Ulrike Klöppel:
XX0XY ungelöst.
Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität.
Bielefeld: transcript Verlag 2010.
695 Seiten, ISBN 978-3-8376-1343-8, € 39,80
Abstract: Ulrike Klöppel führt in ihrer materialreichen Studie vor, dass Hermaphroditismus für die Medizin immer wieder Anlass war, sich mit der Vielfalt der das Geschlecht bestimmenden Faktoren – Gestalt und Form der Genitalien, Chromosomengeschlecht, Keimdrüsengeschlecht (Hoden vs. Eierstöcke), Hormonhaushalt, Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität – zu befassen und zu versuchen, Geschlechtszugehörigkeiten verbindlich festzulegen. Neben einem historischen Teil, der vor allem die Medizingeschichte der Frühen Neuzeit, der Aufklärungszeit und des 19. Jahrhunderts in den Blick nimmt, wird im zweiten Teil der Arbeit der Zusammenhang zwischen der Formierung des gender-Konzepts und dem damit verbundenen Paradigmenwechsel in der Behandlung von Intersexualität dargestellt.
Bei dem vorliegende Buch handelt es sich um eine historische Studie zur Intersexualität, die den medizinischen Diskurs zur Zwischengeschlechtlichkeit von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart beleuchtet und darlegt, inwieweit die Entwicklung des gender-Konzepts in den 1950er Jahren an der Johns Hopkins University mit der Auseinandersetzung um Intersexualität in Verbindung steht. Ein derart umfangreiches Werk, in dem Hermaphroditismus auf der Schnittstelle zwischen Medizin- und Wissenschaftsgeschichte sowie Gender- und Queer-Studies untersucht wird, kann mit sehr unterschiedlichem Erkenntnisinteresse gelesen werden. Die vorliegende Rezension fragt danach, inwieweit XX0XY ungelöst dabei helfen kann, aktuelle Auseinandersetzungen um Intersexualität besser zu verstehen, und inwieweit es möglich ist, das vermittelte Wissen für die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit dem Thema nutzbar zu machen.
Übergreifend für die gesamte Medizingeschichte stellt Ulrike Klöppel fest, dass in den Diskursen über Geschlecht der Hermaphrodit als Grenzgestalt der Geschlechterordnung fungiere, an dem die Notwendigkeit strenger Geschlechtergrenzen verdeutlicht werde. Grundlage dieser Wahrnehmung geschlechtlicher Uneindeutigkeit sei immer ein – mehr oder weniger eng gefasstes – Bild einer prinzipiellen Zweigeschlechtlichkeit. Sowohl die Versuche einer Einordnung der zwischengeschlechtlichen Menschen in diese Geschlechterdichotomie als auch das jeweilige Behandlungsvorgehen orientieren sich laut Klöppel stark an den jeweils geltenden Geschlechts- und Sexualitätsnormen. Grundsätzlich könne man in der Medizin zwei Problematisierungsweisen beobachten: zum einen ein Forschungsinteresse an der wissenschaftlich korrekten Definition von Hermaphroditismus und in diesem Zusammenhang von Geschlecht allgemein, zum anderen die Frage nach den seelischen Nöten der Betroffenen bei falscher Geschlechtszuordnung und Behandlung.
