Entweder – oder? Mutterschaft zwischen Fundamentalismen und vielschichtigen Praxen

Barbara Thiessen, Paula-Irene Villa

Abstract: Mutterschaft wird in Deutschland ‚fundamentalistisch‘ diskursiviert: Die Leitbilder der ‚guten‘ Mutter sowie deren negative Schattenseiten sind moralisch und politisch überfrachtet, so dass scheinbar nicht nur das Wohl und Wehe der Kinder, sondern auch das der ganzen Nation an der Erfüllung spezifischer Normen von Mutterschaft zu hängen scheinen. In der alltäglichen Praxis von Mutterschaft brechen sich diese phantasmatischen Bilder allerdings – der Familien- und Mutteralltag ist vielmehr geprägt von vielfältigsten, durchaus eigensinnigen und nach Ungleichheitslagen differenzierten Arrangements sowie entsprechender ‚Identitäten‘ von Müttern. In unserem Beitrag skizzieren wir diese Gemengelage zunächst als Effekt von Reflexivierungsprozessen, die nicht zuletzt der Zweiten Frauenbewegung, aber auch den unterschiedlichen Traditionen in der DDR und der BRD geschuldet sind. Auch die derzeitige ‚Ökonomisierung des Sozialen‘ bildet eine wesentliche Rahmenbedingung für gegenwärtige Diskurse rund um Mutterschaft. Im Beitrag werden auch Aspekte der familien- und sozialpolitischen Regulierung von Mutterschaft skizziert. Insgesamt diagnostizieren wir einerseits die Pluralisierung von Mutterschaftsbildern, die andererseits aber hochgradig widersprüchlich ist. Mütter nehmen diese Konflikte – etwa zwischen der ‚guten Mutter‘, die ganz in der langjährigen Vollverfügbarkeit für die Kinder aufgeht, und der ‚guten Mutter‘, die durch die Brille ihrer eigenen Karriere ihre Kinder als Humankapital betrachtet, in das sie investiert – individualisiert wahr, was wir entlang einiger exemplarischer ‚Druckstellen‘ darstellen. Der Beitrag schließt mit einem Plädoyer für die gesellschaftliche Aufwertung fürsorgebasierter Beziehungen und damit mit einer Kritik an der Fetischisierung von Autonomie.

Im Umfeld des diesjährigen Muttertages wurde der ‚Mythos Mutter‘ breit diskutiert. Noch zugespitztere Debatten kann erleben, wer sich auf Spielplätzen, Elternabenden oder in Kneipenrunden zum Thema Mutterschaft äußert. Egal, was man sagt, es gibt immer eine fundamentalistische Position dagegen. Minenfelder sind: Stillen, Stilldauer, Schlaftipps, Berufseinstieg oder -ausstieg, Väterbeteiligung, Krippe, Tagesmutter, Kindergarten, Ökobrei oder gesüßter Tee? Tragetuch oder Kinderwagen? Die Liste existenzieller Entscheidungen, an denen nicht nur das Wohl und Wehe des Kindes, sondern der ganzen Nation zu hängen scheint (Verwahrlosung, Fachkräftemangel, Bildungsbedarfe, Aussterben der Deutschen…), ist nicht endlos, aber allzu lang. Sicher ist dabei eins: Mutterschaft versteht sich nicht mehr von alleine. Dass es so viel Dissens gibt – alltagsweltlich und durchaus auch wissenschaftlich –, zeugt von der Reflexivierung, die die einst als natürlich zementierte Mutterschaft erfahren hat. Folglich boomt auch der einträgliche Markt neuer Ratgeber- und Lifestylemagazine zum Thema: Mutterschaft – wie geht das?

