Prostitutive Verhältnisse als widersprüchliche Geschlechter- und Herrschaftsverhältnisse

Rezension von Birgit Sauer

Silvia Kontos:

Öffnung der Sperrbezirke.

Zum Wandel von Theorien und Politik der Prostitution.

Sulzbach im Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2009.

428 Seiten, ISBN: 978-3-89741-285-9, € 32,90

Abstract: Silvia Kontos stellt die historische Entwicklung von Theorien über heterosexuelle Prostitution sowie von deren politischen Regulierungen in Deutschland dar und greift damit auf herausragende Weise in aktuelle wissenschaftliche und politische Debatten ein. Neben einer profunden Analyse prostitutiver Verhältnisse macht sie ihre geschlechtertheoretisch fundierte normative Position in den aktuellen prostitutionspolitischen Aushandlungsprozessen plausibel. Durch die Verknüpfung von geschlechter- und staatstheoretischer Analyse werden die Paradoxien des Prostitutionsdiskurses ebenso herausgearbeitet wie die der staatlichen Regulierung.

Der Titel „Öffnung der Sperrbezirke“ erhält auf den letzten Seiten des Buches eine programmatische Bedeutung, die über die der historischen Tendenz im Umgang mit Prostitution in Deutschland weit hinausgeht. Silvia Kontos hebt hier hervor, dass im prostitutiven Setting mindestens drei Personen im Spiel sind – die Prostituierte, der Freier und die Ehefrau, Freundin, Mutter, also die „stillen Teilhaberinnen“ am prostitutiven Geschäft (S. 393). Deshalb müsse die Beschäftigung mit Prostitution immer gesellschaftliche Zusammenhänge in den Blick nehmen. Die innovative Analyse von Prostitutionstheorien und -regimen basiert deshalb auf einer gesellschafts- und staatstheoretischen Verknüpfung von Patriarchats- und Kapitalismuskritik.

Prostitution – eine theoretische Klärung

Auf knapp 400 Seiten legt die Autorin die historische Pfadabhängigkeit des Wissens und der Theorien über Prostitution sowie ihrer politischen Regulierungen in Deutschland dar. Sie zeigt, mit welchen Denkmustern und Praxen auf dem Feld der heterosexuellen Prostitution über Geschlecht und Sexualität verhandelt wurde und wird. Kontos ist eine exzellente Intervention in aktuelle Debatten um Prostitution gelungen. Sie nimmt nicht nur eine profunde Analyse „prostitutiver Verhältnisse“ (S. 30) vor, sie bezieht auch eine geschlechtertheoretisch fundierte normative Position in aktuellen prostitutionspolitischen Aushandlungsprozessen, in denen sich zwei Argumentationslinien unvereinbar gegenüberstehen: die abolitionistische Position, die die Abschaffung der Prostitution zum Ziel hat, und die „Sexwork“-Position, die den Arbeits- und Dienstleistungscharakter von Prostitution hervorhebt. In diesem feministischen Stellungskrieg positioniert sich Kontos wohltuend analytisch und konsequent geschlechtertheoretisch argumentierend.

Kontos’ theoretische Grundlegung der Analyse liegt in der Verknüpfung zweier Ungleichheitsstrukturen, nämlich der ungleichen Marktpositionen von Freier und Prostituierter mit hierarchischen Geschlechterverhältnissen. Prostitutions- als Herrschaftsverhältnisse haben also mit ökonomischer Ausbeutung von Frauen ebenso viel zu tun wie mit sexueller Lust, die mit Herrschaft verbunden ist. Prostitution ist für sie nicht „ein Beruf unter anderen“, also nicht nur in „kapitalistisch-marktbezogener Begrifflichkeit“ zu fassen. Für Kontos steht ganz klar der „Geschlechtsbezug“ der Prostitution im Vordergrund, ist sie doch „ein zentrales Feld für die Herstellung und Reproduktion hierarchischer Geschlechterverhältnisse“ (S. 10). Diesen prostitutiven Reproduktionsmechanismus aus historischer Perspektive in seiner historischen Kontinuität, aber auch Wandelbarkeit herauszuarbeiten, ist das Anliegen des Buches.