Die Autorin möchte in ihrer Arbeit die Herkunft des gender-Konzepts, das eng mit der Behandlung von zwischengeschlechtlichen Menschen seit den 1960er Jahren verzahnt ist, und seine historischen Voraussetzungen näher beleuchten. Dabei liegt ihr Schwerpunkt auf den medizinischen und psychologischen Fachpublikationen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Thema Intersexualität, die unter geschlechtergeschichtlichen Gesichtspunkten untersucht werden. Umfassende historische Überblicksarbeiten zum deutschsprachigen medizinischen Hermaphroditismus-Diskurs fehlten bisher, wodurch mit der intensiven Analyse der deutschsprachigen medizinischen Publikationen zum Hermaphroditismus aus dem Zeitraum von 1945 bis 1980 eine wichtige Forschungslücke geschlossen werde. Die Vielzahl von Publikationen zum Thema verglichen mit der relativen Seltenheit der Phänomene dient Klöppel als Beleg für ihre These, dass an Intersexualität grundsätzliche Fragen von Geschlechtlichkeit verhandelt werden. Intersexualität diene dazu, das Geschlechterwissen zu modifizieren und auf diese Weise flexibel zu halten. Der Medizin komme in diesem Prozess die Funktion eines gatekeepers der Geschlechterordnung zu. Dabei liegt Klöppels Hauptfokus auf den „Problematisierungsweisen, in deren Horizont geschlechtliche Uneindeutigkeit diskursiviert“ wird und die sie als „strategische Konfigurationen“ auffasst (S. 93). Hierfür bezieht sich die Autorin auf Foucaults Konzept der Problematisierung und versucht, der Frage nachzugehen, anhand welcher Mechanismen der geschlechtlich uneindeutige Körper zu einem medizinischen und psychologischen Problem gemacht wird, das Expertenlösungen erfordert. Ziel ihrer Arbeit sei es, dazu anzuregen, die medizinisch-psychologische Problemdefinition zu überwinden, damit „die betroffenen Menschen selbst darüber bestimmen können, ob und wenn ja, welche Probleme vorliegen und wie sie angegangen werden sollten“ (S. 82).
Im ersten Teil ihrer Arbeit, der stärker historisch ausgerichtet ist, geht Ulrike Klöppel genauer auf die Situation in der Frühen Neuzeit, der Aufklärungszeit, dem späten 19. sowie dem frühen 20. Jahrhundert ein. Die Autorin legt dar, dass Hermaphroditen in der Frühen Neuzeit als doppelgeschlechtliche Mischgestalten galten, denen eine eigene Geschlechtlichkeit zuerkannt wurde. Diese Verortung jenseits einer bipolaren Geschlechterordnung wird von Klöppel mit dem Geschlechterbild hippokratisch-galenischen Ursprungs in Verbindung gebracht, welches – im Gegensatz zum aristotelischen Modell – von einem fließenden Übergang zwischen männlich und weiblich bzw. von einem Kontinuum der Geschlechter ausgegangen sei. Neben der Darstellung dieser verschiedenen Geschlechterkonzepte verweist Klöppel darauf, dass Hermaphroditen in der Frühen Neuzeit als Monster und somit als Objekte galten, an denen Grenzziehungen (z. B. zwischen Mensch und Tier, in diesem Fall zwischen Mann und Frau) verhandelt oder bestätigt werden konnten. Dieser Hinweis ist insofern gewinnbringend, da der Versuch genau dieser Grenzziehungen bis heute die medizinische Auseinandersetzung mit Intersexualität prägt.
In der Aufklärung komme es laut Klöppels Ausführung zu entscheidenden Veränderungen, da hier die Medikalisierung des Hermaphroditismus einsetze. Die Autorin beleuchtet eingehend, wie diese Entwicklung – wie auch die zeitgleiche Medikalisierung der Geburt – Zwitter immer stärker unter medizinische Kontrolle und Intervention gestellt habe. Bedingt durch diese Entwicklungen habe sich in der Aufklärung die Idee eines prinzipiellen Geschlechtsdimorphismus durchgesetzt, wodurch der Zwitter zu einem abweichenden, unvollkommenen, jedoch in Wahrheit männlichen bzw. weiblichen Individuum erklärt worden sei. Hier zeigt sich der Leserin, wo die Ursprünge einer bis heute geltenden Sichtweise der Medizin auf zwischengeschlechtliche Menschen liegen. Nach dem Paradigmenwechsel der Aufklärung bilde in den darauf folgenden Epochen die Suche nach dem ‚wahren‘ Geschlecht das wesentliche Forschungsinteresse der Medizin, und Klöppel zeigt, wie neue Erkenntnisse – zum Beispiel die Sexualhormonforschung oder Forschungen zur psychosexuellen Entwicklung und zum Geschlechtstrieb – stets in Wechselwirkung mit der Beschäftigung mit Zwischengeschlechtlichkeit standen. Mit dem 20. Jahrhundert finde auch der Aspekt der psychosozialen Anpassung immer stärkere Berücksichtigung. Laut Klöppel rückt hier die psychische Gesundheit als Behandlungsziel in den Vordergrund, wobei die Autorin deutlich macht, wie sehr diese psychische Gesundheit mit den geltenden Geschlechter- und Sexualitätsnormen in Verbindung steht. Durch die historische Untersuchung tritt deutlich hervor, dass Hermaphroditismus für die Medizin immer wieder Anlass war, sich mit Geschlechtermodellen sowie der Vielfalt der das Geschlecht bestimmenden Faktoren – Gestalt und Form der Genitalien, Chromosomengeschlecht, Keimdrüsengeschlecht (Hoden vs. Eierstöcke), Hormonhaushalt, Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität – zu befassen und mit Einsetzen der Aufklärung zu versuchen, anhand des jeweiligen Wissensstandes Geschlechtszugehörigkeiten verbindlich festzulegen.
