Sergio Benvenuto:
Perversionen.
Sexualität, Ethik und Psychoanalyse.
Wien u.a.: Verlag Turia + Kant 2009.
254 Seiten, ISBN 978-3-85132-549-2, € 29,00
Abstract: Sergio Benvenuto entkoppelt die beiden Bereiche Moral und Perversion – um stattdessen ein basales Verhältnis von Ethik und Perversion zu skizzieren. Dieses diskutiert er zum einen im Rückgriff auf die freudsche Psychoanalyse. Zum anderen greift der Autor auf sozial- und moralphilosophische Erwägungen zurück. In erster Linie erweist sich der Kantische Imperativ als wegweisend für die letztlich favorisierte soziale Verhältnisbestimmung von Moral, Sexualität und Perversion.
„Erster und einziger Grundsatz der Sexualethik: Der Ankläger hat immer unrecht“, stellte Theodor W. Adorno in seinen Minima Moralia vor über einem halben Jahrhundert fest. Die Ausführungen des italienischen Psychoanalytikers und Philosophen Sergio Benvenuto führen in gewisser Hinsicht die von Adorno formulierte Einsicht weiter. Die Position des Anklägers nimmt Benvenuto keineswegs ein. Ihm geht es um einen psychoanalytisch fundierten und philosophisch reflektierten Zugang zu Perversionen. Sein Bestreben bildet letztlich die Frage nach Erklärungsversuchen des Wesens von Perversionen. Insbesondere Masochismus und Sadismus werden hinsichtlich ihrer Psychodynamiken ausführlich dargestellt und diskutiert. Für die deutsche Ausgabe ist zudem ein Kapitel über „Fetischismus und Transvestismus“ aufgenommen, das in der italienischen Originalausgabe nicht enthalten ist.
Erklärungsmuster, mit denen Perversionen auch als normal erscheinen bzw. innerhalb einer imaginierten Normalität aufgezeigt werden, genügen Benvenuto nicht. Er behandelt Perversionen als solche – in zweifacher Hinsicht: in seiner analytischen Praxis und in seinen philosophisch geprägten Ausführungen. Auf den ersten Blick ist bemerkenswert, wie wenig Bedenken Benvenuto gegenüber Definitionsversuchen zeigt, was bei der gewählten Thematik erhebliche Schwierigkeiten verursachen kann. Doch bei genauerer Betrachtung geht der Autor davon aus, dass es sich im weiten und nicht klar umrissenen Bereich der Perversionen um stark zeithistorisch eingebundene Überlegungen handelt. Dadurch entgeht er starren und unhistorischen Bestimmungen.
Insbesondere die Bedeutung, die dem ‚Anderen‘ in einer perversen Situation zukommt, wird in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt. Benvenutos Definitionsversuche erweisen sich daher als soziale Verhältnisbestimmungen. Die jeweilige Funktion und Bedeutung, die ‚Andere‘ für die eigenen Wünsche und Begehren einnehmen müssen, bilden den Blickwinkel – ein kluges Vorgehen, aus mehreren Gründen. Zunächst werden Perversionen nicht außerhalb herrschender Sexualitätskonzepte verortet. Die Relationsbeziehungen (mindestens) der Beteiligten entscheiden darüber, ob und inwiefern Verhaltensweisen als pervers gelten können. Darauf aufbauend ist die Perspektive entscheidend, aus der Benvenuto seine Überlegungen entwirft. Er nimmt das psychoanalytische Verfahren Freuds ernst, indem er konsequent danach fragt, welche Funktionen innerhalb psychischer Dispositionen eingenommen werden (müssen) und welche (Macht-)Effekte dadurch generiert werden. Im Blick auf weiblich und männlich konnotierte Verhaltensmuster werden geschlechtsspezifische Dimensionen von Perversionen herausgearbeitet. So lassen sich Verhaltensdispositionen auszeichnen, die real von verschiedenen Geschlechtern besetzt werden können, ideal aber entweder weiblich oder männlich konnotiert sind. Eine von Benvenuto angestrebte genauere Bestimmung von Perversionen erschöpft sich daher nicht in einer Beschreibung. Es geht zentral um eine soziale Verhältnisbestimmung.
Die idealtypische Besetzung im Masochismus arbeitet Benvenuto als weibliche heraus: „Der Masochismus ist also immer weiblich. Er ist das Erleiden des Aktes des anderen. Aber zugleich ist, wie wir gesehen haben, jeder Masochismus eine Inszenierung.“ (S. 139) Aus der freudschen Einsicht heraus, dass gerade der Phantasie psychodynamisch eine kaum zu unterschätzende Bedeutung zukommt, nimmt Benvenuto Inszenierungen ernst. Imaginationen werden nicht verkürzt als bloße Vorstellung, sondern hinsichtlich ihrer Effekte und Funktionen im psychischen Geschehen und damit hinsichtlich ihrer ‚realen‘ Wirkmächtigkeit erfasst.
