Schlüsselkonzepte feministischer Staatstheorie

Rezension von Stefan Schoppengerd

Gundula Ludwig, Birgit Sauer, Stefanie Wöhl (Hg.):

Staat und Geschlecht.

Grundlagen und aktuelle Herausforderungen feministischer Staatstheorie.

Baden-Baden: Nomos Verlag 2010.

217 Seiten, ISBN 978-3-8329-5034-7, € 29,00

Abstract: Der Sammelband bietet einen Überblick zu Grundlagen und aktuellen Forschungsgebieten der feministischen Staatstheorie. Aufgezeigt werden wesentliche Analyseinstrumente, die sich aus der feministischen Kritik der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit sowie aus der Auseinandersetzung mit anderen herrschaftskritischen sozialwissenschaftlichen Theorieströmungen ergeben, und ihr Gebrauchswert für verschiedene politikwissenschaftliche Anwendungsgebiete.

Feministische Staatstheorie ist ein vergleichsweise junges, aber offenbar höchst produktives Feld der sozialwissenschaftlichen Diskussion. Der vorliegende Sammelband, als Band 28 der Reihe „Staatsverständnisse“ im Nomos-Verlag von den drei Wiener Politikwissenschaftlerinnen Gundula Ludwig, Birgit Sauer und Stefanie Wöhl herausgegeben, macht dies deutlich: Vermittelt werden gemeinsame Grundlagen der feministisch-politikwissenschaftlichen Debatte zum Verhältnis von Staat und Geschlecht ebenso wie neuere Ausdifferenzierungen und Weiterentwicklungen.

Klassikerin Carol Pateman

Nach der Lektüre des Bandes könnte eine knappe Antwort auf die Frage „Was ist feministische Staatstheorie?“ etwa so lauten: Mit anderen herrschaftskritischen theoretischen Perspektiven hat die feministische gemein, dass der Staat als Produkt von und Akteur in gesellschaftlichen Herrschafts- und Machtbeziehungen analysiert wird. Wesentliches Erkenntnisinteresse ist dann, wo und wie der Staat dazu beiträgt, Einschränkungen von Freiheit und Gleichheit aufrechtzuerhalten oder gar zu verstärken, bzw. wo und wie staatliche Eingriffe geeignet sind, sozialemanzipatorischen Fortschritten zumindest näher zu kommen. Alleinstellungsmerkmal der feministischen Staatstheorie ist ihr ergänzender Fokus auf die wechselseitige Konstituierung politischer Öffentlichkeit und scheinbar apolitischer Privatheit.

Die systematische Ausblendung der Kategorie Geschlecht in der politischen Philosophie wurde bereits in den 1980er Jahren von Carol Pateman herausgearbeitet. Die Klassiker der politischen Theorie – Locke, Rousseau, Hobbes – stellen sich die politische Öffentlichkeit und den Staat als Orte der vertraglichen Übereinkunft zwischen autonomen Bürgern vor, übersehen aber die wesentliche Voraussetzung dieser Konstruktion: die Abtrennung einer Privatsphäre, die zugleich den Ausschluss von Frauen aus der politischen Öffentlichkeit begründet. In Patemans Worten geht dem „Gesellschaftsvertrag“ also ein hierarchischer „Geschlechtervertrag“ voraus. Dieses Theorem wird in fast allen Beiträgen des Bandes aufgegriffen. So ist es nur folgerichtig, dass Patemans Arbeit mit einem eigenen Beitrag von Gabriele Wilde gewürdigt wird, der den als „Grundlagen feministischer Staatskritik“ betitelten ersten Teil des Buches einleitet.

Öffentlichkeit und Privatheit

Das in seiner Grundstruktur problematische Verhältnis des Staates zur männlichen Herrschaft im Privaten wird in mehreren Beiträgen konkretisiert und ausdifferenziert. Elisabeth Holzleithner fragt nach der Möglichkeit einer emanzipatorischen Nutzung staatlich sanktionierten Rechts und plädiert für das „immer auch paradoxe Wagnis“ (S. 58), für die staatliche Normierung von Gewalt im Privaten einzutreten, da dies zwar kein Allheilmittel, aber eine gewinnbringende Verschiebung von Kräfteverhältnissen sein kann. Birgit Sauer entwirft eine kritische Sicht auf den „Mythos“ (S. 61) vom staatlichen Gewaltmonopol im Kontext jüngerer Restrukturierungen von Staatlichkeit unter neoliberalen Vorzeichen. Ein an die Begriffe der ‚strukturellen Gewalt‘ bzw. der ,symbolischen Gewalt‘ (Pierre Bourdieu) angelehntes Konzept der ,Geschlechtergewalt‘ dient hier dazu, Verbindungslinien zwischen ökonomischer Verunsicherung, der gleichzeitigen Aufwertung von Dispositiven der ,Inneren Sicherheit‘ und neueren Entwicklungen im staatlichen Umgang mit Gewalt gegen Frauen im Privaten herzustellen. Alexandra Scheele schließlich zeichnet anhand der Veränderungen von Wohlfahrtsstaatlichkeit nach, wie sich eine „[w]idersprüchliche Anerkennung des Privaten“ (S. 167) – von Kinderbetreuungs- und anderen care-Tätigkeiten – herausgebildet hat, welche sich an einer Arbeitsmarktpolitik bricht, die die Verantwortlichkeiten in Richtung des Individuums verlagert. Zusammengenommen verdeutlichen diese Beiträge, dass auch das staatlich sanktionierte Verhältnis ‚öffentlich‘ – ‚privat‘ zwar eine Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, in seiner konkreten Erscheinungsweise aber politisch umkämpft ist und historischen Veränderungen unterliegt.