Im folgenden Beitrag möchten wir zunächst den Blick auf die derzeitigen Diskursivierungen von Mutterschaft und Familie richten und dabei betonen, dass weder Mutterschaft noch Familie in der reflexiv gewordenen Moderne (vgl. Beck/Giddens/Lash 1996; Beck/Beck-Gernsheim 1994) selbstverständlich sind, sondern als „doing family“ (vgl. Jurczyk/Lange 2002) begriffen werden müssen. Hier wird deutlich werden, dass das ‚Entweder – Oder‘ der diskursiven Auseinandersetzungen weder dem Alltag von Familien noch ihren regulierenden Rahmenbedingungen gerecht wird. Im zweiten Schritt werden wir beispielhafte Diskursfelder hinsichtlich des Drucks, den sie auf Mütter ausüben, schlaglichtartig benennen. Abschließend wird deutlich, dass jenseits der Debatten im fundamentalistischen Modus des ‚Entweder – Oder‘ Fürsorge neu gedacht werden muss: Die Angewiesenheit von Menschen als conditio humana braucht familiäre Fürsorgebeziehungen, die von geschlechtlicher bzw. sexueller Zuweisung ebenso wie von Marktimperativen befreit gehören.

Diskursivierung von Mutterschaft: Befreiung – Verunsicherung – Schließung

Der Weg von den klassischen drei Ks ‚Kinder, Küche, Kirche‘ zum gegenwärtigen Imperativ ‚Kinder, Krippe, Karriere‘ ist ein historisch zwar kurzer, dafür umso umkämpfter. Anders als die Debatten es vermuten lassen, ist die von Frauen geleistete Erwerbsarbeit seit etwa hundert Jahren annähernd stabil. Verändert haben sich der Anteil der Frauen, die erwerbstätig sind, und ihr Stundenumfang. Waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger Frauen Vollzeit etwa in den Fabriken erwerbstätig, so sind heute insgesamt mehr Frauen, aber mit geringerem Stundenumfang tätig (vgl. Becker-Schmidt/Krüger 2009). Die Debatten vor allem um Müttererwerbsarbeit haben sich jedoch erheblich verändert. Insbesondere mit der Gegenüberstellung von BRD und DDR polarisierten sich die Modelle der westdeutschen Hausfrau und der ostdeutschen erwerbstätigen ‚Mutti‘. Die Reklamierung von mehr Gleichberechtigung und die darauf eingeleitete Familienrechtsreform von 1977 führten auch in Westdeutschland zur Aufgabe des gesetzlichen Leitmodells der Hausfrauenehe und sicherten die eigenständige Erwerbsarbeit von Ehefrauen ab. In der gesellschaftlichen Diskussion bleibt die normative Figur der Vollzeitmutter jedoch bis heute (nicht nur in konservativen Kreisen!) das Leitbild. In der Praxis bricht sich dieses elitäre Modell jedoch seit seiner Apostrophierung als das ‚eigentliche‘ immer schon an ökonomischen Zwängen sowie an den (auch Gleichberechtigungs-)Praxen von Frauen und Männern. Und das heißt, das Modell bricht sich an der Wirklichkeit, dass Mütter und Väter immer mehr sind als nur das.

