Jugendliche Lebenswelten und Lebensentwürfe im gesellschaftlichen Wandel

Rezension von Petra Gruner

Heinz-Hermann Krüger, Gunhild Grundmann, Catrin Kötters (Hg.):

Jugendliche Lebenswelten und Schulentwicklung.

Ergebnisse einer quantitativen Schüler- und Lehrerbefragung in Ostdeutschland.

Opladen: Leske+Budrich 2000.

287 Seiten, ISBN 3–8100–2695–6, DM 48,00 / SFr 44,50 / ÖS 350,00

Catrin Kötters:

Wege aus der Kindheit in die Jugendphase.

Biographische Schritte der Verselbständigung im Ost-West-Vergleich.

Opladen: Leske+Budrich 2000.

314 Seiten, ISBN 3–8100–2580–1, DM 54,00 / SFr 49,00 / ÖS 394,00

Barbara Keddi, Patricia Pfeil, Petra Strehmel, Svendy Wittmann:

Lebensthemen junger Frauen – die andere Vielfalt weiblicher Lebensentwürfe.

Eine Längsschnittuntersuchung in Bayern und Sachsen.

Opladen: Leske+Budrich 1999.

244 Seiten, ISBN 3–8100–2263–2 , DM 39,00 / SFr 36,00 / ÖS 285,00

Abstract: Forschungen zur Sozialisation Jugendlicher in den neuen Bundesländern haben seit 1990 Hochkonjunktur. Da ist zum einen die Frage nach der Anpassung ostdeutscher Jugendlicher an bundesdeutsche Verhältnisse: die Rede ist vom „Individualisierungsschock“ für Kinder und Jugendliche, von alarmierender Jugendgewalt oder von der „verlorenen Zukunft“ für Mädchen und Frauen. Zum anderen sind da die jeweils neuen Versuche der „Erwachsenengeneration“, die (als defizitär eingestuften) Wertvorstellungen und Orientierungen der Jüngeren auf Begriffe zu bringen: „Werteverlust“, „Politikverdruss“, „Bindungsunfähigkeit“ usw. Weil das Interesse an der jungen Generation schon immer groß war – „Wer die Jugend hat, hat die Zukunft“ (H. Lietz) – stehen Forschungen über jugendliche Lebenswelten und Wertvorstellungen in einer langen Tradition. In diesem Kontext sind auch die hier besprochenen Studien zu verorten. Ihr gemeinsames Thema ist die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen unter den Bedingungen gesellschaftlichen Wandels.

Lehrerfrust + Schülerfrust = Gewalt?

Die Studie von Krüger, Grundmann und Kötters bietet Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das 1997–1999 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auf der Basis einer Befragung von 950 Schülern zwischen 10 und 15 Jahren und von 200 Lehrerinnen und Lehrern in Sachsen-Anhalt durchgeführt wurde. Der innovative Zugang der Untersuchung besteht darin, dass sie Fragestellungen der Kindheits- und Jugendforschung mit denen der Schulforschung verbindet: Sie behandelt „das komplexe Interdependenzverhältnis zwischen Elternhaus und Schule, die Zusammenhänge zwischen jugendkulturellen und schulischen Orientierungen, das Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen außerhalb und in der Schule sowie das Gewaltverhalten und die Gewaltorientierung von Schülern und deren schulische sowie außerschulische Bedingungen“ (S. 9). Die Studie gliedert sich in drei Abschnitte: Im Kapitel 1 wird der methodische Ansatz erläutert. Das zweite Kapitel widmet sich dem Thema Schule „im Spannungsfeld zwischen Familie und Jugendkulturen“. Im dritten Kapitel werden mit den Themen „Schulqualität, Schulklima, Schulprofile“ aktuelle Fragen der Schulentwicklungsforschung aufgegriffen. Der Rahmen ist also sehr weit gesteckt, und das Besondere der Studie, dies sei vorweggenommen, sind weniger die Detailergebnisse als die interdisziplinäre Herangehensweise und die Zusammenschau der Ergebnisse. Der Einfluss von Schulerfolg bzw. -misserfolg auf Selbstbilder von Jugendlichen ist ebenso bekannt wie deren Abhängigkeit vom „Sozialisationskontext Familie“. Dass aber z. B. eine (größer werdende) Gruppe von Jugendlichen „durch eine Kumulation von Risiken“ (S. 72) bedroht ist, zeigt erst die Perspektive auf beide Sozialisationsfelder in ganzer Schärfe.

