Uwe Schmidt, Marie-Theres Moritz:
Familiensoziologie.
Bielefeld: transcript Verlag 2009.
155 Seiten, ISBN 978-3-89942-671-7, € 11,50
Abstract: Das Buch gibt einen Überblick über die Entwicklung der Familiensoziologie. Ausgangspunkt ist die Präsentation von drei zentralen soziologischen Theorien und deren Anwendung in der Familiensoziologie. Die gewählten inhaltlichen Gegenstandsbereiche beziehen sich auf Familien- und Lebensformen, das soziale und ökologische Umfeld von Familien, Geschlechterbeziehungen und die Sozialisation der nachwachsenden Generation. Zu jedem dieser familiensoziologischen Themen wird zunächst jeweils ein Überblick über die Entwicklung der Debatten sowie über den gesellschaftlichen Wandel im jeweiligen Feld gegeben. Die Betrachtung aktueller Gegebenheiten rundet die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Forschungsgegenstand ab, wobei dieser Aspekt jedoch jeweils knapper ausfällt als die Retrospektive.
Der Band stammt aus der Reihe: „Einsichten. Themen der Soziologie“, die lt. Verlagsinformation u. a. den Anspruch verfolgt, „eine zunehmend unübersichtliche Disziplin über sich selbst zu informieren“ . Familiensoziologie ist eine Teildisziplin der Soziologie, bei der dies aufgrund unterschiedlicher methodischer Zugänge und vielfältiger thematischer Aspekte – diese fungieren quasi als eigenständige Forschungsbereiche – lohnenswert und notwendig erscheint. Uwe Schmidt und Marie-Theres Moritz meistern diese Herausforderung.
Die Ausführungen des ersten Kapitels zu den theoretischen Ansätzen der Familiensoziologie umfassen den Strukturfunktionalismus, die interpretativen Paradigen von symbolischem Interaktionismus und Ethnomethodologie sowie die ökonomisch orientierten Traditionen von rational-choice- und Austauschtheorien. Nach Schmidt und Moritz bieten die genannten Ansätze folgende Perspektiven auf Familie:
Der strukturfunktionalistische Ansatz thematisiert Familie als Teilsystem einer Gesellschaft und in ihrer Funktion für deren Aufbau und Erhalt. Fortpflanzung, Generationenunterschied und Geschlechterdifferenzierung sind zentrale Stichworte. Entlang der Generationenunterschiede entwickele sich ein hierarchisches System, durch die instrumentalen Rollen von Frauen und Männern erfüllten sie ihre expressive Funktion. Harmonie und Solidarität, die nach den theoretischen Annahmen hieraus resultieren, führen zu familialer Solidarität und gesellschaftlicher Ordnung und sorgten für den kulturellen und strukturellen Bestand einer Gesellschaft.
Die mit der Industrialisierung und mit modernen Gesellschaftssystemen einhergehende Differenzierung und Reduktion der Kernfamilie wurde in der Familiensoziologie und gesellschaftlich als Funktionsverlust bzw. als Funktionswandel und -entlastung strittig diskutiert, was zu auch heute noch aktuellen Debatten über den Stellenwert familienunterstützender Maßnahmen führte. Insbesondere die Institutionalisierung von Erziehung und Bildung der nachwachsenden Generation betraf eine zentrale familiale Funktion. Auch die Alterssicherung konnte familial nicht mehr gewährleistet werden.
Der Symbolische Interaktionismus setzt ein theoretisches Gegengewicht, indem die Akteure ins Zentrum gerückt werden. Menschen konstruieren ihre eigene symbolische Welt und reagieren auf diese. Bezogen auf Familien bedeutet dies, dass Familie durch die Interaktionsprozesse ihrer Mitglieder, ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihr Handeln entsteht und zusammengehalten wird. Der familiale Alltag mit seinen Interaktionsprozessen, Kommunikationsstrukturen und Aushandlungsprozessen spielt in dieser Perspektive eine wichtige Rolle.