Auch in der Familienforschung und -politik ist das Thema der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit für Mütter seit den 1960er Jahren in Westdeutschland ein Dauerbrenner. Das Forschungsinteresse richtete sich zunächst auf die Mütter, ihre Doppelbelastung und die strukturbildende Verschränkung beruflicher und privater Zusammenhänge weiblicher Lebensführung im Sinne eines doppelten weiblichen Lebensentwurfs (vgl. Becker-Schmidt 1987; Krüger 1995). Gleichzeitig wurde jene weitgehend veränderungsresistente geschlechtstypische Arbeits- und Rollenteilung im Lebensentwurf und im familialen Alltagsleben von Müttern und Vätern diskutiert, die auch heute noch die Wirklichkeit von Familien bestimmt (vgl. Thiessen 2004). Dies stand im Zusammenhang mit der Öffnung des Bildungs-, Berufs- und Erwerbssystems für Frauen, der zunehmenden, auch kontinuierlichen Erwerbsbeteiligung von Müttern und hochqualifizierten Frauen, dem Rückgang der ‚einseitigen Ernährerabhängigkeit‘ von Frauen innerhalb der Familie und der Orientierung an egalitären Geschlechterbildern. Letzteres galt insbesondere in Ostdeutschland; in Westdeutschland entstanden in der Folge der Frauenbewegung seit den 1970er Jahren neue Leitbilder wie die ‚Zweiverdienerfamilie‘, die ‚Work-Life-Balance‘ und der ‚aktive (oder ganzheitliche) Vater‘. Ein Umkippen dieser, zu ihrer Zeit neuen und durchaus emanzipatorischen Modelle in eine Verschärfung der Zumutungen an Mütter stellt die derzeitige neoliberale Marktlogik einer allseitigen und umfassenden Ökonomisierung des Sozialen dar (vgl. Bröckling/Krassman/Lemke 2000), die nicht nur auf qualifizierte Mütter, sondern auch auf die Kinder zugreift; diese mutieren zum Humankapitalnachwuchs. Im 2008 neu verabschiedeten Unterhaltsrecht (§ 1609 Nr. 2 und 3 BGB, vgl. Nothhafft/Thiessen 2009) findet das neue Leitbild der ökonomisch berechnenden Zweiverdienerfamilie seinen Niederschlag: Im Falle einer Scheidung steht der Unterhaltsanspruch der geschiedenen Frau hinter dem der Kinder aus alten sowie möglicher Kinder aus neuen Verbindungen. Hochgradig riskant werden nunmehr alle Lebensentwürfe, die nicht erwerbsarbeitszentriert sind, egal ob für Väter oder Mütter. Diese Entwicklung löst allerdings traditionelle Familienbilder keineswegs ab, sondern es existieren verschiedene Modelle nebeneinander. Das macht die gegenwärtige Situation ebenso verunsichernd, reflexiv und pluralistisch wie offen für Schließungs- und Expertisierungstendenzen. Mütter stehen zwischen der verblassenden, aber immer noch wirksamen Rhetorik der vollzeitlichen Verfügbarkeit für die Kinder und der gleichzeitigen Anforderung, sich bei Bedarf selbst zu ernähren und ihren Kindern etwas bieten zu können, um eine ‚gute Mutter‘ zu sein. Unterstützt wird diese Widersprüchlichkeit der Anforderungen, wie erwähnt, durch das neue Unterhaltsrecht. Dieses setzt zwar einerseits auf die Fähigkeit zur ökonomischen Eigenständigkeit von Müttern und ist somit ein weiterer Sargnagel der Hausfrauenehe (vgl. Peschel-Gutzeit 2008), andererseits sind die entsprechenden Voraussetzungen am Arbeitsmarkt, etwa bezüglich geschlechtergerechter Einkommen oder einer entsprechenden Infrastruktur, noch keineswegs geschaffen. Reflexivierung von Mutterschaft betrifft also Mütter – und Väter – aus verschiedenen Schichten systematisch unterschiedlich.

Die technokratische Operationalisierung der skizzierten Gleichzeitigkeit unter der Chiffre der ‚Work-Life-Balance‘ ist in den letzten Jahren angesichts immer noch ungelöster Vereinbarkeitsproblematiken und forciert durch dauerhaft ‚niedrige‘ Geburtenquoten zu einem zentralen politischen Thema geworden (vgl. Jurczyk 2005). Die gemeinsame öffentliche und private Verantwortung für die Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern wird als wichtiger Bestandteil nachhaltiger Familienpolitik bewertet (vgl. BMFSFJ 2002). Diese wohlfahrtsstaatliche Ausweitung von Zuständigkeit ermöglicht Emanzipationsgewinne für beide Geschlechter, birgt aber zugleich die Gefahr einer marktlogischen „Entfamilialisierung von Kindern“ (Ostner 2006). Eine Gefahr deshalb, weil der eigensinnige Familienalltag als Beziehungsleben mit allen Freuden und Konflikten im Hier und Jetzt angesichts von Output-Maximierung delegitimiert wird. Dabei sorgen wir uns also nicht um das mögliche Ende der Familie, wie wir sie – auch in ihrer teilweisen Gewaltförmigkeit, ihren auch zweckrationalen und marktförmigen Logiken sowie in ihren ideologischen Überhöhungen – kennen. Vielmehr macht uns das Schwinden gesellschaftlicher Anerkennung für alle Abhängigkeits- und Sorgebeziehungen, die ökonomischen Imperativen zuwiderlaufen, besorgt. Die Sorge ist: Eine ‚gute Mutter‘ oder ein ‚guter Vater‘ zu sein, bedeutet zunehmend, Kinder als Humankapital zu betrachten, in die es im Kalkül auf zukünftige Gewinne zu investieren gilt. Diese Gewinne werden in volkswirtschaftlicher Währung ‚gerechnet‘, praxeologisch betrachtet aber hochgradig individualisiert ‚bezahlt‘.

