Die Konstruktion des Okzidents

Rezension von Melanie Ulz

Gabriele Dietze, Claudia Brunner, Edith Wenzel (Hg.):

Kritik des Okzidentalismus.

Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht.

Bielefeld: transcript Verlag 2009.

318 Seiten, ISBN 978-3-8376-1124-3, € 29,80

Abstract: In den Beiträgen dieses Sammelbandes wird das Selbstverständnis der westlich-abendländischen Welt analysiert, die sich über die Abgrenzung zu einem vermeintlich orientalischen ‚Anderen‘ als überlegen inszeniert. Okzidentalismus wird hierbei nicht als Gegendiskurs zu Orientalismus verstanden, vielmehr geht es darum, im Zuge der zu beobachtenden Wechselseitigkeit der Hervorbringungen das okzidentale ‚Selbst‘ theoretisch in den Blick zu nehmen. Obwohl sich die Rezensentin einen stärkeren Fokus auf die Bilderpolitiken dieses Diskurses gewünscht hätte, liefert die vorliegende Okzidentalismuskritik auf hervorragende Weise Hilfsmittel für die komplexe Analyse der gegenwärtig (erneut) virulenten Inszenierung des ‚Okzidents‘ in Abgrenzung zum ‚Orient‘ sowie für die interdisziplinäre Etablierung dieser Perspektive als Forschungsansatz an die Hand.

Gegenwärtig findet in Europa eine Verschiebung von der alten Systemkonkurrenz des Kalten Krieges hin zu einer „Neukonstituierung (west-)europäischer Identitäten“ statt, die sich seit 9/11 primär über die Abgrenzung zu einem als Bedrohung wahrgenommenen ‚Orient‘ herstellt. Diese von den Herausgeberinnen treffend als „Selbstvergewisserungsprozesse“ (S. 11) beschriebenen Formationen werden in dem vorliegenden Band im Anschluss an Fernando Coronils wegweisenden Aufsatz „Beyond Occidentalism. Toward Nonimperial Geohistorical Categories“ (In: Cultural Anthropology 11,1 (1996), S. 51-87) zusammenhängend als Okzidentalismus analysiert, also als jene diskursiven Praktiken, die an der Produktion und Repräsentation der (westlichen) Welt maßgeblich beteiligt sind.

Im Unterschied zu Edward Saids Ansatz des Orientalism (New York 1978), mit dem er jene Hervorbringungen beschrieben hat, die bestimmen, was der ‚Orient‘ zu sein scheint, perspektiviert die vorliegende Okzidentalismuskritik zuerst die Selbstkonstitutionen des ,Westens‘. Okzidentalismus ist aber nicht als ein Gegendiskurs zu verstehen, Ziel ist es vielmehr, die wechselseitige Abhängigkeit der Konstruktionen von ‚Orient‘ und ‚Okzident‘ gleichermaßen in den Blick zu nehmen, um eine theoretische wie inhaltliche Weiterentwicklung beider Analysekategorien voranzubringen und für die aktuelle (bilder-)politische Gegenwart produktiv zu machen.

Die Herstellung des ‚Eigenen‘ durch das ‚Andere‘

Der vorliegende Sammelband ist aus der 2007 von dem Berliner Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ veranstalteten Tagung „De/Konstruktionen von Okzidentalismus“ (http://www.okzidentalismus-konferenz.de) hervorgegangen, die eine anhaltende Debatte über die konstitutive Bedingtheit des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘ im Hinblick auf ein westlich-abendländisches Selbstverständnis angestoßen hat. Im ersten Abschnitt werden vergleichbare Okzidentalismuspraktiken in ihrer gegenwärtigen Ausprägung untersucht. Im zweiten Teil werden historische Dimensionen und Kontinuitäten aufgezeigt, die verdeutlichen, dass okzidentale Selbstinszenierungen über dichotomisierende Ab- und Ausgrenzungen keinesfalls Erfindungen der Gegenwart sind. So arbeitet etwa Anette Dietrich die kolonial-rassistische Ausprägung der bürgerlichen Frauenbewegung um 1900 heraus und zeichnet auf diese Weise eine historische Kontinuität nach, in der aktuelle Fernsehproduktionen à la Jenseits von Afrika verortbar sind. Im dritten Teilbereich wird schließlich die Anschlussfähigkeit von befreundeten Ansätzen der postcolonial-, queer- und critical whiteness studies diskutiert. Gemeinsame Klammer aller Beiträge ist eine Konkretisierung entlang der Kategorie ‚Geschlecht‘.