Die Frage nach den Ursachen der Jugendgewalt macht jugendkulturelle Stile und Gruppierungen zu einem Untersuchungsschwerpunkt. Das Spektrum der Orientierungen, so ein Ergebnis, hat sich auch in Ostdeutschland stark pluralisiert, ohne dass diese eindeutig bestimmten sozialen Milieus zuzuordnen sind. Der Stellenwert der schulischen Sozialisation ist teilweise überraschend: So zeigen Sympathisanten „soziokultureller Protestbewegungen“ ein positives Verhältnis zur Schule und zum eigenen schulischen Leistungsvermögen, während Anhänger der linken Jugendszenen zwar gute Schulleistungen aufweisen, aber die Schule nicht mögen. Die größte Distanz zur Schule findet sich bei den Sympathisanten rechter Jugendszenen mit schlechten Leistungen und entsprechend negativen Selbstbildern – gerade sie sind es jedoch, die schulische Freizeitangebote am stärksten nutzen!

Dass die Schule noch immer soziale Ungleichheiten verstärkt, zeigt der Befund, dass zwar die Mehrzahl der untersuchten Schulen „auf den Zusammenbruch des staatlich organisierten Freizeitsystems“ der DDR „konstruktiv mit dem Aufbau eines thematisch vielfältigen und breiten Angebots an außerunterrichtlichen Freizeitmöglichkeiten für die Schüler reagiert“ habe, aber Gymnasien ihren Schülern „deutlich mehr kulturelle und bildungsorientierte“ Freizeitangebote unterbreiten als andere Schulformen (S. 144). Eher trivial scheinen hingegen Erkenntnisse wie die, dass die Nutzung der Freizeitangebote vom Schulklima und von positiven „Interaktionsbeziehungen“ von Schülern und Lehrern abhängt, oder dass Freizeitangebote stärker an den Interessen der Schüler als an den „Neigungen der Lehrer“ orientiert sein sollten (S. 146).

Insgesamt kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass die Schule durch „ablaufende Integrations- und Desintegrationsprozesse zur Entwicklung von Schülergewalt“ beitrage. Sie könne daher über „eine stärkere Anbindung der Schüler an die Schule, über gewaltvermeidende Umgangsformen und über eine stärkere Berücksichtigung von kindlichen Interessen in Unterricht und Schulleben zur Vermeidung von Schülergewalt beitragen“ (S. 168 f.). Was hindert Schulen nun daran, solche positiven Wirkungen zu entfalten? Da sind zunächst die Lehrer/-innen: 84% der Befragten fühlen sich durch ihr Berufsleben stark belastet, durch die Schulbürokratie und durch Konflikte mit Schülern. Das setze, so die Autor/-innen, deutliche Grenzen für Schülerorientierung und insgesamt für Reformen in der Schule. Lehrer leiden daran, dass „traditionelle Inhalte des bürgerlichen Bildungskanons“ für Schüler an Bedeutung verlieren gegenüber „konkurrierende[n] Wissensbereiche[n]“ wie Computer, Musik, Film oder Werbung, „in denen sich Schüler z. T. besser auskennen als ihre Lehrer“ und die sie zumeist nicht der Schule verdanken (S. 216). Die Reformresistenz der Schule in weiten Bereichen verdanke sich letztlich den geringen Mitwirkungs- und Entscheidungsspielräumen der Lehrer/-innen in schulischen Grundsatzfragen (S. 256). Noch trüber sieht es um die Partizipation von Schüler/-innen aus. Immerhin die Hälfte erlebt die Schule als Ort, „an dem man nur nach Noten beurteilt wird“ (S. 207). An Beteiligungsrechten fehle es vor allem im Kernbereich von Schule: dem Unterricht. Aber selbst in Fragen grundlegender schulischer Werte und Normen, angefangen bei der „Hausordnung“, sei keine Schülerpartizipation gewährleistet. Lehrer/-innenfrust meets Schüler/-innenfrust. Was nun wäre die Alternative? Eine Lösung sehen die Autor/-innen in schulischer „Profilbildung“, die nach ihrer Untersuchung positive Effekte auf die pädagogischen Orientierungen der Lehrkräfte haben und das Engagement in Unterrichtsgestaltung und außerunterrichtlichem Bereich verstärken könnten, und in der Schaffung einer „partizipativen unterrichtlichen Lernkultur“, die „Schulfrust senkt und das Wohlfühlen in der Schule sowie die Lernmotivation verstärkt“ (S. 255).