Als symptomatisch für einen Paradigmenwechsel in der deutschen Familienpolitik kann der Siebte Familienbericht (vgl. BMFSFJ 2006) gelten. Konzeptionell werden nun monetäre Förderung, Infrastrukturleistungen und Zeitpolitik als drei unverzichtbare Bestandteile für nachhaltige Familienpolitik vorgesehen und aufeinander bezogen (vgl. Jurczyk 2007). Damit sollen insbesondere die Rahmenbedingungen für eine Erwerbstätigkeit von Müttern verbessert werden. Gleichzeitig ist ein zweites Ziel intendiert: die Förderung von Kindern ‚bildungsferner‘ Schichten. Hierbei zeigt sich ein auffälliger diskursiver Wandel: Sind gerade konservative Konzeptionen von Mutterschaft bis heute davon ausgegangen, dass Mütter aufgrund biologischer Gegebenheiten allein über das für die Erziehung ihrer Kinder notwendige und ‚richtige‘ Wissen verfügten, wird in der öffentlichen Diskussion die Notwendigkeit außerhäuslicher Betreuungsangebote auch und gerade für Kleinkinder unter drei Jahren betont, wenn sie aus Familien in Risikolagen kommen. Hier kommt nicht zuletzt die im Anschluss an die PISA-Studie entwickelte Einsicht zum Tragen, dass das Bildungssystem in Deutschland für Kinder unterer sozialer Schichten unzureichende Förderungen bietet und familiale Defizite nicht ausgleichen kann. Die Folgen sozialer Schieflagen werden jedoch einzelnen Müttern und Familien zugeschrieben und damit individualisiert. Konkret sollen ‚bildungsferne‘ Mütter in ihrer Unzulänglichkeit, Kinder angemessen auf den Arbeitsmarkt der Zukunft vorzubereiten, unterstützt werden. Diese Diskussionen machen deutlich, dass biologische Mutterschaft keine Garantie mehr für ‚richtige‘ Erziehung zu sein scheint. Damit bröckelt das biologistische Fundament von Mutterschaft, das hierzulande zwei Jahrhunderte lang zumindest diskursive und rhetorische Geltung besaß (vgl. Thiessen/Villa 2008).

Das Kinderbetreuungsurteil des Bundesverfassungsgerichtes gibt das neue pluralistische Leitmotiv vor. Dem Staat wird demnach die Aufgabe zugeteilt, „die Kinderbetreuung in der jeweils von den Eltern gewählten Form in ihren tatsächlichen Voraussetzungen zu ermöglichen und zu fördern. […] Die Kinderbetreuung ist eine Leistung, die auch im Interesse der Gemeinschaft liegt und deren Anerkennung verlangt […]. Der Staat hat dementsprechend dafür Sorge zu tragen, dass es Eltern gleichermaßen möglich ist, teilweise und zeitweise auf eine eigene Erwerbstätigkeit zugunsten der persönlichen Betreuung ihrer Kinder zu verzichten wie auch Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden“ (BVerfG 1999).