Anschlüsse an Neomarxismus …

Zusätzlich zur Kritik der bürgerlichen Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit wird in mehreren Beiträgen deutlich, wie sich die feministische Staatstheorie aus der produktiven Aneignung und Weiterentwicklung von Konzepten neomarxistischer und poststrukturalistischer Provenienz speist. Beispielhaft zeigt sich das etwa an der in der marxistischen Theorie prominenten Formel vom „Staat als Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse“ (Nicos Poulantzas). Das damit transportierte Grundverständnis vom Staat als Kräftefeld, das durch soziale Konflikte konfiguriert wird, kann über die im Marxismus fokussierten Klassenverhältnisse hinaus auch in der Betrachtung von Staatlichkeit im Kontext sich wandelnder Geschlechterverhältnisse angewandt werden. Birgit Sauer macht dies in einem weiteren Beitrag zu einem zentralen Baustein einer materialistisch-feministischen Staatstheorie, die so in der Lage ist, politische Interventionsmöglichkeiten für Frauenbewegungen zu bestimmen. Mit einer solchen Sichtweise kann auch die Herausbildung internationaler Formen von Staatlichkeit, also der Bedeutungsgewinn von internationalen Organisationen im Zuge der Globalisierung, gleichzeitig als Formwandel staatlicher Herrschaft wie auch als Herausbildung von neuen „Gelegenheitsstrukturen“ (S. 151) theoretisiert werden, wie Sabine Lang in ihrem Aufsatz zum „Strukturwandel transnationaler Frauenbewegung“ vorführt.

… und Poststrukturalismus

Bezüge zur poststrukturalistischen Theorietradition finden sich vor allem über den von Michel Foucault geprägten Begriff der ,Gouvernementalität‘ und Judith Butlers Theorie der Subjektkonstitution. Damit werden weitergehende Fragen zur Bedeutung des Staates in der Herausbildung und Verinnerlichung von Geschlechtsidentitäten und der (De-)Stabilisierung der Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit formulierbar. Im zweiten Teil des Buches zu den „Aktuellen Herausforderungen feministischer Staatstheorie“ zeigt Susanne Schultz die Dringlichkeit einer Vermittlung zwischen einer an gesellschaftlichen Strukturkategorien orientierten Perspektive und einer herrschaftskritischen Sicht auf „Mikropolitiken“ auf, wenn sie das aktuelle Regime der Pränataldiagnostik untersucht, mithin das Ineinandergreifen politischer Regulierungen, sozialer Ungleichheitslagen und individueller Antworten auf die Frage „Kinder haben oder nicht?“ (S. 183).

Schluss

Wenn im Editorial für die Reihe Staatsverständnisse reklamiert wird, dass „zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt“, zum anderen „die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen“ werden (S. 5), so kann dieser Anspruch jedenfalls für den vorliegenden Sammelband als eingelöst bezeichnet werden. Die insgesamt 13 Aufsätze geben trotz ihres eher schmalen Umfangs von jeweils gut zwölf Seiten einen Überblick über wichtige Beiträge und den Diskussionsstand zum Thema. Während ein Teil der Texte dabei eher für den Einstieg und die Orientierung im jeweiligen Themenfeld geeignet sein dürfte, liegt der Schwerpunkt bei anderen auf der Skizzierung von theoretischen Neuerungen bzw. von Zusammenführungen differierender Perspektiven. Nicht immer ist allerdings ersichtlich, nach welchen Kriterien die Beiträge den beiden Teilen des Buches („Grundlagen“ und „Aktuelle Herausforderungen“) zugeordnet worden sind – so hätten beispielsweise die o. g. Texte von Sauer auch im 2. Teil Platz finden können, während Friederike Habermanns Überlegungen zu „Staatlichkeit und Intersektionalität“ (S. 199 ff.) gut in den Grundlagenteil gepasst hätten. Die wesentliche Leistung des Bandes, einen Überblick über bisherige Ergebnisse und weiterführende Problemstellungen der feministisch-staatstheoretischen Debatte bereitzustellen, wird dadurch aber nicht geschmälert.

URN urn:nbn:de:0114-qn112203

Stefan Schoppengerd

Philipps-Universität Marburg

Politikwissenschaftler; Stipendiat im interdisziplinären Promotionskolleg „Geschlechterverhältnisse im Spannungsfeld von Arbeit, Organisation und Demokratie“

E-Mail: schoppes@staff.uni-marburg.de

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