Dieses „harmonische Miteinander der Schulbeteiligten“ (ebd.) erscheint allerdings eher als Konstruktion eines Idealbildes von Schule, das sehr hoch gesteckt ist. Nachvollziehbar sind zugleich die Bedenken, ob eine „unbegrenzte Verschulung“ jugendlicher Lebenswelten eine Alternative sein kann (S. 146). Es wäre naiv und ginge an der Funktion der Schule ebenso vorbei wie an den Pflichten von Jugendpolitik, aus der Annahme, dass Jugendgruppen als „Ort[e] der sozialen Einbindung für Schüler fungieren, denen die Schule Integration und Anerkennung verweigert“ (S. 169), den einfachen Umkehrschluss zu ziehen, die Schule solle diesen Platz einnehmen. Für eine solche Inanspruchnahme der Schule gibt es ja historische Beispiele, die deutlich die Grenzen und den Preis solcher Versuche zeigen.

Obwohl die Studie nicht als Ost-West-Vergleich angelegt ist, wird deutlich, dass Ergebnisse der westdeutschen Kindheits- und Jugendforschung die Folie der Untersuchung bilden. Dies zu problematisieren, ist hier nicht der Ort, die Notwendigkeit von Ost-West-Vergleichsstudien, um mögliche Besonderheiten ostdeutscher Schulen aufzuklären, liegt jedoch auf der Hand. Zu vieles, u. a. hin und wieder herangezogene Verweise auf bundesweite Ergebnisse, spricht dafür, dass es sich keineswegs um spezifisch ostdeutsche Probleme handelt.

Weiche Landung – Passage von Ost nach West

Aus dem Umkreis des o. g. Forschungszusammenhangs stammt die Studie von Catrin Kötters, die anhand einer Fragebogenerhebung (1993) unter 10–15jährigen in Sachsen-Anhalt und Hessen die Passage Kindheit-Jugend vergleichend untersucht und nach dem Grad „biographischer Verselbständigung“ der Jugendlichen fragt. Sie folgt einem modernisierungstheoretischen Ansatz und charakterisiert den Umbruch in der DDR von 1989/90 als „Modernisierungs- bzw. Individualisierungsschub“, als „Verwestlichung“ und „Freisetzungsprozeß“, der ebenso Zwänge aufbürde wie Handlungsspielräume biete (S. 13). Dem theoretischen Kontext widmet sie das ausführliche 1. Kapitel. Das ist insofern hilfreich, als daraus Anlage der Studie und Interpretation der Ergebnisse verständlicher werden. Ausgangspunkt bilden frühere Studien, die für Jugendliche in der DDR „stark standardisiert(e), […] staatlich vorstrukturiert[e]“ Biographieverläufe, „traditionelle, institutionalisierte Bahnen und Lebenslaufmuster“ konstatieren. Die „Pluralisierung von Lebenslagen“ und die „Individualisierungstendenzen“ seien daher erst nach dem gesellschaftlichen Umbruch relevant geworden (ebd.). Mindestens so spannend wie die Frage nach den vollzogenen Umbrüchen ist die Frage, inwieweit dieses Modernisierungskonzept geeignet ist, jugendliche Lebensverläufe im Ost-West-Vergleich abzubilden. Nach den methodischen Erörterungen (Kapitel 2) folgen die Ergebnisse der Studie. Zu den Einflussfaktoren für die biographische Verselbständigung gehören: sozial- und familial-strukturelle Bedingungen (Kapitel 3), Familienklima und Erziehungsverhalten der Eltern (Kapitel 4) sowie die Bezugsgruppenorientierung (Kapitel 5). Auf der Basis verschiedener Indikatoren (Kapitel 6) entwickelt die Autorin dann vier Typen: 1. die „traditionale, verzögerte Verselbständigung“ (wenig individuiert, starke Elternorientierung); die „moderne Verselbständigung“ (geringere Elternorientierung, ausgeprägte Individuierung); die „traditionale, beschleunigte“ Verselbständigung (innerfamiliales Konfliktpotenzial, aktive Durchsetzungsstrategien) sowie die „hochmoderne Verselbständigung“ (hohe praktische und soziale Verselbständigung und Individuierung). Die Mehrheit der Jugendlichen passieren danach moderne bzw. hochmoderne Verselbständigungswege. Dabei habe sich, so die Autorin, der ehemals starke Ost-West-Unterschied immer mehr abgeschwächt. Insgesamt wiesen dennoch westdeutsche Jugendliche einen „etwas höheren Grad der biographischen Verselbständigung“ auf (S. 278). Besonders die westdeutschen Jungen seien Träger moderner Biographien, aber auch ost- und westdeutsche Mädchen passierten moderne und hochmoderne Wege der Verselbständigung, während die ostdeutschen Jungen das Schlusslicht bilden. Ein Grund für die zeitlich verzögerte Statuspassage ostdeutscher Jugendlicher sei dabei eine stärkere Elternorientierung. Zusammenfassend kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass moderne Verselbständigung neben Chancen auch Risiken und Verluste beinhalte, während eine traditionale Verselbständigung nicht generell Beeinträchtigung bedeute. Gerade die „hochmoderne“ Verselbständigung könne „erhebliche Potentiale von Orientierungslosigkeit und Überforderung beinhalten“ (S. 282). Am Ende deutet die Autorin anhand einer Erhebung von 1997/98 in Sachsen-Anhalt an, dass der Individuierungsvorsprung der westdeutschen Jugendlichen bereits eingeholt sei.