Angenommen wird dabei, dass es eine freie Entscheidung der Eltern gäbe, jenseits von geschlechtlichen, örtlichen, milieubezogenen, ethnischen, sexualpolitischen, verwandtschaftlichen und paardynamischen oder arbeitsmarktbezogenen Faktoren. Tatsächlich zeigt sich, dass die Realität weniger als Individualisierung, sondern zutreffender als durch eine Individualisierungsideologie geprägt (vgl. Villa 2003) beschrieben werden kann: So passen etwa junge Frauen in strukturschwachen ländlichen Räumen ihre Berufs- und Familienwünsche den Möglichkeiten ihrer Umgebung an und favorisieren eher traditionelle Arbeitsteilungsmuster als Gleichaltrige in städtischen Ballungsräumen (vgl. Liebsch 2007). Ebenso ist zu bedenken, dass mit einem Teilzeitbetreuungsplatz der bislang für ca. ein Drittel der unter Dreijährigen bis 2013 vorgesehen ist, keine wirkliche Wahlfreiheit möglich ist. Schließlich muss in Betracht gezogen werden, dass angesichts sinkender Einkommen, insbesondere in den einfachen Dienstleistungs- und Fertigungsberufen, und zunehmend prekarisierter Erwerbsperspektiven viele Familien auf zwei Einkommen angewiesen sind, unabhängig ihrer Präferenz für Kinderbetreuung. Eine Wahlfreiheit, die dem gerecht werden wollte, was sie impliziert, müsste also eine Politik voraussetzen, die sowohl arbeitsmarkt- und tarifpolitisch und bezogen auf Strukturentwicklung als auch noch wesentlich umfangreicher im Ausbau der Kindertagesbetreuung aktiv wäre.

Festzuhalten ist, dass sich die nicht zuletzt dank der neuen Frauenbewegung in Gang gesetzte Diskursivierung von Mutterschaft an den ökonomisch induzierten Prekarisierungen bricht. Diese Brechungen verlaufen entlang gesellschaftlicher Ungleichheitslagen wie Geschlecht, Schicht, Ethnizität, Sexualität und Region. Elternschaft ist, dies legen jüngere Studien nahe (vgl. Jurczyk et al. 2009), zudem immer andauernde Aushandlungspraxis. In diesem „doing family“ (Jurczyk/Lange 2002; Jurczyk/Lange/Thiessen 2010) klaffen individuelle Wünsche und institutionelle sowie normative Möglichkeiten durchaus auseinander.

Entweder – oder: Arenen der Auseinandersetzung um die ‚gute Mutter‘

Diskursive Engführungen und Schließungen der Lebensmodelle von Müttern werden individuell als Druck erfahren und/oder reproduziert. Sie werden zudem als vielfältige Optionen medial inszeniert. So findet sich in Werbespots neben der glücklich strahlenden Mutter, die angesichts des Kleinkindes im Badezimmer zufrieden die sterile Toilettenschüssel als Symbol umfassender Sorge für das Kind präsentiert, auch die stolze Architektin, die der Tochter das von ihr geplante Hochhaus zeigt und mit dem aufsteigenden Ballon der Tochter auch deren Horizont ins scheinbar Unendliche öffnet: Mutterschaft also als umfassende Reinhaltung der Privatsphäre versus Mutterschaft als Türöffnerin zur öffentlichen, weiten Welt. Dass mindestens diese beiden Optionen als Identifikationsangebote diskursiv bereitgestellt werden, deutet darauf hin, dass das „doing family“ nicht nur real betrieben wird – das wurde es schon immer – sondern, und viel wichtiger, dass dies zunehmend auch bewusst geschieht (vgl. Jurczyk et al. 2009).