Der dritte präsentierte theoretische Ansatz, die rational-choice-Theorie, geht davon aus, dass jeder bzw. jede einzelne durch eine Kosten-Nutzen-Abwägung verschiedener Handlungsalternativen versucht, eine individuelle Nutzenmaximierung zu erzielen. Diese Theorie findet u. a. in der Erklärung von Partnersuche, Fertilitäts- und Heiratsentscheidungen, Erwerbsbeteiligung Anwendung. Die familiensoziologische Argumentation dieses Ansatzes wird von Schmidt und Moritz beispielhaft für das Fertilitätsverhalten dargestellt. In einer Erweiterung der Theorie werden auch unreflektierte Handlungen und Emotionen berücksichtigt. Sogenannte „frames“, ein zentraler Begriff dieses theoretischen Ansatzes, erleichtern das Handeln und Entscheidungen in alltäglichen Situationen.
Es ist Schmidt und Moritz gelungen, die drei soziologischen Theorien in ihrer historischen Entwicklung, ihrer wechselseitigen Beeinflussung und ihren Hauptvertreter/-innen kurz und prägnant und trotzdem in sehr verständlicher Form vorzustellen. Hinweise auf Beschränkungen, kritische Einwände runden die Darstellung gelungen ab. Als Ergänzung hätten Hinweise auf neuere theoretische Zugänge, wie z. B. den Lebensverlaufsansatz, das Bild vervollständigt.
In den beiden anschließenden Kapiteln 2 und 3 befassen sich Schmidt und Moritz mit dem strukturellen gesellschaftlichen Wandel von Familie und privaten Lebensformen sowie dem sozialen Umfeld von Familien. Es wird zunächst ein Überblick über den Wandel der Lebensformen gegeben. Indem die Differenzierung nach den Dimensionen Partnerschaft und Elternschaft erfolgt und historische sowie längsschnittliche Veränderungen im Lebenslauf in die Darstellung Eingang finden, können die historische und individuelle Relativität von Lebensformen und ein vielfältiges Zusammenspiel im Lebenslauf gezeigt werden. An diese Darstellung knüpft konsequent die Diskussion um Pluralisierung und Individualisierung an, wonach die Gestaltung des Lebenslaufs stärker in die Eigenverantwortung der Individuen übergeht. Inwieweit dies individuell freie Entscheidungen sind oder sie in Beziehung zu strukturellen Erfordernissen stehen, inwieweit es sich um ein historisches neues und alle sozialen Gruppen umfassendes Phänomen handelt, wird kritisch unter Verweis auf die Standpunkte verschiedener Autoren hinterfragt. Der Wandel privater Lebensformen wird konkretisiert, indem Veränderungen im Eintreten und in der zeitlichen Lagerung zentraler Lebensereignisse über mehrere Jahrzehnte aufgezeigt werden. Exemplarisch wird – trotz erforderlicher Knappheit – differenziert und prägnant eine Übersicht über Forschungsergebnisse zu Ehescheidungen und Fertilität gegeben und in ihrer Bedeutung für den Wandel diskutiert. Die Lebensformen „Nichteheliche Lebensgemeinschaft“, „Alleinerziehende“ und „Alleinlebende“ werden in einem historischen Rückblick in ihrer Neuheit relativiert sowie in der Begrifflichkeit kritisch beleuchtet.
Im Kapitel „Das soziale Umfeld von Familien“ bildet die These von der isolierten Kernfamilie den Ausgangspunkt. Annahmen der strukturfunktionalistischen Theorie und Auffassungen über die gesellschaftliche Funktion von Familie aus dem Theoriekapitel werden dabei aufgegriffen. Ausgehend von einem verringerten Verpflichtungscharakter zwischen den Generationen und innerhalb der Verwandtschaft erfolge eine „strukturelle Privatisierung“ (S. 72) , eine Herauslösung der Familie aus ihren gesellschaftlichen Bezügen als Folge der Individualisierung. Mit den 1980er Jahren gewinnen Konzepte der Netzwerkforschung und ökologischen Familienforschung an Gewicht. Die Darstellung beider Ansätze bietet eine detaillierte Übersicht über Forschungsergebnisse seit den 1950er Jahren.