Geschlechtsspezifische Fragestellungen standen, mangels signifikanter Unterschiede, kaum im Blickpunkt der Untersuchung. Jedoch sind Detailergebnisse von Interesse. So ist in Ost und West die Elternorientierung bei Mädchen geringer als bei Jungen. Mädchen sind stärker an der Gleichaltrigengruppe orientiert, verbringen dort eher ihre Freizeit und bewerten deren Klima positiver (S. 172 ff.). Obwohl die elterliche Ausgehkontrolle bei Jungen früher entfällt (S. 197), besuchen Mädchen früher eine Diskothek (S. 189), und ostdeutsche Mädchen bauen früher gegengeschlechtliche Beziehungen auf (S. 194). Tradierten Rollenmustern entspricht, dass Mädchen früher „das erste Mal selbständig Essen gekocht“ haben oder weniger Taschengeld erhalten (S. 202). Zur Mithilfe im Haushalt werden generell ostdeutsche Jugendliche mehr herangezogen, in Ost und West gilt dies aber noch stärker für Mädchen. Am wenigsten im Haushalt helfen müssen die westdeutschen Jungen (S. 224). Der Befund, dass ostdeutsche Jugendliche stärker ihre private und berufliche Zukunft reflektieren (alle gaben konkrete Berufsvorstellungen an, über 80% haben über eigene Kinder nachgedacht, über 60% sorgen sich, arbeitslos zu werden), differiert ebenfalls nach Geschlechtern: Über ihre Zukunft denken 91,6% der ostdeutschen und 54% der westdeutschen Mädchen nach, aber nur 75% bzw. 44% der Jungen. Dieser „kognitive Verselbständigungsvorsprung“ der Mädchen gegenüber den Jungen werde auf keiner Altersstufe mehr eingeholt (S. 239).

Geschlechterdifferenzen werden jedoch deutlich überlagert von sozialen Unterschieden (Sozialstatus, Familienform, Schulform). So zeigen Jugendliche aus bildungsnahen Milieus eine verzögerte Elternablösung, gleichzeitig aber „individuiertere“ Verselbständigung (S. 279). Nach dem Erziehungsstil verselbständigen sich wiederum Jugendliche aus „Befehlshaushalten“ rascher als Jugendliche aus „Verhandlungshaushalten“. Frühzeitige Familienablösung und stärkere Orientierung auf die Gleichaltrigen interpretiert die Autorin dabei als „auferzwungene Verselbständigung unter ungünstigen Bedingungen“ (S. 280) und verweist auf deren Ambivalenzen – sei es bei Jugendlichen aus benachteiligten Milieus, mit niedrigem Bildungsgang, aus ländlichen Regionen, in Mehrgeschwisterfamilien oder aus Familien mit autoritärem Erziehungsstil. Inwiefern „liberalisierte Familienhaushalte“, in denen Ablösekonflikte weniger scharf ausgeprägt seien, generell größere Chancen zu „individuierter Verselbständigung“ bieten (S. 280), bleibt offen – dürfte aber ebenfalls von Interesse sein.