So titelt die neue Lifestyle-Zeitschrift für junge Eltern Nido (sic!) in ihrer jüngsten Ausgabe von Mai 2010: „Bin ich eine gute Mutter? Wie moderne Frauen ihre Selbstzweifel pflegen und bekämpfen.“ Der entsprechende Artikel ironisiert im Kern Vorstellungen von „gottgegebener universaler Mutterliebe“ (Schroeder 2010, S. 58) und setzt diesen die These entgegen, dass Mutterschaft die „Fähigkeit zum Kalkül“ (ebd.) auszeichne. Diese diene dem Überleben der menschlichen Gattung, dem Erhalt des sozialen Status oder dem individuellen Glück. Egal aber, welche Bedeutung Mutterschaft im individuellen Leben habe, so der Beitrag, die Selbstverständlichkeit der Mutterschaft sei dahin: Beherrschend sei vielmehr eine „wirklich tiefe Verunsicherung“ (ebd., S. 55), die in der permanenten Haltung eines „Ja, aber…“ münde. Die Antwort auf die Frage nach der wirklich ‚guten Mutter‘ sei die Aufgabe normativer Setzungen zugunsten eines offensiven ‚coming out‘ der nicht perfekten, weil zweifelnden Mutter: „Und das ist auch so in Ordnung“ (ebd., S. 63).

Was bei Nido stylisch, ästhetisiert und von entsprechender Produktwerbung durchsetzt daherkommt, stellt sich in der Praxis als hoch umkämpfte und konflikthafte Erfahrung von Legitimationsdruck und Rechtfertigungszumutungen dar. Wir möchten nachfolgend zumindest drei ‚Druckstellen‘ exemplarisch skizzieren, die sich aus der beschriebenen Pluralisierung und Verunsicherung ergeben:

Der individuelle Druck zeigt sich bei der Auseinandersetzung mit Leitbildern als Mutter: Wir haben in den letzten Jahren in der Bundesrepublik eine Reihe intensiver Debatten erlebt, die im Wesentlichen zwischen zwei fundamentalistischen Positionen pendeln: Zum einen die Naturalisierung und Verklärung der Mutterschaft als Berufung der Frau zum Wohle der Kinder und der Nation (Eva Herman!), zum anderen die Verklärung der erfolgreichen Karrierefrau, die ihre Familie ebenso managt wie ihren Job – und die dabei in allen Lebensbereichen (Körper, Partnerschaft, Beruf, Einfluss usw.) optimale Performances bietet (Heidi Klum). Beide Extreme knüpfen in mindestens ambivalenter Weise an vorgängige Traditionen an und bedienen lebensweltliche Verunsicherungen. Die mystifizierenden Beschwörungen der Mutterschaft als ‚wahre‘, ‚eigentliche‘Lebensaufgabe von Frauen setzen durchaus an den Eigenlogiken von Fürsorgebeziehungen an, sie bieten sich an als Option für die Unwägbarkeiten solcher Beziehungen – die sich tatsächlich nicht ohne Weiteres in die Marktrationalitäten fügen. Und in die sich viele Mütter nicht fügen wollen. Die Beschwörung der ‚Superfrau‘, die ihre Kinder wie den Rest ihres Lebens ‚managt‘, knüpft an die ehemals auch feministischen Visionen von Müttern und Frauen als ‚normale Menschen‘ an, die nur deshalb, weil sie Mütter sind, keinesfalls auf gesellschaftliche Teilhabe und Autonomie verzichten müssen. In der Spannung zwischen diesen Bildern bewegen sich alle Mütter in Deutschland, und sie erleben sich als beständig im Legitimationszwang. Die wohl meistgehörte Klage in einschlägigen Internetforen oder auf Spielplätzen ist wahrscheinlich die, dass man es niemanden recht machen könne. Alle je individuellen Praktiken stehen angesichts der fundamentalistischen Modelle unter Generalverdacht.

