Katholische Leitbilder von Ehe und Familie zwischen gesellschaftlicher Realität und politischer Auseinandersetzung

Rezension von Petra Behrens

Lukas Rölli-Alkemper:

Familie im Wiederaufbau.

Katholizismus und bürgerliches Familienideal in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1965.

Paderborn u. a.: Schöningh 2000.

716 Seiten, ISBN 3–506–79994–0, DM 142,00 / SFr 125,00 / ÖS 1037,00

Abstract: Lukas Rölli-Alkemper zeichnet in seiner Untersuchung den Wandel katholischer Leitbilder von Ehe und Familie, ihre Akzeptanz im katholischen Milieu sowie ihre gesellschaftliche und politische Durchsetzungskraft in der westdeutschen Nachkriegszeit nach. Die Arbeit gliedert sich in vier methodisch unterschiedliche Teile: 1. eine ideengeschichtliche Untersuchung über Kontinuitäten und Veränderungen der katholischen Leitbilder; 2. eine Analyse der Akzeptanz dieser Leitbilder in der katholischen Bevölkerung auf der Grundlage von statistischem und demoskopischem Material sowie zeitgenössischen soziologischen Untersuchungen und katholischer Ratgeberliteratur; 3. eine sozialgeschichtlich angelegte Untersuchung über die Entwicklung der Familienseelsorge und die Familienarbeit der katholischen Verbände; 4. eine politikgeschichtliche Analyse der politischen Interessenorgansiation sowie der Möglichkeiten und Grenzen der politischen Einflussnahme auf spezifische sozial- und familienrechtliche Entscheidungen in der Ära Adenauer. Obwohl nicht im Zentrum der Untersuchung stehend, werden dabei auf allen vier Ebenen Aspekte der Rekonstruktion der Geschlechterbeziehungen in der Nachkriegszeit berührt.

Die „Rekonstruktion der Familie“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit und den Anfangsjahren der Bundesrepublik wurde in den letzten Jahren vor allem aus der Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung untersucht. Fragen nach dem Status von Frauen und nach der Beziehung zwischen den Geschlechtern hatten im Zentrum der politischen und gesellschaftlichen Debatten um Ehe und Familie in dieser Zeit gestanden. Die Arbeit von Lukas Rölli-Alkemper nähert sich aus einer anderen Perspektive dem Thema Ehe und Familie in der westdeutschen Nachkriegszeit. War in den bisherigen Untersuchungen der Einfluss der katholischen Kirche auf die Familiengesetzgebung in der Ära Adenauer eher ein Randaspekt, so richtet sich hier das Hauptaugenmerk auf die familialen Leitbilder und die Familienpolitik im deutschen Katholizismus in den Jahren 1945 bis 1965. Die Untersuchung von Genderaspekten steht dabei zwar nicht im Zentrum, Fragen nach der (Re)konstruktion von Geschlechterrollen ziehen sich jedoch wie ein roter Faden durch die gesamte Arbeit.

Rölli-Alkemper widerspricht einer Sichtweise, nach der diese Zeit ausschließlich als restaurative Epoche im Hinblick auf Ehe und Familie gewertet, der Rückzug auf den privaten Raum der Familie ausschließlich auf eine christlich konservative Wertordnung zurückgeführt und familienrestaurative Tendenzen in der Familienpolitik dem gestiegenen Einfluss konservativ-katholischer Kräfte angelastet werden. Diese Perspektive wird seiner Ansicht nach den vielfältigen Einstellungen zu Ehe und Familie im deutschen Katholizismus nicht gerecht und übersieht die Ambivalenz von Restauration und Modernisierung in der frühen BRD. Dagegen geht Rölli-Alkemper von einer Wechselwirkung zwischen dem Wandel katholischer Leitbilder von Ehe und Familie und den gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Debatten aus. In seiner Untersuchung unterscheidet er zwischen drei Ebenen des Katholizismus als „sozialem Gebilde“: der Klerikerkirche, dem katholischen Milieu und dem politischen Katholizismus. Eine Analyse dieser verschiedenen Ebenen und ihrer jeweiligen Handlungsmöglichkeiten erfordert nicht nur ein interdisziplinäres Herangehen, sondern auch die Auswertung von Quellen unterschiedlicher Provenienz. Entsprechend gliedert sich die Arbeit in vier Teile mit einer jeweils spezifischen methodischen Herangehensweise.