Was alle Beiträge darüber hinaus miteinander verbindet, ist eine grundlegende Skepsis gegenüber der Selbststilisierung des ‚Westens‘ als Hort der Aufklärung und Toleranz, Gleichberechtigung und Emanzipation. Denn betrachtet man die Wechselseitigkeit von Herstellungsprozessen des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘, zeigt sich in unterschiedlichen Ausprägungen immer wieder der Fortbestand eines kolonialistischen Blicks auf die ‚Anderen‘, welcher die Konstruktion des okzidentalen ‚Selbst‘ produziert, stabilisiert und inszeniert, aber dabei einen „Kampf der Kulturen“ (Huntington, New York 1998) suggeriert. So zeichnen die sogenannten Mohammed-Karikaturen ein Orientbild nach, das die einschlägigen Stereotype des historischen Orientalismusdiskurses nahezu unverändert reproduziert (Nazli Hodaie).

Am Beispiel der (alltags-)sprachlichen Adressierung von Minderheiten in Deutschland zeigt Yasemin Yildiz eine Rhetorik des ausgrenzenden Einschlusses auf, die letztlich versucht, (migrantische) Subjekte „dingfest“ zu machen und zu kontrollieren (S. 97). Dieses Phänomen wird auch anhand der Integrationskurse deutlich, die für in Deutschland lebende Menschen aus Nicht-EU-Ländern seit 2005 verpflichtend sind (Kien Nghi Ha). Hier wird „erstmals im Aufenthaltsrecht der Grundsatz des Integrationszwangs als nationalpädagogisches Machtinstrument für die kulturelle (Re-)Sozialisierung und politische Umerziehung migrantischer Subjekte […] institutionalisiert.“ (S. 139) Dadurch wird Nicht-EU-Bürger/-innen nicht nur pauschale Inkompetenz in Sachen Demokratie, Emanzipation usw. unterstellt, sondern auch ein „Paradigma der Defizitkompensation erschaffen“ (S. 147), das die BRD als Ort (voraus)setzt, wo soziale Gerechtigkeit und Antirassismus herrschen.

Die systemstabilisierende Bedeutung des Mainstreamfeminismus

Eine entscheidende, systemstabilisierende Rolle im okzidentalistischen Selbstverständnis hat jedoch in den letzten Jahren der sogenannte Mainstreamfeminismus eingenommen. Gleich mehrere Beiträge kreisen um das gegenwärtig zu beobachtende Phänomen, dass feministische Argumentationen zum Alleineigentum westlicher Demokratien erhoben werden, um mit der altbekannten Rhetorik des ,wie die ihre Frauen behandeln‘ gegen die vermeintlich barbarischen Zustände bei den ‚Anderen‘ vorzugehen. Feminismus wird dabei zum „Besitzstand“ einer als phallisch zu denkenden Demokratie erhoben, so die These von Nanna Heidenreich und Serhat Karakayali (S. 117 f.). Umgekehrt zeigt Daniela Marx in einem Vergleich von deutschen und niederländischen Debattenbeiträgen auf, dass sich das Islambild in (populär-)feministischen Zeitschriften nur unwesentlich von hegemonialen Massendiskursen unterscheidet. Dabei wird deutlich, dass „nicht nur scheinbar feministische Argumentationen […] Eingang in Leitkulturen gefunden“ haben, sondern dass hegemonialer Feminismus selbst eine „leitkulturelle Prägung“ aufweist (S. 110).