Eine weitere ‚Druckstelle‘ für Mütter ist die mehrfach erwähnte Eigenlogik und Unwägbarkeit des Lebens mit Kindern. Der gesellschaftlich zunehmend durchgesetzte ultraliberale Risiko-Diskurs (vgl. Schmidt-Semisch 2002), der die Eigenverantwortlichkeit von Personen angesichts ehemals kritisch-emanzipatorischer Perspektiven von ‚Mündigkeit‘ und Selbstbestimmung geradezu pervertiert, wirkt sich sehr konkret auf die Praxis von Müttern (und Vätern) aus. Die Unkontrollierbarkeit und Eigenständigkeit von Kindern führt zur Angst vor eigenen Fehlern. Technische Hochrüstung der Kindheit und Versuche der Dauerüberwachung sind die Folgen: Babyfone, Schlafüberwachungsgeräte, Helme zum Dreiradfahren, Schmuck mit eingebauten GPS-Ortungssystemen für Grundschulkinder, Chauffeur-Dienste zur Schule und zu allen anderen Aktivitäten usw. Grenzüberschreitungen, Risiko oder Zumutungen, damit Kinder Selbstwirksamkeit erfahren können, werden aus Angst verhindert. Der Dauereinsatz der ‚Helicopter-moms‘ ist gefordert (kritisch: Tschöppe-Scheffler 2009).

Der pädagogische Druck auf Mütter und Väter kommt nun auch vom Staat. Damit wird eine Kehrtwendung eingeleitet, denn der Staat hatte sich nach dem Nationalsozialismus in Westdeutschland eine strikte Zurückhaltung in innerfamiliären Angelegenheiten auferlegt. Nun gibt das Familienministerium Empfehlungen zur sinnvoll genutzten Familienzeit: „Als Qualitätszeit für Familien betrachten wir verlässliche und selbstbestimmte Zeitoptionen, die Familien bewusst für gemeinsame Aktivitäten nutzen. Dabei kann es sich sowohl um gemeinsame Ausflüge oder Spielnachmittage handeln als auch um Aktivitäten, wie etwa gemeinsames Kochen und Essen, solange sie bewusst als Familienzeit wahrgenommen werden. Reine Haushaltstätigkeiten oder Hobbys, bei denen andere Familienmitglieder auch anwesend sind, zählen hingegen nicht dazu. Für uns bemisst sich Zeitwohlstand in bewusster Interaktion, Fürsorge und Zuwendung mit dem Ergebnis von Wohlbefinden.“ (BMFSFJ 2009). Die „Humankapitalressourcen“ für morgen sollen in den Familien von heute geformt werden. Daher steht im Familienleben nicht mehr das Leben im Jetzt im Vordergrund, sondern sind pädagogisch sinnvolle Situationen im Familienalltag bewusst herzustellen. Eine Aufforderung, die sich besonders an Mütter als Haupterziehungsverantwortliche richtet. Von solcherlei Vorstellungen nicht unbeeinflusst und in Sorge um die Zukunft ihrer Kinder geben Mütter diesen Druck an Tagesbetreuungseinrichtungen für Kinder weiter: Bereits in der Krippe soll es gezielte Förderung geben, naturwissenschaftliche Experimente und „Early Mandarin“ für die Kleinsten. Wer es sich leisten kann, bezahlt Privateinrichtungen, wie die „Little Giants“ – nomen est omen. Die Expertisierung und Pädagogisierung des Familienalltags befördert eine Retraditionalisierung der allzuständigen Mutter. Wer schon mit dem Baby Zeichensprache lernen will und rund um die Uhr Frühförderung betreibt, hat für Erwerbsarbeit oder eigene Interessen keine Zeit. Andererseits werden all jene, die sich diesen Zumutungen nicht aussetzen wollen oder können (etwa Mütter aus den so genannten ‚bildungsfernen‘ Milieus), unter Generalverdacht einer Vernachlässigung ihrer Kinder gestellt. Hier sollen nicht zuletzt Projekte wie Babysimulatoren (vgl. Spies 2009) dazu verhelfen, allzu frühe Kinderwünsche abzutrainieren.

Fazit: Konflikthafte ‚Druckstellen‘ ergeben sich aus den ‚Entweder – oder‘-Positionen, egal aus welcher Richtung. Wie immer ist der Alltag dazwischen. Und klar ist auch, dass diese strukturell angelegten Widersprüche hochgradig individualisiert verhandelt werden (müssen!). Die „eigensinnigen Grenzziehungen“ (Jürgens 2009) zwischen Reproduktion und Produktion werden angesichts der gleichzeitigen massiven „Entgrenzung der Arbeit“ (ebd., S. 9 ff.) sowie eines hegemonialen Individualisierungsdiskurses lebensweltlich kaum als strukturelles Problem thematisiert, sondern geraten in den Sog von Expertisierung und Technisierung. Dass dabei die widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die medialen Bilder sowie die alltäglichen Strategien (weiterhin) hochgradig vergeschlechtlicht sind, macht die Gemengelage weder übersichtlicher noch besser.