Konstanten und Veränderung im katholischen Leitbild von Ehe und Familie

Im ersten, ideengeschichtlich angelegten Teil seiner Untersuchung zeichnet er die Konstanten und Veränderungen im katholischen Leitbild von Ehe und Familie und in den damit verbundenen Normen nach. Ehe und Familie wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch die katholische Kirche hohe Bedeutung zugemessen. Die Familie sollte entsprechend der naturrechtlich geprägten Lehrtradition als „Urzelle der Gesellschaft“ die Grundlage für die Wiederverchristlichung der Gesellschaft bilden. Bereits seit den 30er Jahren war das kirchliche Leitbild durch ein „Spannungsfeld zwischen institutionellem und personalen Verständnis geprägt“. (S. 607) Die kirchliche Ehelehre betonte die naturrechtlich vorgegebene Wesensstruktur der Ehe. Ein solches Eheverständnis zeichnete sich durch die Bindung der Ehe an die Zeugungsfunktion, die Unauflöslichkeit der Ehe sowie eine klare Rollenverteilung und Hierarchie zwischen Mann und Frau aus. Gleichzeitig hatte Papst Pius XI. in seiner Eheenzyklika durch die Betonung der ehelichen Liebe auch Elemente einer personal geprägten Ehetheologie aufgenommen. Der Wandel hin zu einem personalen Ehe- und Familienverständnis bis zum II. Vatikanischen Konzil (1962–1965) war vor allem für das Geschlechterverhältnis von zentraler Bedeutung. Rölli-Alkemper geht hier vor allem auf Tendenzen in Richtung eines partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen den Ehepartnern, die Definition der Geschlechterrollen und die Berufstätigkeit von Frauen ein. Einen weiteren Aspekt stellt die Entwicklung hin zu einem Ideal der „verantworteten Elternschaft“ sowie Fragen der Ehe- und Sexualmoral dar. Dabei kommt der Frage der Bekämpfung des „Ehemissbrauchs“ – sprich der Empfängnisverhütung – zentrale Bedeutung zu. Papst Pius XI. hatte die lehramtliche Autorität in Fragen der Ehemoral betont und ihre Beachtung wurde in der Seelsorge mit verstärkten Mitteln eingefordert. Die Wirkung des Kampfes gegen den „Ehemissbrauch“ wird im nächsten Kapitel deutlich. So schildern Frauen, die sich dem allgemeinen Trend zur Zwei-Kind-Familie anschlossen, in einer Untersuchung aus den 50er Jahren ihre Gewissenskonflikte in der Frage der Empfängnisverhütung. Vor allem die Beichte wurde zunehmend zu einer psychischen Belastung. Zentraler Gegenstand dieses Kapitels ist die Akzeptanz der Ehe- und Familienleitbilder in der katholischen Bevölkerung. Der Verfasser greift hier auf statistische und demoskopische Daten sowie zeitgenössische soziologische Untersuchungen zurück und wertet die katholische Ratgeberliteratur aus.