Der mehr oder weniger offensichtliche Rassismus der Emma ist hinlänglich bekannt: Im Zuge einer eindimensionalen feministischen Analyse werden weitere Kategorien wie race, class, ‚Ethnizität‘ ignoriert. Insofern ist es nicht verwunderlich, feststellen zu müssen, dass dieser westlich-abendländische „Aufklärungsfundamentalismus“ (S. 112) nicht nur orientalistische Islamdiskurse unterstützt, um die eigene Position zu stärken, sondern auch eine gewisse Anschlussfähigkeit an imperial-rassistische Politiken aufzeigt. Doch erst die Perspektivierung dieser Debattenbeiträge im Zuge einer zusammenhängenden Okzidentalismuskritik erhellt deren systemstabilisierende Bedeutung. Insbesondere Gabriele Dietze verdeutlicht in ihrem einleitenden Beitrag, wie der Okzidentalismus, als Meta-Rassismus von Eliten verstanden, sich an der Figuration der vermeintlich unterdrückten Muslimin offenbart. Ihre Ausführungen zum „okzidentalistischen Geschlechterpakt“ (S. 33) resümieren pointiert die Schräglage, die der (christlich-westlichen) Gleichsetzung von Nacktheit und Freiheit im Unterschied zu Bedecktheit und Unterwerfung (der Frau) zugrunde liegt, insofern der Fokus auf die Unterdrückung der verschleierten ‚Orientalin‘ das Sichtbarkeitsregime der Nacktheit der ‚Okzidentalin‘ ausblendet (vgl. Christina von Braun, Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. Berlin 2007). Die ,Kopftuchfrau‘ erscheint als „verkörpertes Emanzipationsdefizit“, über das „die Berechtigung und Notwendigkeit einer Emanzipation“ (S. 35 f.) zwar anerkannt wird, die okzidentale Frau erscheint in diesem Zug jedoch nicht nur als bereits vollständig gleichberechtigt, sondern verzichtet aufgrund ihrer Privilegierung im Gegenzug auch auf weitere „nervende Gerechtigkeits- und Gleichheitskämpfe“ (S. 36), wie sie beispielsweise im Hinblick auf ungleiche Lohnzahlungen oder die frappante Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen dringend erforderlich wären. So deckt Dietze auf, wie es gelingt, in Anbetracht der Kopftuch tragenden (Neo-)Muslima den abendländischen Emanzipationserfolg der okzidentalen Frau zu inszenieren, so dass die ,Kopftuchfrau‘ als „apotropäisches […] Zeichen fühlbarer, aber nicht anerkannter westlicher Emanzipationsdefizite“ lesbar ist. (S. 37)

Fazit

Die überwiegende Mehrzahl der Beiträge begeistert durch das hohe theoretische Niveau, mit dem der Komplexität der wechselseitigen Hervorbringungen begegnet wird. Die Tagungsbeiträge wurden hierfür stark ausgesiebt und durch die Übersetzung weiterer einschlägiger Texte aus dem Englischen (Coronil) ergänzt. Der Band erhält dadurch insgesamt eine programmatische Ausrichtung, die das formulierte Anliegen Dietzes, die Okzidentalismuskritik als Forschungsperspektive nachhaltig zu etablieren, einlöst. Die Auswahl der Beiträge weist jedoch einen (textanalytischen) Schwerpunkt auf, der den Fokus nicht so sehr auf Bilderpolitiken richtet, obwohl es doch gerade auch ein visuelles (Schlacht-)Feld ist, auf dem sich der Okzidentalismus inszeniert. Dies ist insofern ein wenig bedauerlich, da die vorliegende Okzidentalismuskritik ein hervorragendes Instrumentarium bietet, um die gegenwärtig zu beobachtenden Inszenierungen des Okzidents über die Abgrenzung zu einem vermeintlich bedrohlichen Orient in ihrer ganzen – eben auch bilderpolitischen – Komplexität zu analysieren.

URN urn:nbn:de:0114-qn112256

Juniorprof. Dr. Melanie Ulz

Universität Osnabrück

Juniorprofessorin für Kunstgeschichte am Kunsthistorischen Institut

E-Mail: melanie.ulz@uni-osnabrueck.de

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