Der zweite Teil der Arbeit hat eine stärker geschlechterwissenschaftliche Ausrichtung und beschäftigt sich eingehend mit den Jahren 1945–1980. Hier rücken auch die Behandlungsmethoden und -begründungen stärker in den Fokus der Untersuchung. In den 1950er Jahren sei die mehrheitlich anerkannte Behandlungsweise in Deutschland die Orientierung am ‚subjektiven Geschlecht‘ gewesen. Man habe in dieser Zeit dafür plädiert, für Behandlungen die Pubertät abzuwarten, um das sich bis dahin ausgebildete Geschlechtsempfinden der betroffenen Person berücksichtigen zu können, bevor operative und hormonelle Maßnahmen ergriffen werden. Die psychosexuelle Entwicklung sei nicht vorhersehbar, weswegen die Gefahr einer Fehlentscheidung groß sei, wenn man bereits in den ersten Lebensjahren in eine bestimmte Richtung ‚vereindeutige‘. Einzelne Vertreter der Medizin seien in dieser Zeit zu der Einsicht gekommen, „daß es in Anbetracht der Vielschichtigkeit der menschlichen Geschlechtlichkeit kein sicheres Kriterium für das ‚wahre‘ Geschlecht gibt.“ (S. 403)
Dem gegenüber gehe das in den 1950er Jahren am Johns Hopkins Hospital in Baltimore unter John Money etablierte Behandlungsmodell davon aus, dass die Geschlechtsidentität eines jeden Menschen einer frühkindlichen Prägephase unterliege. Im Zeitfenster der ersten beiden Lebensjahre bilde sich die gender identity aus und sei für den Rest des Lebens fixiert. Flexibel sei lediglich die gender role. Für die stabile Ausbildung der gender identity müssten wesentliche Faktoren erfüllt sein: Da Erziehung eine zentrale Rolle spiele, sei es wichtig, dass die Eltern eine unzweifelhafte Sicherheit über die geschlechtliche Zugehörigkeit ihres Kindes hätten. In diesem Zusammenhang dienten die Genitalien sowohl den Eltern als auch dem Kind als Zeichen, aus dem die Geschlechtszuordnung abgeleitet werde. Dementsprechend seien eindeutig männliche bzw. eindeutig weibliche Genitalien von basaler Wichtigkeit für die Ausbildung einer gesunden Psychosexualität. In dieser Betrachtungsweise kommt für die Autorin eine grundlegende Neuorientierung zum Ausdruck: „Kein Arzt, keine Ärztin war je soweit gegangen, die chirurgisch-hormonelle Vereindeutigung des Körpers des intersexuellen Kindes als unerlässliche Behandlungsmaßnahme zu propagieren und als planmäßige Manipulation der psychosexuellen Entwicklung darzustellen: Die Vorstellung, die Entwicklung der Psychosexualität durch die chirurgisch-hormonelle Normierung des Körpers normalisieren zu können, war tatsächlich etwas Neues.“ (S. 325)
Klöppel verdeutlicht im weiteren Verlauf ihrer Untersuchung, wie die von Money und seiner Gruppe ausgehenden Impulse ein chirurgisch-hormonelles Behandlungsmodell der geschlechtlichen Normierung im Kindes- bzw. Säuglingsalter nach sich gezogen haben. Als geschlechtlich ‚eindeutig‘ klassifizierbare Genitalien würden seitdem als Voraussetzung einer gelingenden Geschlechtsidentifikation und diese wiederum als Fundament psychischer Stabilität und Normalität gelten. Das Fehlen einer solchen eindeutigen, stabilen Geschlechtsidentität werde im medizinischen Diskurs als psychische Katastrophe dargestellt und als pathologischer, im Grunde nicht lebbarer, inhumaner Zustand verworfen. Das Recht zwischengeschlechtlicher Menschen auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit werde durch diese Praktiken maßgeblich verletzt. In den letzten Jahren habe die Medizin zwar zaghaft begonnen, diese Behandlungspraxis zu hinterfragen. Von einer klaren Abkehr könne jedoch keine Rede sein.