Der Prostitutionsdiskurs – historische Perspektiven

Das Buch beginnt mit einer umfassenden Auseinandersetzung mit vornehmlich deutschsprachigen Theorien über Prostitution, wie sie seit 500 Jahren vorfindbar sind (Teil I). Kontos zeigt die Kontinuitäten und Brüche in Prostitutionstheorien auf und arbeitet die Abfolge unterschiedlicher Deutungslinien heraus. Eine „verblüffende Kontinuität“ (S. 32) besitzen funktionalistische Prostitutionstheorien, von der „Kloakentheorie“ eines Augustinus bis hin zur Ventiltheorie eines Schelsky – immer wird die Prostitution als notwendiges gesellschaftliches Übel gesehen. Im 19. Jahrhundert, dem „Jahrhundert der Prostitution“, wird das kapitalistisch-patriarchale prostitutive Verhältnis neu formiert und Prostitution als Komplement zur Ehe theoretisiert (S. 32 ff.). Nun muss die Prostituierte moralisch abgewertet, ja mehr noch, zum Paradigma für die „sittliche Idiotie“ des weiblichen Geschlechts, beispielsweise bei Lombroso und Weininger, werden (S. 51 ff.). Auch wenn bürgerliche Sexualreformer und sozialistische Theoretiker wie Bebel anders auf die Krise der Männlichkeit am Ende des 19. Jahrhunderts reagierten und Prostitution als ein soziales Problem thematisierten, kann Kontos funktionalistische Lesweisen der Prostitution bis weit ins 20. Jahrhundert ausmachen. Eine ebensolche Kontinuität weist die moralische Diskreditierung der Prostituierten auf (S. 110). Erst die 1970er Jahre und ihr herrschaftstheoretischer turn schufen den theoretischen Boden für eine neue Thematisierung von Prostitution, sowohl in der Systemtheorie wie in der soziologischen Modernisierungstheorie (S. 121 ff.).

Die neue Frauenbewegung thematisierte Prostitution in den 1970er und 1980er Jahren zunächst als geschlechtsspezifisches Herrschafts- und Gewaltverhältnis (Kate Millett), dann in den 1980er Jahren im Kontext der „Lohn-für-Hausarbeit“-Debatte schließlich als Arbeit (S. 163 f.). Beide frames greifen für Kontos zu kurz. Prostitution sei nicht nur Ausbeutung und Gewalt, sondern enthalte auch Widerständigkeit, sie sei aber auch nicht schlicht in Wert setzbare Arbeit und mithin der Care-Arbeit in der Familie gleichzusetzen. Vielmehr träten Prostituierte als Ungleiche in den Markt von Sexualität und Herrschaft ein (S. 165). Und: „Hausarbeit ist ebenso wenig bezahlbar, wie es einen ‚anständigen Lohn‘ für die Prostitution gibt“ (S. 169). Erstmals geraten durch diese feministischen Debatten aber Prostituierte ins Zentrum der politischen Debatte, wenn auch, so die Kritik von Kontos, oftmals romantisiert als die „eigentlich“ subversiv gegen patriarchale Ausbeutung Handelnden (S. 168).

Die historische Transformation von Prostitutionsregimen

Teil II des Buches stellt die geschichtliche Entwicklung der Regulierung von Prostitution, der „Prostitutionsregime“ (S. 248), in Deutschland dar. In diesem Abschnitt wird auf staatstheoretischer Grundlage (S. 236 ff.) präzise herausgearbeitet, dass Prostitution als ein verdichtetes „Feld von Auseinandersetzungen und als Kampf um hegemoniale Ordnungen und Praktiken“ begriffen werden muss (S. 248), als Politikfeld also, in dem „die Sexualisierung von Herrschaft und ihre Verknüpfung mit anderen Über- und Unterordnungen“ (S. 13) verhandelt, festgefügt, aber auch verändert wird. Die Autorin weist nach, wie prekär die Prostitutionskompromisse jeweils waren, dass es aber immer wieder gelang, die gesellschaftlichen Konflikte um Geschlecht, Sexualität, Ökonomie und Macht auf Kosten der Prostituierten zu befrieden. Kontrolle der Prostituierten und der Sexualität, die Stabilisierung der bürgerlichen Ehe, die Sicherung hegemonialer Männlichkeit, die Idee der Volksgesundheit wie auch geschlechteregalitäre Impulse machen die fragile Gemengelage des Prostitutionsfeldes aus (S. 249 f.).