Plädoyer für die Anerkennung der Angewiesenheit

Angesichts dieser komplexen Situation ist die Suche nach einfachen Auswegen naiv. Letztlich werden der Vielfalt von Familienformen sowie den Ansprüchen von Frauen, Müttern, Vätern und Kindern – in allen, vor allem ebenso in gleich- wie in gegengeschlechtlichen Konstellationen – nur Rahmenbedingungen gerecht, in denen konsequent die nach wie vor allzu enge Koppelung von Geschlecht und Tätigkeit aufgegeben ist. In dieser Hinsicht wären alle Beziehungsformen, in denen auf Dauer angelegte, intergenerationale Verantwortung gelebt wird, gesellschaftlich anzuerkennen und zu fördern. Gleichzeitig, und dies ist unser abschließendes Plädoyer, muss die Angewiesenheit aller Menschen auf Menschen als menschliche Bedingtheit gesellschaftlich systematisch anerkannt werden. Die derzeitige Fetischisierung von Autonomie entspricht weder den Bedürfnissen noch den Praktiken von Menschen im Allgemeinen, denen von Familien erst recht nicht. Familie muss dabei allerdings weiter gedacht werden als die traditionelle ‚Vater-Mutter-(Klein-)Kind‘-Konstellation im Sinne von intergenerationalen Verantwortungsgemeinschaften.

Die Entmythologisierung von Mutterschaft braucht auch eine neue Vorstellung der Balancen von Autonomie und Bindung. Normative Vorgaben sind hierbei eher hinderlich. Hilfreicher wäre ein öffentlicher, ehrlicher Diskurs über individuelle Erfahrungen sowie die Entkoppelung staatlicher Leistungen und Unterstützungen von normativen Vorgaben. Sichtbar würden dann Asymmetrien in Sorgekontexten, die nicht zuletzt anfällig für Gewaltverhältnisse sind. Ebenso würde die kulturelle Norm von Fürsorglichkeit als Liebe, hinter der die Arbeit verschwindet, entzaubert werden: ‚Care‘ unterliegt sowohl einer kollektiven Idealisierung als auch einer Geringschätzung (vgl. Brückner 2001). Ein un-doing gender würde es vor diesem Hintergrund Frauen und Männern erleichtern, Bindung und Autonomie zu leben.

Auf der gesellschaftspolitischen Ebene wäre eine geteilte Verantwortung für Kinder im Modell der Kindergrundsicherung in neuer Weise gewährleistet (vgl. Zukunftsforum Familie e.V.). Nicht nur würde dies bedeuten, keine Familienkonstellationen mehr zu bevorteilen, denn das Ehegattensplitting würde zugunsten der Kindergrundsicherung abgeschafft, es gäbe auch keine Bevorteilung von Kindern aus reichen Haushalten mehr, denn Kindergeld und Steuerfreibeträge würden in der Kindergrundsicherung aufgehen. Es ist dies zumindest eine Vision, wie die Leistungen und Unterstützungen für alle Kinder von normativen Fundamentalismen befreit werden könnten. Überdies könnte ein solches Modell es auch Erwachsenen erleichtern, in ihrem Lebenslauf entlang je unterschiedlicher Präferenzsetzungen ihre Bedürfnisse nach Autonomie wie nach Bindung tatsächlich als individuelle Wahl zu leben. Die Frage nach der ‚guten Mutter‘ könnte so entscheidend entschärft werden.

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Prof. Dr. Barbara Thiessen

Hochschule Landshut

Fakultät Soziale Arbeit

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Prof. Dr. Paula Irene Villa

Ludwig-Maximilians-Universität München

Institut für Soziologie

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