Als besonderes Verdienst der Studie ist hervorzuheben, dass sie weitgehend normative Vorstellungen biographischer Verselbständigung vermeidet: „Traditional“ und „modern“ werden nicht als dichotomisch und unvereinbar angesehen, sondern in ihren Ambivalenzen ausgeleuchtet. Die Angleichung ostdeutscher an westdeutsche oder weiblicher an männliche Biographiemuster erscheint nicht als ungebrochenes Aufholen „höherer Grade“ von Verselbständigung, sondern vielmehr als Durchsetzung eines ambivalenten Musters, das neben Chancen auch seinen Preis hat.

Dennoch seien einige Fragen angefügt: Es erstaunt doch ein wenig, dass gerade für die Gruppe der 1993 10–15jährigen Ostdeutschen die starke These vom „Individualisierungsschock“ zugrunde gelegt wird. Denn für wen genau war die Veränderung der Statuspassage Kindheit-Jugend so „gravierend“ (S. 37) – für die Kinder und Jugendlichen selbst, die in den Umbruch hineinwuchsen, oder für ihre Eltern und Großeltern? Die Ergebnisse sprechen eher für eine „weiche Landung“ und geben so auch ein anderes Bild als manche (zitierte) Studie vom Anfang der 1990er Jahre mit den oft dramatisch gezeichneten Bildern vom „Individualisierungsschock“. Der Modernisierungsbegriff wirft hier und da Fragen auf: So können sowohl die mehrheitliche Erziehung der Kinder in öffentlichen Erziehungseinrichtungen als auch die Ganztagsbeschäftigung der Mütter wohl kaum als „traditionell“ bezeichnet werden (S. 37). Hat beides in Ostdeutschland die Elternorientierung möglicherweise befördert, die sich schwerlich allein aus „familiale(r) Abkapselung und Verhäuslichung“ (S. 65) gegenüber politischen Ansprüchen erklären lässt? Vielleicht beschleunigt andersherum häusliche Erziehung auch Nestflucht? Entsprechen die wohl deutlich pluralisierten Familienformen (nichteheliche Lebensgemeinschaften, Alleinerziehende, „Patchworkfamilien“) in der DDR „traditionellen“ familialen Mustern? Die Zuordnung des „Traditionalen“ bzw. „Modernen“ scheint z. T. willkürlich, und auch die Termini aus dem Repertoire der Modernisierungstheorie sind ein wenig überstrapaziert, z. T. kaum noch sauber unterschieden (z. B. „Individualisierung“ – „Individuierung“ – „Verselbständigung“) oder sogar widersprüchlich.

Weibliche Lebensentwürfe ohne „Leitkonzept“

Lebensentwürfe junger Frauen in Ost und West sind das Schwerpunktthema einer Längsschnittstudie des Deutschen Jugendinstituts München. Das schon vor 1989 konzipierte Projekt wurde nach dem Mauerfall zu einer Vergleichsstudie erweitert, die nun zusätzlich Gemeinsamkeiten und Unterschiede weiblicher Sozialisation in Ost und West einbezieht. Zwischen 1991 und 1997 wurden 700 qualitative Interviews mit 125 Frauen der Geburtsjahrgänge 1963–1972 in Bayern und Sachsen durchgeführt. Um unterschiedliche Bedingungen und Gelegenheitsstrukturen der Umsetzung von Lebensentwürfen zu erfassen, wurden Frauen aus Großstadt, Kleinstadt und ländlichem Raum interviewt. Gefragt wurden sie nach ihren Erfahrungen, Vorstellungen und Zielen in Beruf, Partnerschaft und Familie sowie nach Umgangsweisen mit Chancen und Barrieren in den jeweiligen Lebensbereichen. An zwei Erhebungszeitpunkten wurden zusätzlich die Partner der Frauen befragt.