Während die Anpassung an kirchliche Normen in Bezug auf Eheschließung, Unauflöslichkeit der Ehe sowie Kinderzahl über statistische Daten erschlossen werden kann, ist das Material bezüglich der Gestaltung des Ehe- und Familienalltags sehr dürftig. Die Annäherung über die Auswertung von Ratgeberliteratur und demoskopischen Untersuchungen gelingt hier nur sehr bedingt. Vor allem im Hinblick auf die Fragen nach der Verbreitung eines partnerschaftlichen Eheideals und nach dem Aufbrechen traditioneller Geschlechterrollen bleiben die Aussagen sehr spekulativ. Auch wenn in diesem Kapitel deutlich wird, dass sich katholische Familien verstärkt an die gesamtgesellschaftliche Entwicklung anpassten und somit nicht einfach von einer Renaissance katholischer Werte gesprochen werden kann, wird die Wirkungsmacht der propagierten Normen und Werte von Rölli-Alkemper unterschätzt. Eine Untersuchung des Ehealltags sowie der Konflikte, die sich aus dem Nebeneinander von traditionellen Werten und Anpassung an die gesellschaftlicher Modernisierung ergaben, muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.

Entwicklung von Familienseelsorge und Familienarbeit

Dass auch in einer Zeit des Umbruchs traditioneller Werte große Teile der katholischen Bevölkerung die Lösung ihrer Fragen von der Kirche erwarteten, wird am Aufschwung der Ehe- und Familienbildung zu Beginn der 60er Jahre deutlich. Die Entwicklung einer spezifischen Familienseelsorge und umfangreichen Familienarbeit der katholischen Verbände zeichnet der Verfasser im dritten Teil der Untersuchung nach. Hierbei wird vor allem ein neues Selbstverständnis der Laien gegenüber Klerus und Kirchenführung sowie deren Anteil an der Durchsetzung eines personalen Eheleitbildes deutlich. Die Fixierung auf traditionelle Geschlechterrollen im katholischen Leitbild führte auch in der Familienarbeit zu einer ausgeprägten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die sich erst Ende der 50er Jahre allmählich auflöste. Während die Frauenverbände die praktische Vorbereitung auf das Familienleben und die konkrete Hilfe in Problemsituationen organisierten, beschränkten sich die katholischen Männerorganisationen auf die Verbreitung katholischer Ehe- und Familienideale in der Bildungsarbeit und der politischen Auseinandersetzung (vgl. S. 411).

Möglichkeiten und Grenzen politischer Einflussnahme

Um die Organisation der politischen Interessenwahrnehmung für die Familie im deutschen Katholizismus geht es auch im vierten Teil der Arbeit. Neben einer Analyse der Geschichte und Arbeit des „Familienbundes der deutschen Katholiken“ als „Instrument zur Durchsetzung einer familiengerechten Gesellschaftsordnung“ (S. 485) steht hier vor allem die Debatte um den Familienlastenausgleich und die Familienrechtsreform im Mittelpunkt. Dabei werden die sozialethischen Grundkonzepte, die innerkatholischen Auseinandersetzungen und die Möglichkeiten und Grenzen der politischen Einflußnahme in der Ära Adenauer untersucht. Deutlich wird, dass die Kirche in Anbetracht der gesellschaftlichen Veränderungen und Kräfteverhältnisse ihre Vorstellungen nur begrenzt durchsetzen konnte und zu einer zumindest partiellen Anpassung gezwungen war. Vor allem am Beispiel der Diskussion um das Entscheidungsrecht des Mannes in Ehe- und Familienfragen wird deutlich, dass die konservativen Prinzipien einer hierarchischen Ordnung längst nicht mehr von allen Katholiken geteilt wurden. Insbesondere Teile der katholischen Frauenbewegung traten für ein partnerschaftlich orientiertes Eheideal ein.

Rölli-Alkemper vollzieht in seiner äußerst materialreichen und lesenswerten Studie den Wandel traditioneller katholischer Leitbilder in Anbetracht gesellschaftlicher Modernisierung nach. In der Frage der Geschlechterbeziehungen bedeutet dies – so das Ergebnis seiner Untersuchung – eine Entwicklung zu einer partnerschaftlichen Gestaltung des Ehe- und Familienlebens, wobei die geschlechtsspezifische Rollenverteilung jedoch unangetastet blieb.

URN urn:nbn:de:0114-qn023103

Dipl. Pol. Petra Behrens

Freie Universität Berlin, Institut für Politikwissenschaft

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