Klöppel zeigt auf der einen Seite, dass die Bestrebungen, das ‚wahre‘ Geschlecht intersexueller Menschen zu bestimmen, bis in die Aufklärung zurückreichen und dass man für die Idee von Intersexualität als nicht behandlungsbedürftiger, eigener Geschlechtlichkeit bis in die Frühe Neuzeit zurückgehen muss. Auf der anderen Seite macht sie deutlich, dass vor nicht einmal 60 Jahren in Deutschland Behandlungsmethoden vorherrschten, die den Forderungen der Intersexuellen-Bewegung sehr viel näher liegen als das gegenwärtige Vorgehen. Zwar wurden auch in dieser Zeit medizinisch nicht nötige Genitaloperationen durchgeführt, aber immerhin wurde damit so lange gewartet, bis die betreffenden Menschen selber mit einbezogen werden konnten. Auch positivere Aufklärungskonzepte waren in dieser Zeit vorhanden.
Eine große Stärke der Arbeit liegt darin, dass Entwicklungslinien im medizinischen Diskurs sehr detailliert geschildert werden. Gerade für das 20. Jahrhundert zeichnet Ulrike Klöppel die verschiedenen fachlichen Diskussionsstränge sehr genau anhand einzelner Protagonistinnen und Protagonisten nach.
Kritisch ist anzumerken, dass Teil I und Teil II der Studie etwas unverbunden nebeneinander stehen. Auffällig ist, dass der Zeitraum von 1945–1980 (Teil II) mehr Raum einnimmt als die Untersuchung des gesamten Zeitraums von der Frühen Neuzeit bis zum beginnenden 20. Jahrhundert (Teil I). Dies macht die Zielsetzung des Buches unklar. Bei einem historischen Überblick („Von den Anfängen bis zur Gegenwart“) wäre eine solch ungleiche Gewichtung einzelner Zeitabschnitte nur schwer zu rechtfertigen. Besteht das Hauptanliegen des Buches aber darin, den Paradigmenwechsel im 20. Jahrhundert und die Verzahnung von Moneys gender-Konzept mit Intersexualität darzulegen, für die die historische Untersuchung lediglich als Einbettung dient, wäre der erste Teil zu ausführlich geraten. Eine Entscheidung für das eine oder andere Konzept hätte zudem den Vorteil gehabt, das Buch etwas zu straffen und somit leichter lesbar zu machen.
Ein Aspekt kommt bei aller Ausführlichkeit der Studie aber doch etwas zu kurz: Für ein besseres Verständnis von Moneys Theorie der Irreversibilität der frühkindlich erlernten Geschlechtsrolle wären genauere Darstellungen zum Modell der psychosexuellen Entwicklung hilfreich gewesen. Auch wäre es wünschenswert, wenn die Autorin deutlicher darauf eingegangen wäre, welche Konsequenzen das Scheitern von Moneys Konzept jenseits der Debatte um Intersex für den Streit zwischen biologischer und sozialer Bedingtheit von gender hatte und hat.
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Buch eine Fülle von Informationen und gewinnbringenden Überlegungen für die Geschlechterforschung, die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte sowie die Beschäftigung mit Intersexualität insgesamt enthält und somit für alle an diesen Forschungsfeldern interessierten Menschen sehr lesenswert ist. Die Lokalisierung eben dieser spezifischen Informationen ist allerdings nicht immer leicht, und so ist ein gewisses Durchhaltevermögen nötig, um sich die 600 Seiten Text zu erarbeiten.
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