Das 1. Kapitel widmet sich zunächst gesellschaftlichen Leitbildern für weibliche Lebensentwürfe. Dabei wird das Konzept der „Doppelorientierung“ von Frauen auf Beruf und Familie als bislang unhinterfragtes Leitkonzept identifiziert. Während für westdeutsche Frauen das „Drei-Phasen-Modell“ und „Vereinbarkeitsmodell[e]“ als charakteristisch gelten sollen (S. 21), spricht man für ostdeutsche Frauen von einem „einheitlichen Lebensentwurf“ (S. 18), der Doppelorientierung nicht nur als „Option“, sondern als „Norm“ vorsah (S. 22). Auch die Autorinnen gingen zunächst davon aus, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei aller unterschiedlicher Ausprägung in Ost und West das grundlegende Lebensmotto von Frauen sei. Sie fragen jedoch zugleich, ob nicht „der ausschließliche Blick auf Beruf und Familie als ‚Korsett‘ die Analyse von Lebensentwürfen und Lebensgestaltungsmustern von Frauen“ begrenze (S. 19). Ihr Interesse galt vielmehr individuellen Lebensentwürfen, die aus der Auseinandersetzung mit jeweiligen Leitbildern und konkreten Bedingungen entstehen. Zu deren Entschlüsselung entwickeln sie ein Konzept der „Lebensthemen“ von Frauen, das ihnen erlaubt, ihr empirisches Material nicht vorschnell in theoretische Kategorien zu pressen, sondern eine Vielfalt biographischer Verläufe und Lebensentwürfe zu erfassen.

Am Ende stehen beachtliche Ergebnisse: „Scheinbar schlüssige Interpretationen zum doppelten Lebensentwurf“ relativieren sich (S. 214). Längst nicht für alle Frauen erwies sich dieser als zentral für die Lebensgestaltung, sondern es fanden sich gravierende Unterschiede, die jeweils aus Erfahrungen, Lebenslagen und Gelegenheitsstrukturen resultierten. „Weder Beruf noch Familie [sind] durchweg gültige Fixpunkte […], um die herum sich das Leben und die Lebensführung gestalten“ (S. 215).

Nicht bestätigen konnte die Studie grundsätzliche Ost-West-Unterschiede. So ist generell eine qualifizierte Schul- und Berufsausbildung unverzichtbarer Bestandteil weiblicher Lebensplanung, ja Voraussetzung für die Umsetzung von Lebensentwürfen. Für alle befragten Frauen stand ein erfolgreicher Berufseinstieg im Zentrum der Lebensgestaltung, und der Beruf – nicht die Karriere! (S. 48) – hat Vorrang vor einer Familiengründung. Partnerschaft und Familie haben deshalb aber nicht ihre Bedeutung verloren. Für ostdeutsche Frauen bleibe die „Selbstverständlichkeit der Erwerbstätigkeit“ charakteristisch, für sie bildeten daher auch die Veränderungen von Arbeitsfeldern, die Verengung des Berufsspektrums und das verringerte Angebot der Kinderbetreuung – vor allem auf dem Land – eine besondere Schwierigkeit. Dennoch findet sich in beiden Samples eine Gruppe von Frauen, für die dezidiert Kinder und Familie im Mittelpunkt der Lebensgestaltung stehen.

Dass der größere Teil der befragten Frauen mit 27 bis 35 Jahren noch keine Familie gegründet hat, dass die ostdeutschen Frauen die Kinderzahl ganz bewusst (auf 1 Kind) beschränken und dass Mutterschaft mit dem (eher niedrigen) Bildungsniveau korrespondiert, führt die Autorinnen zu dem Schluss, dass Berufs- und Arbeitschancen für Mädchen und Frauen ebenso wie Fördermaßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt von zentraler Bedeutung für die Umsetzung weiblicher Lebensentwürfe seien.