Während das Prostitutionsregime des „rheinischen Kapitalismus“ der 1950er Jahre repressiv-fürsorgerisch gestaltet war, wurde mit dem fordistischen Regime der 1970er Jahre der Wechsel vom Sperr- zum Toleranzzonen-Denken vollzogen und erstmals Prostituierten eine Stimme gegeben – nicht zuletzt durch die Intervention der Frauenbewegungen (S. 323 ff.). Erst die Erosion des fordistischen Paradigmas öffnete den Weg zum neuen Prostitutionsgesetz von 2002 und zur Regulierung der Prostitution unter Marktgesichtspunkten, also auch zur Entdiskriminierung der Prostituierten, zum besseren Schutz vor Gewalt und Ausbeutung, aber auch zur „Normalisierung“ von Prostitution (S. 347) in einem „neo-liberalen Prostitutionsregime“. Auch die aktuellen Debatten sind also Folge des Formwandels der Prostitution unter neuen ökonomischen und staatlich-regulatorischen Bedingungen. Dass das neue Gesetz nur unzureichend in der Lage ist, Prostituierte zu Marktsubjekten zu machen, liegt nach Kontos darin, dass in diesem neuen Kompromiss erneut die Frage der Geschlechterungleichheit ausgeblendet bleibt und damit das Grundproblem der Prostitution, nämlich die „Indienstnahme von Frauen für die sexuellen Bedürfnisse von Männern“, nicht überwunden werden kann (S. 350).

Kontos kann überzeugend darlegen, dass im prostitutiven Dispositiv Prostituierte nicht nur Opfer und Männer nicht nur Täter sind, sondern dass sowohl die Prostitutionsdiskurse wie auch die staatlichen Regulierungen widersprüchlich sind: Männer sind im Prostitutionssetting keine souveränen, sondern stets prekäre Subjekte, die nicht nur von den Ansprüchen von Ehefrauen, sondern auch von den Strategien der Prostituierten abhängig sind (S. 12). Diese hingegen sind nicht nur Opfer männlicher Herrschaftsgelüste und Unterdrückungsphantasien, auch nicht nur Opfer sozialer und ausbeuterischer Verhältnisse, sondern sie ‚herrschen‘ auch über Freier, indem sie die Bedingungen der Dienstleistung setzen.

Fazit

Das Buch bietet einen hervorragenden Überblick über die wissenschaftlichen Debatten über Prostitution sowie über politische Regulierungsversuche im Kontext staatlicher Transformation und überzeugt durch die konsequente Verknüpfung von Kapitalismus- und Patriarchatskritik. Nicht ganz überzeugend ist allerdings die Ablehnung des Sexarbeit-Begriffs. Ohne Zweifel ist Prostitution „nicht auf die Bestimmung als Arbeit zu reduzieren“ (S. 11). Doch kann m. E. das Sexarbeit-Konzept gerade auf den geschlechterungleichen Tausch zwischen Prostituierter und Freier hinweisen. Das Konzept ist durchaus auch als geschlechterkritisches verwendbar, macht doch der Begriff der Arbeit in kapitalistischen Verhältnissen stets auf ungleiche Tauschverhältnisse aufmerksam. Ausgeblendet wird in der gesamten Studie die Position des Zuhälters. Dessen Einbeziehung unter staatstheoretischer Perspektive hätte wiederum die Bedeutung des Arbeitszusammenhangs Prostitution deutlicher gemacht, wird doch der fehlende Arbeitsschutz von Prostituierten aufgefangen durch zuhälterische gewaltförmige Schutzzusammenhänge, gleichsam als Ersatz für staatliche Schutzleistungen.

URN urn:nbn:de:0114-qn112179

Prof. Dr. Birgit Sauer

Universität Wien

Universitätsprofessorin am Institut für Politikwissenschaft

E-Mail: birgit.sauer@univie.ac.at

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