Familie macht Medienbiografie

Rezension von Hannes Schweiger

Silja Schoett:

Medienbiografie und Familie – Jugendliche erzählen.

Theorie und Methode der medienbiografischen Fallrekonstruktion.

Hamburg u.a.: LIT Verlag 2009.

246 Seiten, ISBN 978-3-643-10031-3, € 24,90

Abstract: Die Familie bestimmt in hohem Maße, welche Medien Kinder und Jugendliche in welcher Lebensphase wie und warum rezipieren. Silja Schoett beweist diese nicht neue Annahme auf überzeugende Art anhand ihrer Analyse zweier Fallgeschichten mit Hilfe des Instruments einer medienbiografischen Fallrekonstruktion. Sie begründet diese Methode ausführlich und macht sie auf andere Beispiele und Fragestellungen übertragbar. Aufgrund ihrer systemischen Perspektive betrachtet sie das Individuum im familiären Gesamtzusammenhang, blendet dabei aber andere Faktoren (u. a. soziales Umfeld, Schule, ökonomische Verhältnisse) aus, die die Lebensgeschichte und die mediale Sozialisation ebenfalls mitbestimmen.

Die Familie spielt eine entscheidende Rolle für die Mediensozialisation. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Silja Schoett beweist sie aber auf überzeugende Art anhand ihrer Analyse zweier Fallgeschichten und liefert dazu generalisierbare theoretische Überlegungen und ein methodisches Konzept, das auf andere Beispiele und Fragestellungen übertragbar ist. Ihre Studie ist eine gelungene Auseinandersetzung mit Fragen der familiären Mediensozialisation mit Hilfe des Instruments einer medienbiografischen Fallrekonstruktion, das auf gestalttheoretisch-phänomenologischen und auf handlungstheoretischen Annahmen beruht und auf die soziologische Biografieforschung im Sinne Gabriele Rosenthals und Wolfram Fischer-Rosenthals zurückgeht, diese aber zugleich auch modifiziert. Schoett nimmt dabei eine systemische Perspektive ein und betrachtet entsprechend das Individuum im familiären Gesamtzusammenhang.

Die Autorin diskutiert zunächst in Teil I („Theorie und Methode“) drei Beispiele bisheriger Lese- und Medienbiografieforschung, zeigt jeweils die offen gebliebenen Fragen und entwickelt daraus ihr eigenes Forschungsdesign, das sie ausführlich erörtert und begründet. In Teil II stellt sie die Lebensgeschichten und Mediengeschichten zweier junger Frauen (Lisa und Mandy) vor, wobei sie den wichtigen Unterschied zwischen erzählter und erlebter Lebensgeschichte produktiv macht und miteinander kontrastiert, was die Interviewten einerseits erzählen und was andererseits die sequenzielle Analyse der Lebens- und Mediengeschichten an Erkenntnissen hervorbringt.

Teil III liefert eine Zusammenschau der Ergebnisse und verfolgt die Frage nach deren Verallgemeinerbarkeit sowie nach der Übertragbarkeit der gewählten Methode der medienbiografischen Fallrekonstruktion. Dabei wird auch einer der großen Vorzüge der Studie deutlich: hohe Transparenz in methodischer und theoretischer Hinsicht und ein hoher Reflexionsgrad, was die Leistungen und Grenzen der eigenen Konzepte und Instrumente betrifft. Schoett nimmt mögliche Kritik vorweg, indem sie selbst die Defizite bzw. Beschränkungen ihrer Untersuchung diskutiert.

Lebensthemen und Leerstellen

Ein Problem, das sich gerade aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zeigt, wird bereits in den Kapitelüberschriften der beiden Fallrekonstruktionen sichtbar: „Lisa – Sich an die Familienrolle des Ersatzkindes anpassen“ und „Mandy – Eine Traumatisierung dissoziieren“. Schoett wendet zwar die von Fritz Schütze entwickelte Methode des narrativen Interviews an und legt dabei viel Wert auf das damit verbundene Prinzip der Offenheit. Aber wie die Kapitelüberschriften zeigen, entwickelt sie aus dem Interviewmaterial jeweils ein zentrales Lebensthema, das aus ihrer Sicht die Lebensgeschichte allgemein und die Geschichte der Medienrezeption im Besonderen strukturiert und prägt.

An der Erzählung der einen Interviewten, Lisa, irritiert die Autorin und eine zweite Interviewerin, dass sie zwar von sich behauptet, ein Medienfan und eine begeisterte Leserin zu sein, allerdings nicht imstande ist, eine Geschichte zu erzählen – weder ihre eigene Lebensgeschichte noch die Geschichten von Büchern oder Filmen, deren Rezeption sie als sehr positiv oder prägend erlebt hat. Die „Irritation ließ sich erst auflösen“, als die Interviewerinnen erfuhren, dass Lisas Mutter vor deren Geburt drei Fehlgeburten hatte. Darin sehen sie den „Schlüssel, Lisas Schwierigkeiten zu verstehen, eine Lebens- und Mediengeschichte zu erzählen“ (S. 97). Ausführlich wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung die drei Fehlgeburten in Lisas Familie, für Lisas Lebensgeschichte und für ihre Medienrezeption haben. Schoett kommt auf der Grundlage der Analyse familiengeschichtlicher Daten zu dem Schluss, dass die Fehlgeburten in der Familie nicht betrauert und bewältigt wurden und Lisa daher die Rolle des Ersatzkindes zugewiesen wurde. Als solches konnte sie keine eigene stabile Identität ausprägen, und infolgedessen hat sie auch Schwierigkeiten, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Die Rekonstruktion der Lebensgeschichte und der Mediengeschichte Lisas zeigt aus Schoetts Sicht, dass sie „mit ihrem Medienhandeln ihr biografisches Erleben und ihre biografische Bearbeitung der Familienrolle des Ersatzkindes reproduziert.“ (S. 116) Um dies darzustellen, analysiert Schoett Beispiele aus Lisas Medienleben und vergleicht die Handlung eines Buches oder eines Films mit Lisas Erzählung darüber. Ihre Art der Rezeption dieser Medien wird dann unter Rückgriff auf ihre Biografie erklärt. Damit entsteht eine stringente Darstellung der Lebensgeschichte Lisas sowie der Geschichte ihrer Mediennutzung, die deutlich macht, welch entscheidende Rolle die Familienstruktur und der individuelle Umgang mit Ereignissen in der Familie für das Medienhandeln von Jugendlichen spielen. Nicht thematisiert werden allerdings mögliche alternative Erzählungen bzw. die Ansätze dazu. Unbeachtet bleibt, was sich nicht in diese Generalerzählung einpassen lässt. In der kulturwissenschaftlichen Biografik sind es gerade die Leerstellen, Ungereimtheiten und Widersprüche, die an einer Lebensdarstellung signifikant erscheinen, vor allem vor dem Hintergrund einer Identitätsvorstellung, die von der Widersprüchlichkeit und Disparatheit unserer Lebensgeschichten ausgeht.

Forschungsperspektiven

Zur Überprüfung von Schoetts Hypothesen wären narrative Interviews mit anderen Familienmitgliedern und in weiterer Folge mit anderen Bezugspersonen notwendig gewesen. Auf diese Weise hätten sich möglicherweise Alternativszenarien entwickeln lassen, die miteinander in Beziehung zu setzen gewesen wären. Die Lebens- und Mediengeschichten der beiden Jugendlichen wären weniger einsinnig erschienen und die Multidimensionalität, die für Lebensgeschichten kennzeichnend ist, wäre analysierbar geworden. Auf diese Erweiterungsmöglichkeiten ihrer Studie weist die Autorin im letzten Abschnitt zu den Forschungsperspektiven selbst hin.

Silja Schoett zeigt in ihrer Arbeit, wie die Familiensituation die Genese und Funktion des Medienhandelns junger Menschen prägt. Dies gelingt ihr auf Kosten anderer Faktoren, die für die Konstruktion einer Lebensgeschichte ebenfalls konstitutiv sind: Bildungskontext, soziales Umfeld (peer group), sozioökonomische Verhältnisse, historisch-gesellschaftlicher Kontext. Zugute zu halten ist ihr allerdings das Bewusstsein dieser Beschränkung, auf die sie in ihrem abschließenden Kapitel auch zu sprechen kommt. Schoett stellt fest, „dass es sich bei den Ergebnissen [ihrer] interpretativen Studie um hypothetische und plausible Konstrukte handelt“ (S. 201), und wird damit dem auch in der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung mittlerweile etablierten Konzept von Biografie als dynamischer Konstruktion gerecht. Die konkrete Analyse der Interviews mit Lisa und Mandy greift allerdings insofern zu kurz, als sie die Komplexität der Lebensgeschichte auf jeweils ein Lebensthema reduziert und damit eine eindeutige und einsinnige Erzählung schafft.

Eine so detaillierte Auseinandersetzung mit Fallgeschichten wie in dieser Studie muss sich allein schon aus forschungsökonomischen Gründen auf einige wenige, in diesem Fall zwei, beschränken und kann nicht zu repräsentativen oder nummerisch verallgemeinerbaren Ergebnissen führen. Schoett schlägt daher vor, die forschungsökonomischen Schwierigkeiten zu begrenzen, „indem Forscher/innen Forschungsgruppen mit interdisziplinär ausgebildeten und praxiserfahrenen Ansprechpartner/innen aufsuchen oder gründen; methodisch pragmatische Lösungen entwickeln; methodologisch konsequent offen verfahren sowie Supervision in Anspruch nehmen.“ (S. 227) Damit würden auch einige der methodischen Fallen umgangen werden können.

Die interdisziplinär ausgerichtete Methode der medienbiografischen Fallrekonstruktion, die Silja Schoett theoretisch gut begründet und anhand der Medienbiografien zweier junger Frauen erprobt, lässt sich auf andere Fälle übertragen. Sie ist aber auch zu erweitern, etwa durch Familiengespräche und Mehr-Generationen-Studien, wie die Autorin am Ende andeutet, oder durch die Analyse weiterer Faktoren, die Lebensgeschichte und Medienbiografie beeinflussen. Schoett liefert mit ihrer Arbeit jedenfalls wichtige Impulse für weitere Forschungen, sowohl in theoretischer als auch in methodischer Hinsicht.

URN urn:nbn:de:0114-qn112090

Dr. phil. Hannes Schweiger

Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, Wien

E-Mail: hannes.schweiger@gtb.lbg.ac.at

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