Hinsichtlich der Vorstellungen zu Partnerschaften überwogen ebenfalls Gemeinsamkeiten: Die befragten Frauen bevorzugten feste Dauerpartnerschaften statt häufiger und kurzfristiger Partnerwechsel, und „Dauer-Singles“ sind eher selten. Unterschiede fanden sich in den Wertvorstellungen: Während westdeutsche Frauen die Bedeutung von „Aushandlungsprozessen und Freiräumen“ in der Partnerschaft betonten, waren für ostdeutsche Frauen Werte wie Geborgenheit, gegenseitige Unterstützung, Liebe und Verlässlichkeit dominierend, von den Autorinnen als Ausdruck der „Familie als Rückzugsort“ interpretiert (S. 56). Neue Perspektiven ergaben die Partnerinterviews: Auch die Lebensthemen junger Männer sind heute nicht ausschließlich durch den Beruf bestimmt, sondern ähneln jenen der jungen Frauen. „In Bezug auf die Lebensthemen gibt es […] keine unterschiedlichen Frauen- und Männerwelten“ (S. 179 f.), fassen die Autorinnen pointiert zusammen und revidieren damit die in der Geschlechterforschung vorhandenen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen erheblich. „Gleich und Gleich gesellt sich gern“, lautet vielmehr ein Ergebnis der Paaranalyse. Übereinstimmung in den Lebensthemen unterstütze „das Gelingen des Konstruktionsprozesses einer gemeinsamen partnerschaftlichen Welt“ (S. 198). Partnerschaften mit unterschiedlichen Lebensthemen unterscheiden die Autorinnen noch einmal nach „ergänzenden“ und „trennenden“ Lebensthemen, wobei Letztere besonders anfällig für massive Spannungen und schließlich für Trennungen seien. Ein interessantes Detailergebnis ist nebenbei, dass die sächsischen Männer in Paarkonstellationen nach dem Muster „Doppelorientierung auf Familie und Beruf“ doch ihre Prioritäten im Beruf setzen, was dafür spreche, „daß die für erwerbstätige Eltern strukturell günstigeren Bedingungen in der DDR eine Aufweichung männlicher Geschlechterrollen nicht befördert haben“ (S. 190).

Eine unorthodoxe Perspektive auf die Geschlechterverhältnisse bietet der Verweis, dass die konkrete Arbeitsteilung in Partnerschaften kein hinreichender Gradmesser von Gleichberechtigung sei. Dass die Autorinnen befürchten, damit „mißverstanden zu werden“ und „ungleiche Arbeitsteilung in Partnerschaften zu rechtfertigen“, zeigt, dass solche Aussagen schnell unter ideologischen Verdacht geraten. Sie meinen jedoch, dass dies den „tatsächlichen Einfluß und Anteil der Partner an der gemeinsamen Lebensgestaltung und Abstimmung“ nicht angemessen beschreibe, und gehen noch weiter, „daß der Aspekt der Arbeitsteilung in Partnerschaften Analyse und Logik von Partnerschafts- und Aushandlungsprozessen behindern kann und damit den Blick auf die individuellen wie gemeinsamen Lebenskonzepte und ihre Bedeutung für die Partnerschaft verstellt“ (S. 217).

Als Fazit betonen die Autorinnen, es könne „keineswegs die Rede davon sein, daß der doppelte Lebensentwurf zum generellen ‚Leitbild ohne Muster‘ für die jungen Frauen geworden ist“ (S. 214). Sie verweisen auf die Konsequenz, dass kollektive Vorstellungen von Familienleben ihre Entsprechung nicht mehr in individuellen Lebenskonzepten finden, und dass sich „das familiale Umfeld und damit zentrale Sozialisationsbedingungen für Kinder und Jugendliche […] je nach Lebensthema unterscheiden“ (S. 218). Damit schließt sich in gewisser Weise der Kreis zu den beiden anderen Studien: Lebensentwürfe junger Frauen sind heute „plural, heterogen und vielfältig“ und von sozialen Gelegenheitsstrukturen abhängig (S. 219). Entsprechend vielfältig gestaltet sich das Aufwachsen von Kindern. Es scheint, dass die Gesellschaft sich zur Zeit schwer tut, diesem Wandel – sei es im Bild von Schule, Familie oder Frauen, sei es im Ost-West-Vergleich – Rechnung zu tragen. Erfreulich ist wiederum, dass Ost-West-Vergleichsstudien gegenüber manchen „Schnellschüssen“ der Nachwendezeit an Differenzierung und Tiefenschärfe gewinnen.

URN urn:nbn:de:0114-qn023096

Dr. Petra Gruner

Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg; Homepage: http://smithers.physnet2.uni-hamburg.de/plazit.html

E-Mail: petra.gruner@plib.brandenburg

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