Die Entwicklung wird – wie im gesamten Buch – auf wohltuende Weise strukturiert dargestellt und in kritischer Gegenüberstellung der Standpunkte unterschiedlicher Autor/-innen beleuchtet. Auffallend ist jedoch, dass die zitierten Publikationen überwiegend aus der Zeit vor der Jahrtausendwende stammen. Zwar werden auch für die unmittelbar zurückliegenden Jahre einige Zahlen angeführt, jedoch entsteht auf der Grundlage der Rezeption von Entwicklungstendenzen und Forschungslinien kein Gesamtbild. Eine Einschätzung, dass z. B. Lebensformen und Lebensereignisse in der Forschung zurzeit nicht mehr im Vordergrund stehen und stattdessen eine Hinwendung zu spezifischen Aspekten der Lebenssituation, zu speziellen Lebensformen sowie zum intrafamilialen Umgang der Generationen erfolgen, wäre wünschenswert und hilfreich für einen Einstig in die gegenwärtige Familiensoziologie gewesen.
Mit den Geschlechterbeziehungen (Kapitel 5) und der familialen Sozialisation (Kapitel 6) werden innerfamiliale Prozesse beleuchtet. Schmidt und Moritz nehmen die Geschlechterbeziehungen im Licht der aktuellen Forschungslandschaft überwiegend als konflikthafte Arrangements von Rollen und Aufgaben wahr. In den 1950er Jahren wurde postuliert, dass patriarchal verfasste Familien mehr Stabilität gewährleisten. Dem Thema der ehelichen Machtstrukturen als „kontinuierliche[r] Universalie“ (S. 94) räumen die Autor/-innen einen relativ breiten Raum ein und diskutieren die Nähe zu Gewalt. Die tiefgreifenden Veränderungen in jüngerer Zeit und in jüngeren Generationen werden vor dem Hintergrund eines veränderten Rollenverständnisses von Frauen, ihrer Erwerbspartizipation, von kulturellen Veränderungen und einer Abkehr von patriarchalen Prinzipien diskutiert. Veränderungen im Verhalten von Männern und Vätern werden gestreift.
Familiale Sozialisation wird – nach einer Begriffsbestimmung mit Verweis auf verschiedene Autoren – ausgehend von den 1970er Jahren schichtspezifisch und in ihrer Bedeutung im bildungspolitischen Kontext thematisiert. Die berufliche Stellung sowie der Beruf des Vaters und die schichtspezifischen Sprachcodes waren zur damaligen Zeit zentrale Dimensionen der Betrachtung. Die sich in der Forschung anschließende kritische Auseinandersetzung mit diesem Konzept wird ausführlich dargestellt. Aber auch hier werden, wie bei den Lebensformen, der Perspektivwechsel und der aktuelle Forschungsstand, etwa mit dem Kind als Akteur und die Bedeutung der Ressourcen und der Umwelt, nur knapp angerissen.
Dieser Band ist Studierenden der Soziologie, die sich einen Überblick über die Forschungstradition, den Wandel der Forschungsthemen und der Forschungsmethoden der Familiensoziologie verschaffen wollen, sehr zu empfehlen. Das breite Spektrum ist klar strukturiert, die zentralen Forschungsfelder in ihrer jeweiligen Entwicklung und mit ihren wesentlichen Vertretern bzw. Vertreterinnen kurz und trotzdem differenziert dargestellt. Das Kapitel zu den theoretischen Ansätzen der Familiensoziologie sei hier besonders hervorgehoben. Die Zusammenschau der vielfältigen Bereiche stellt auf nur ca. 120 Seiten eine gelungene Übersicht dar und ist in sprachlich verständlicher Form verfasst.
Die Literatur bezieht sich überwiegend auf die Zeit bis in die 1990er Jahre. Die Entwicklungen seit der Jahrtausendwende sind in meinen Augen in jedem der Forschungsfelder etwas kurz geraten. Die Darstellung bezieht sich zudem ausschließlich auf Westdeutschland. Die an interpretativen Paradigmen ausgerichtete qualitative Familienforschung, die am Familienalltag und den Elternrollen ansetzt, findet keinen Eingang – sie spielt zugegebenermaßen in der Familiensoziologie auch keine zentrale Rolle.
URN urn:nbn:de:0114-qn112054
Dr. Angelia Tölke
Deutsches Jugendinstitut e.V.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
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