Mehrdimensionale Betrachtungen zu Geschlecht und Vererbung um 1900

Rezension von Heinz-Jürgen Voß

Helga Satzinger:

Differenz und Vererbung.

Geschlechterordnungen in der Genetik und Hormonforschung 1890-1950.

Köln u.a.: Böhlau Verlag 2009.

484 Seiten, ISBN: 978-3-412-20339-9, € 49,90

Abstract: Helga Satzinger beschreibt anschaulich die Entstehungskontexte genetischer und hormoneller Geschlechtertheorien von Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei wendet sie sich den in diesen Forschungen zentralen Figuren Theodor Boveri, Richard Goldschmidt und Adolf Butenandt zu. Sie widmet sich nicht nur ihren (Geschlechter-)Theorien, sondern nimmt insbesondere die Herstellungsbedingungen der Forschungsergebnisse und den Anteil von Frauen an diesen in den Blick.

Helga Satzinger legt mit Differenz und Vererbung eine brillante und innovative Schrift vor, in der aus mehreren Perspektiven die „Geschlechterordnung in der Genetik und der Hormonforschung 1890 - 1950“ in den Blick genommen wird. Im Unterschied zu „ahistorischen Formeln und dazugehörigen großen monolithischen“ Abhandlungen (S. 37) wendet sich die Autorin in dieser materialreichen und gründlichen wissenschaftshistorischen Arbeit sowohl Theorien der Genetik und Hormonforschung als auch ihren Protagonist/-innen sowie den konkreten Forschungszusammenhängen zu. Das zeitliche Fenster reicht von der Beschreibung von Erbkörperchen in Zellen Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Vorstellung der chemischen Struktur der DNA-Doppelhelix im Jahr 1953. Satzinger regt durch detaillierte Ausarbeitungen dazu an, weiterführende Fragen zur Bedeutung von Geschlecht in Forschungen zur Vererbung zu erschließen, und proklamiert gerade für die Genetik die Hoheit wissenschaftshistorischer Zugriffe: „Die Vorstellung von einem im Stoff der DNA niedergelegten Gen im Sinne einer Bauanweisung für ein Protein ist [heute] fraglich geworden und Genkonzepte generell sind zum Gegenstand der historischen Forschung avanciert.“ (S. 26)

Integrierte Betrachtungen

Für die Geschlechterforschung ist Differenz und Vererbung aus mehreren Perspektiven fruchtbar. So beschäftigt sich Satzinger ausführlich mit den vererbungswissenschaftlichen (Geschlechter-)Theorien der Arbeitsgruppen um Theodor Boveri, um Richard Goldschmidt und um Adolf Butenandt. Daneben stellt sie die Lebensumstände der Arbeitsgruppenleiter, die Beiträge der Ehefrauen zu den Forschungen sowie die Arbeitssituation in den Forschungsgruppen in den Mittelpunkt, detailliert geht sie auf weitere Mitglieder in diesen ein. Auf diese Weise gelingt ihr ein gleichzeitiger, integrierter Blick auf Forschung und Forschende. Insbesondere der Anteil von Frauen an den Arbeiten der Forschungsgruppen wird nachvollziehbar und dem Leser/der Leserin eine gute Einordnung der Personen möglich.

Die betrachtete Zeitspanne ist von politischen Umbrüchen und Veränderungen gekennzeichnet. Diese bezieht die Autorin in die Analyse ein, betrachtet u. a. die Zulassung von Frauen zum Studium im Deutschen Reich in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und die sich gleichwohl darbietenden Beschränkungen für Frauen in den wissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen. Auch den Nationalsozialismus übergeht sie nicht etwa – wie dies in solchen Untersuchungen oftmals geschieht –, sondern stellt ihn als bedeutsam für die Lebensumstände der betrachteten Wissenschaftler/-innen und für die Durchsetzung bipolarer genetischer und hormoneller Geschlechtertheorien heraus: „In den Jahren zuvor war das Konzept der genetischen und hormonellen Geschlechterwandlung und -mischung sehr breit diskutiert worden, die Dominanz des bipolaren Modells war erst in den 1930er Jahren durch das Fehlen ihrer Vertreter, die emigrieren mussten, zustande gekommen.“ (S. 399)

Unterschiedliche Theorien zur Rolle des Geschlechts bei der Vererbung

Besondere Bedeutung bei der Herausbildung genetischer Theorien um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte die Beschreibung von Chromosomen als wesentlichen Elementen bei der Vererbung und deren Einbindung in die Darstellung von Befruchtung und Embryonalentwicklung. Wichtige Beiträge werden hier mit dem Namen Theodor Boveri verbunden, der Zusammenarbeit mit der Ehefrau Marcella O’Grady-Boveri wurde bislang nicht Rechnung getragen; mit Satzingers Buch rückt nun auch diese in den Blickpunkt. Mit den Forschungen der Boveris wurde Geschlechterdifferenz zu einem Problem der Vererbungswissenschaft, dabei vertraten sie die Auffassung, dass weibliches und männliches Geschlecht gleiche oder ähnliche Beiträge zur Vererbung von Merkmalen beisteuerten.

