Generationen der Liebe

Rezension von Kai Dröge

Holger Herma:

Liebe und Authentizität.

Generationswandel in Paarbeziehungen.

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009.

286 Seiten, ISBN 978-3-531-16552-3, € 34,90

Abstract: Holger Herma untersucht den Wandel der gesellschaftlichen Liebenssemantik in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Dabei ist sein besonderes Anliegen, den Einfluss generationsspezifischer Erfahrungsräume auf die Vorstellungen von Liebe und Partnerschaft empirisch nachzuvollziehen. In der qualitativen Interviewstudie steht das bisweilen spannungsvolle Verhältnis von Liebessemantik und Lebenspraxis, aber auch das Wechselspiel mit anderen gesellschaftlichen Diskursen und Transformationsprozessen, etwa im Geschlechterverhältnis im Mittelpunkt.

Die Soziologie der Liebe ist ein schwieriges Unterfangen. Zu privat scheint dieses Gefühl, zu individuell, zu irrational. In der Liebe hoffen wir auf einen Ort, der von gesellschaftlichen Zwängen entlastet ist, in dem die Regeln des Sozialen weniger Geltung haben und wo primär die wechselseitige emotionale Anziehung eine Verbindung zwischen zwei Menschen stiftet. Was soll die Soziologie also über diesen Ort sagen können, der schon per definitionem außerhalb ihres Gegenstandsbereiches – der Gesellschaft – zu liegen scheint?

Eine gegenwärtig verbreitete Antwort auf diese Frage ist, das Problem qua theoretischer Setzung aus der Welt zu schaffen. Jedes menschliche Handeln könne als rationaler Tauschakt erklärt werden, meint die rational-choice-Theorie, und wer dies für die Liebe verneine, unterliege einer romantischen Selbsttäuschung. Nun ist eine solche Perspektive in vielerlei Hinsicht fragwürdig. Vor allem aber entgeht ihr eine überaus wichtige soziologische Beobachtung: dass nämlich das kulturelle Ideal der romantischen Liebe keineswegs nur unbedeutendes gefühlsseliges Beiwerk ist, sondern eine soziale Konstruktion, die eng mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft verflochten ist. Viele Klassikerinnen und Klassiker der Soziologie waren sich dieser Verflechtung nur zu bewusst. Ob man mit Max Weber in der Liebe den Entwurf einer Gegenwelt zum „Gehäuse der Hörigkeit“ der rationalen Marktvergesellschaftung erblickt, oder ob man mit Niklas Luhmann den Akteuren bei der Suche nach „Höchstpersönlichkeit“ in einer funktional differenzierten Sozialwelt folgt, oder ob man mit Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim im modernen Liebesideal die Antwort auf die anomischen Schattenseiten der Individualisierung sieht – immer erzählt die Utopie der Liebe etwas über die Gesellschaft und wie sie ist, lässt sich aus ihr heraus verstehen.

Es sind diese Spuren einer „Seinsgebundenheit“ (Karl Mannheim) der gesellschaftlichen Liebessemantik, denen auch Holger Herma in seiner Dissertation, die an der Freien Universität Berlin eingereicht wurde, nachgegangen ist. Wie hängen „Liebessemantik und Lebenspraxis“ (S. 15) zusammen, und wie verändert sich dies über die Zeit? Welche Erfahrungen sind prägend für diese Wandlungsprozesse, wie verstetigen sich neue Muster und wie werden sie wieder gebrochen? Wie gestaltet sich das Wechselspiel mit anderen gesellschaftlichen Diskursen und Transformationsprozessen, etwa im Geschlechterverhältnis?

Untersuchungsdesign und Aufbau

Hermas Antworten auf diese Fragen greifen allerdings historisch weniger weit aus als die oben genannten modernisierungstheoretischen Ansätze, die er einleitend referiert. Sein Anliegen ist es, den Einfluss generationsspezifischer Erfahrungsräume auf den Wandel der gesellschaftlichen Liebessemantik empirisch nachzuvollziehen. Dazu hat er insgesamt 28 leitfadengestützte Interviews mit Frauen und Männern der westdeutschen Geburtenjahrgänge 1940 bis 1980 durchgeführt, in denen diese über ihre biographischen Beziehungserfahrungen sowie über ihre Hoffnungen und Erwartungen an die Liebe Auskunft gegeben haben. Die Interviews wurden mit sequenzanalytischen Verfahren einer intensiven Deutungsmusteranalyse unterzogen; eine Auswahl von neun Fallstudien hat den Weg in das Buch gefunden. Diese Fallstudien werden jeweils für die ‚frühe‘, ‚mittlere‘ und ‚späte‘ Generation des Untersuchungszeitraumes zusammengefasst präsentiert, ergänzt um einige aus der Literatur gewonnene Kontextinformationen über die Alltagsrealität und die gesellschaftlichen Deutungskämpfe um Liebe, Partnerschaft und Geschlechterverhältnis, die für die jeweiligen Jahrgänge prägend waren. Die Fallstudien werden schließlich zu einer Typologie verdichtet, die die „generationsspezifischen Selbstthematisierungen in der Liebe“ (S. 121 ff.) über die Zeit ordnet – wobei allerdings auch die Spannung zwischen verschiedenen Typen für eine Generation kennzeichnend sein kann.

Dieser empirische Kern der Studie ist gerahmt von einem ausführlichen theoretischen und methodischen Teil zu Beginn sowie einem Fazit und Ausblick zum Schluss. Im theoretischen Teil werden die bereits referierten klassischen Positionen zur Liebessemantik in der modernen Gesellschaft vorgestellt und die Familien- und Paarsoziologie sowie die Geschlechterforschung auf ihre Beiträge zum Thema befragt. In Abgrenzung dazu entwickelt Herma im zweiten Kapitel dann die eigene Untersuchungsperspektive im Anschluss an Karl Mannheims Konzept der historischen Generationen. Im dritten Kapitel werden schließlich das Sampling, die Erhebungs- sowie die Auswertungsmethode dargestellt und begründet.

Empirische Spurensuche

Als erste Generation stellt Herma die Geburtenjahrgänge der 1940er Jahre vor. Sie waren in ihrer Adoleszenz- und Postadoleszenzphase die wichtigste Trägergruppe jener Umbrüche in den Liebes-, Paar- und Geschlechterarrangements, die später mit dem Label der „68er“ versehen wurden. Für sie ist ein „Befreiungsnarrativ“ (S. 251) kennzeichnend, das sich vor allem gegen das restaurative Ehe- und Familienmodell der Nachkriegszeit und die darin eingelassenen Geschlechterrollen und Sexualnormen richtet. Die Fallstudien zeigen allerdings deutlich, wie schwer es dieser Generation gefallen ist, die Transformationen auf der Ebene der Semantik und der Diskurse auch in eine veränderte Lebenspraxis umzusetzen. Dazu waren lange biographische Lernprozesse erforderlich – viele Möglichkeiten des Scheiterns eingeschlossen.

Für die zweite, ‚mittlere‘ Generation, die die Geburtenjahrgänge Anfang der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre umfasst, war Befreiung dagegen nicht mehr das zentrale Thema. Wie die Fallstudien von Herma zeigen, wuchs diese Generation bereits mit dem Wissen darum auf, dass die klassischen bürgerlichen Beziehungsideale von Ehe und Familie samt der darin eingeschlossenen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern keine fraglose Gültigkeit mehr hatten. Daraus entstand für sie jedoch das lebenspraktische Problem, worin denn dann die Liebe ihre tiefste Begründung und Bestätigung finden sollte. Diese Frage führte sie zu einer gesteigerten Reflexivität ihrer Beziehungspraxis – die Liebe bedurfte nun stärker als früher der stetigen kommunikativen (Selbst-)Vergewisserung. Und diese Frage führte sie in das eigene Innere. Wo die Gewissheit der Liebe nicht mehr in starren gesellschaftlichen Beziehungsarrangements und auch nicht mehr in der Rebellion gegen diese Arrangements gefunden werden konnte, ließ sie sich nur noch in einer aufmerksamen Beobachtung der eigenen inneren Gefühlszustände und in der vorbehaltlosen Kommunikation darüber entdecken. Daher arbeitet Herma eine spezifische Form des „Sensualismus“ bzw. der „affektiv-reflexiven Selbstkontrolle“ (S. 229) als prägend für diese Generation heraus. Auch das Geschlechterverhältnis ist darin einbegriffen: Geschlechterungleichheiten werden nun nicht mehr als externe Rollenerwartungen begriffen oder bekämpft, sondern als unterschiedliche innerliche Verfasstheiten von Männern und Frauen psychologisiert bzw. naturalisiert.

Die dritte, ‚späte‘ Generation der Geburtsjahrgänge von Ende der 1960er bis Ende der 1970er Jahre wandte sich von diesem Fokus auf die eigene Innerlichkeit – samt der damit verbundenen Tendenz zu einer gewissen „Technokratie des Begehrens“ (S. 231) in der paarinternen Dauerkommunikation – wieder ab. Wie Herma zeigen kann, stellte sich diesen Jahrgängen ein anderes Problem: Die erste Generation hatte auf der semantisch-diskursiven Ebene den Raum für neue Lebens- und Liebesformen geöffnet, die zweite hatte diesen Raum lebenspraktisch-experimentell erkundet. Die dritte Generation stand nun vor der Schwierigkeit, dass ihr sehr viel mehr Optionen der Beziehungsgestaltung zur Auswahl standen, als sich in einem Liebesleben praktisch ausschöpfen lassen. Daher musste und muss sie damit umgehen, permanent abzuwägen und Entscheidungen für bestimmte Optionen und gegen andere zu treffen – Kontingenzreduktion ist die generationsspezifische Herausforderung. Dabei können auch klassische Beziehungsmuster revitalisiert werden. Herma wendet sich aber gegen die Befürchtung, dadurch werde der Geist der Emanzipation verraten und eine Retraditionalisierung der Beziehungsformen stehe ins Haus (vgl. S. 241). Ehe und Familie ist für diese Generation eine Option unter vielen. Sie ist ebenso begründungspflichtig wie andere auch und nicht mit jener Selbstverständlichkeit ausgestattet, die ihr noch in den 1950er Jahren zukam.

Fazit

Insgesamt vermittelt die Studie einen tiefen und differenzierten Einblick in den Wandel der Liebessemantik in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Dabei lässt Herma die biographische Eigenlogik der einzelnen Fälle durchaus zur Geltung kommen, ohne jedoch die übergreifenden Problemlagen aus den Augen zu verlieren, die eine Generation verbinden, auch wenn sie individuell unterschiedlich bearbeitet werden. Ein Grundproblem allerdings zieht sich durch die gesamte Untersuchung: In dem Versuch, die generationenspezifischen Unterschiede besonders hervortreten zu lassen, werden alle anderen sozialen Differenzen mehr oder weniger nivelliert. Dies betrifft schon das Sample, in das nur Personen aus den oberen Bildungsschichten in westdeutschen Großstädten Eingang gefunden haben. Damit ist die Studie bei Lichte besehen eine Untersuchung über den Generationenwandel in einem ganz spezifischen Milieu. Ob und wie sich die Liebessemantik und Beziehungspraxis anderer Milieus verändert hat, kann man diesen Ergebnissen nicht entnehmen. Andere mögliche Unterschiede in der „Seinsgebundenheit“ der Liebe bleiben ebenso unterbelichtet: ökonomische Differenzen beispielsweise oder die unterschiedlichen Erfahrungen hetero- und homosexueller Lebensformen (auch wenn das Sample solche Lebensformen einschließt, werden sie kaum systematisch reflektiert). Nun kann keine Studie alle Fragen beantworten, aber ein offensiverer Umgang mit den Grenzen des eigenen Untersuchungsdesigns wäre gut gewesen. Doch ungeachtet dieser Kritik ist Holger Herma eine überaus lesenswerte Studie gelungen, die theoretische und zeitdiagnostische Fragen der Paar- und Geschlechterforschung gut mit materialgesättigten empirischen Analysen verknüpft.

URN urn:nbn:de:0114-qn112088

Kai Dröge

Université de Lausanne, Schweiz; Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main

Homepage: http://www.romanticentrepreneur.net

E-Mail: k.droege@em.uni-frankfurt.de

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