In stets neuen Anläufen werden weitere Facetten zum Feld der Perversionen hinzugefügt, die im gesamten Vorhaben nicht eindimensional aufgelöst werden. So entsteht ein Mosaik unterschiedlicher theoretisch fundierter, aber nicht beliebiger Zugriffe auf das (heterogene) Feld der Perversion. Dennoch dominiert letztlich ein Blickwinkel, den der Autor nahezu allen vorgeschlagenen und diskutierten Bestimmungen unterlegt, der aber selten expliziert wird. Benvenuto rekurriert auf ein „ethisches Kriterium“ (S. 20), das er an etlichen Stellen stärkt und dem Imperativ Kants, andere stets zugleich als Zweck an sich selbst, niemals als bloßes Mittel zu gebrauchen, entnimmt. Neben der sozialen und historischen Dimension von Perversionen findet sich damit stets eine sozialphilosophische Grundlage, die als Maßstab herangezogen wird.
„Dem perversen Akt fehlt die Liebe für den anderen“ (S. 36) – nicht als moralisches Postulat will Benvenuto solche Hinweise verstanden wissen. Es geht ihm um die bereits genannte soziale Verhältnisbestimmung, die aus einer ethischen Reflektion auf psychoanalytische und philosophische Einsichten gewonnen wird. Zunächst „muss man das Kriterium des Verhaltens aufgeben: Es zählt nämlich nicht so sehr, was jemand in Liebesdingen macht und mit wem oder womit er es macht, sondern eher, ob und wie der andere, mit dem er es macht, der ist, für den er es macht. Wir müssen also jede Handlung als pervers ansehen, die einem Subjekt sexuelle Lust bereitet, während das andere Subjekt nur als Instrument der oder Mittel zur Lust erscheint, jede Handlung, die also die Lust, im Besonderen die sexuelle, des anderen nicht als Ziel in Betracht zieht.“ (S. 32; Hervorh. im Orig.) Moralische Postulate werden von Benvenuto so gewendet, dass einerseits die je spezifische Verflochtenheit in aktuelle Herrschafts- und Machtstrategien aufgezeigt wird. Anderseits verfällt Benvenuto nicht auf die postmoderne Nivellierung aller Werte. Obwohl er die Verflochtenheit von Perversion und Moral ihrer je spezifischen Geschichte und damit Zeitgebundenheit überführen will, gelingt es ihm, nicht in einen herrschaftsblinden Kurzschluss zu verfallen, der moralisch-ethische Erwägungen gänzlich ausblenden möchte, da diese scheinbar ausschließlich der Macht und Herrschaft zugeschrieben werden können. Der Imperativ Kants und die Psychoanalyse Freuds bilden die impliziten Fluchtpunkte, auf die sich Benvenuto in seinen unterschiedlichen Anläufen zu einer sozialen Verhältnisbestimmung von Perversionen bezieht. Ergänzend werden drei Gewährsmänner herangezogen, die sich aus unterschiedlichen Gründen und Intentionen an den Rändern des psychoanalytischen Establishments bewegen, um das Feld der Perversionen zu diskutieren: Masud Khan, Jacques Lacan und Robert Stoller.
Dass es sich um ein fundamentales Konzept von Reflexivität handelt, zeigt sich an Benvenutos Frage, inwiefern es sich bei der analytischen Situation um eine perverse Situation handelt. Eine zentrale Gemeinsamkeit besteht darin, dass ein Kontrakt mit einem ‚mächtigen Mann‘ (vgl. S. 150) eingegangen wird. „Über das Setting übt der Analytiker Macht aus beziehungsweise er manifestiert sein Begehren oder seinen Willen.“ (S. 151) Bei aller Betonung von Berührungspunkten entgehen Benvenuto aber nicht die Unterschiede, die er, wenn auch nicht explizit, wiederum an den Effekten hinsichtlich der psychischen Dispositionen der Beteiligten festmacht: „Die Analyse wühlt also im vergangenen Leiden des Subjekts […] wie ein perverser Akt: In diesem Wiederaufrühren der traumatischen Vergangenheit verschafft sich das Subjekt Genuss. […] Die Analyse erlaubt die Perversion zu überschreiten, indem sie ihr in gewisser Weise ihre Dynamik entlehnt.“ (S. 165)
So verdeutlicht sich Benvenutos Anliegen einer reflexiven Freud-Orthodoxie, die darlegt, „dass die Psychoanalyse noch Asse im Ärmel hat, trotz ihrer aktuellen mentalistischen und linguistischen Exaltierungen“ (S. 28). Die Invektiven gegen die „Vorherrschaft der angloamerikanischen Kultur“ (S. 12) sind allerdings für den Argumentationsgang Benvenutos ebenso überflüssig wie unnötig und stehen als Ressentiment dem emphatischen Anspruch auf Aufklärung, wie er ansonsten sowohl Kant als auch Freud entnommen wird, entgegen.
URN urn:nbn:de:0114-qn112182
Stefan Müller
Universität Frankfurt am Main
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Lehrerbildung, Schul- und Unterrichtsforschung
E-Mail: st.mueller@em.uni-frankfurt.de
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