Erblich verankerte Geschlechterdifferenz musste allerdings keinesfalls in bipolares Differenzdenken weiterer Merkmale münden. So gelangte Goldschmidt von eindeutigen entweder „weiblichen“ oder „männlichen“ Erbfaktoren zu einer lückenlosen Reihe von Übergängen der sich ausprägenden physischen und physiologischen Merkmale („Zwischenstufentheorie“). Goldschmidt setzte dabei an das „embryologische Konzept von der bisexuellen Potenz der Organismen“ (S. 255) an und folgerte, dass die Faktoren „weiblich“ und „männlich“ in ein- und demselben Organismus vorkommen könnten. Weitere Forscher vertraten ähnliche Theorien. Paul Kammerer betonte im Jahr 1927, dass es beim Menschen nicht entweder „weiblich“ oder „männlich“ gebe, sondern dass es sich bei jedem Menschen um ein „Doppelgeschlecht“ handele (S. 259 f.). Auch aus Forschungen zu der Dissertation von Otto Weininger aus dem Jahr 1903 ist die Theorie des gleichzeitigen Frau-und-Mann-Seins eines jeden Menschen bekannt; um 1900 war sie immerhin dazu geeignet, Streitigkeiten darum zu entfachen, wer diese Theorie zuerst beschrieben hatte.

Auch im Hinblick auf die Rolle der Hormone wurde in den 1920er und 1930er Jahren vermehrt postuliert, dass diese keinesfalls eindeutig nach der Herkunft aus einem „weiblichen“ oder „männlichen“ Organismus zu scheiden waren. Vielmehr zeigten sich in Untersuchungen „weibliche“ und „männliche“ (Geschlechts-)Hormone in ein- und demselben Organismus (S. 295, 376 f.). Obgleich sich auch in den Hormonstudien der Arbeitsgruppe um Adolf Butenandt widersprüchliche Ergebnisse bezüglich „weiblicher“ und „männlicher“ Hormone und deren bipolar-geschlechtlicher Verteilung zeigten, folgerte Butenandt das Vorhandensein eindeutig „weiblicher“ und eindeutig „männlicher“ Hormone. Er setzte „intersexuelle Hormone“ hinzu, als weitere Art von Hormonen und nicht im Sinne einer Mischung wie in der Zwischenstufentheorie (S. 385, 396 f.).

Frauen als assistierende und kooperierende Wissenschaftlerinnen

Frauen durften sich an Universitäten im Deutschen Reich Ende des 19. Jahrhunderts ausnahmsweise, ab Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend auch regulär immatrikulieren. Marcella O’Grady-Boveri gehörte zu den Frauen – in der Regel aus dem Ausland –, die bereits vor 1900 Zugang zu einer Universität im Deutschen Reich erlangten. Satzinger beleuchtet den starken Anteil, den die Wissenschaftlerin am Erfolg ihres Ehemanns hatte (S. 61 f., 67 f.).

Über Goldschmidts Ehefrau ist hingegen wenig bekannt, aufschlussreich ist indes, dass in Goldschmidts Arbeitsgruppe Frauen in der Position von Assistentinnen vielfältig anzutreffen waren (u. a. S. 203 f., 209 f.), ebenso arbeitete er mit selbständig forschenden Wissenschaftlerinnen zusammen. Auch bei Butenandt leisteten Frauen als Assistentinnen erhebliche Beiträge zur Forschungsarbeit, so auch seine (spätere) Ehefrau Erika von Ziegner (S. 314 f., 331 f.). Satzinger arbeitet für Butenandts Arbeitsgruppe allerdings deutlich heraus, dass es eigenständige Wissenschaftlerinnen dort sehr schwer hatten, und expliziert dies für die Wissenschaftlerinnen Rhoda Erdmann und Else Knake.

Nationalsozialismus – Abbruch der Karriere oder Sprungbrett zur Karriere

Sowohl für die Entwicklung der Geschlechtertheorien als auch für die Arbeitssituationen von Frauen stellt sich das Jahr 1933 als bedeutsamer Umbruch dar. Richard Goldschmidt verlor 1936 seine Stellung am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin und fand in den USA keine vergleichbaren Forschungsbedingungen mehr vor. Anschaulich werden die Konsequenzen nachgezeichnet, die sich mit dem Nationalsozialismus für Goldschmidt, die Wissenschaftler/-innen aus seiner Arbeitsgruppe und weitere (jüdische) Forschende ergaben. Butenandt als Mitglied der NSDAP und Anhänger des Nationalsozialismus konnte hingegen einen erheblichen Karrieresprung verbuchen, 1936 wurde er Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts. 1939 erhielt Butenandt den Nobelpreis für Chemie, auch nach 1945 brach seine Karriere nicht ab, sondern er wurde schließlich Präsident der Max-Planck-Gesellschaft.

Interessant ist es festzuhalten – und das wird mit dieser Ausarbeitung Satzingers besonders deutlich –, dass sich auch direkte inhaltliche Auswirkungen im Forschungsfeld genetischer und hormoneller Geschlechtsbestimmung ergaben. So begünstigte die Verdrängung Goldschmidts den Aufstieg simpler bipolarer Geschlechtermodelle und simpler Gen-Modelle (S. 435 f.). Die komplexen Modelle, die Goldschmidt bezüglich der Geschlechtsentwicklung und der Gen-Wirkung vertrat, konnten durch die verschlechterten Arbeitsbedingungen nicht weiter fundiert werden.

Fazit

Differenz und Vererbung ist uneingeschränkt zu empfehlen. Insbesondere die Aufdeckung der Verwobenheit und gegenseitigen Beeinflussung von sozialen Geschlechterordnungen und wissenschaftlicher Erforschung von Geschlechterdifferenzen/-gleichheiten, die detaillierte Extraktion unterschiedlicher genetischer und hormoneller Geschlechtertheorien sowie die Einordnung der Forschenden in den politischen Kontext setzt Standards für sich anschließende Forschungsvorhaben nicht nur der Geschlechterforschung.

URN urn:nbn:de:0114-qn112286

Dr. phil. Heinz-Jürgen Voß

Dr. phil., Dipl. Biol.; Lehraufträge an verschiedenen Universitäten

Homepage: http://www.heinzjuergenvoss.de

E-Mail: voss_heinz@yahoo.de

Creative Commons License
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter http://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons