen auch weniger Interesse daran, was aus einer methodisch nicht gänzlich unproblematischen Verallgemeinerung abgeleitet wird: „Es ist anzunehmen, dass die Aussage von Wiemann keine Ausnahme darstellt“ (S. 216). Für den Bereich der akademischen Karriere werden die auch für andere Fächer signifikanten Erklärungen – diskontinuierlicher Lebenslauf, fehlendes Mentoring, schwache Netzwerke, Mangel an Rollenvorbildern – diskutiert.
Das Bild wird durch den Blick auf viertens wissenschaftliche Praxen abgerundet. Ute Habel etwa konstatiert zu Beginn ihres Beitrages ein auffälliges Desinteresse an geschlechterdifferenzierten Analysen in der klinischen Psychologie, Studien werden hier meist nur mit Männern durchgeführt. Dabei könnten keine Aussagen zur Geschlechterdifferenz erstellt werden, weshalb sich die Arbeitsform der Wissenschaft ändern müsse. Sie stellt Ergebnisse aus vorwiegend eigenen Studien vor, in denen unter Einbeziehung von Frauen emotionales Erleben untersucht wurde. Diese stützen nur zum Teil die gängige These, dass Frauen emotionaler seien als Männer. Vielmehr sind unterschiedliche Verarbeitungsprozesse oder Differenzen lediglich in den neuronalen Korrelaten nachweisbar. Habel weist mit Nachdruck darauf hin, dass die Interpretation klinischer Daten vorsichtig geschehen muss, um nicht erst durch diese – sekundäre – Wissenschaftspraxis Unterschiede, die empirisch nicht vorliegen, zu konstruieren.
Gerade vor dem Hintergrund dieser komplexen Analyse besteht die Schwäche des Bandes in seinem Verständnis von Geschlechterforschung. Obwohl der Titel gleich zweimal den Begriff gender nennt, wird der Leser in seiner doppelten Komplexitätserwartung enttäuscht. Während einerseits die Analyse von kulturellen Figurationen des Geschlechtlichen wie beschrieben mehrdimensional stattfindet, verbleiben die Beiträge andererseits leider bei der Untersuchung von Frauen und Weiblichkeit. Das ist insofern konsequent, als das Vorwort die „historischen, gegenwärtigen und künftigen Rollen von Frauen in den Wissenschaften“ als Ziel ausgibt und der Band „den Umgang ‚mit‘ als auch die Bedeutung ‚von‘ Frauen in den Wissenschaften […] verdeutlichen“ (S. 14) soll. Sind auch solche Fragen grundsätzlich legitim und politisch sinnvoll, bleibt im Ergebnis doch die Analyse von intergeschlechtlichen Verhältnissen, d. h. die epistemologisch gleichberechtigte Einbeziehung von Männlichkeiten unberücksichtigt. Genau diese aber war von einer gender-Forschung, die diesen Namen verdient, gefordert worden; erinnert sei nur an Martin Dinges’ eingängiges Postulat „Geschlechtergeschichte – mit Männern!“ von 1998. Hierin besteht eine auch nach diesem Band noch erweiterungsfähige Perspektive, denn die überraschende Einschätzung Rolls, dass geschlechtergeschichtliche Aspekte in der Wissenschaftsgeschichte „besonders reiche Früchte“ (S. 19) getragen hätten, muss doch bezweifelt werden. Auch wenn in der erwähnten geschlechtergeschichtlichen Konjunktur durchaus einige Arbeiten vorgelegt worden sind, erscheint – verglichen mit historiographischen Teilbereichen jenseits der Wissenschaftsgeschichte – die Forschung zu etwa Körper-, Sexualitäts- und Männlichkeitsdispositionen noch erheblich ausbaufähig; fast vollständig fehlen daneben intersektionale Analysen zur Durchdringung und wechselseitigen Produktion von race, class, gender und weiteren Differenzparametern. Auch wenn der Band also informative Einzelanalysen bietet, steht die systematische Integration der genannten Aspekte in eine allgemeine Wissenschaftsforschung noch aus.
URN urn:nbn:de:0114-qn112215
Falko Schnicke, M.A.
Humboldt-Universität zu Berlin
Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“
Homepage: http://www2.hu-berlin.de/gkgeschlecht/stip.php#Falko
E-Mail: falko.schnicke@gmx.de
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