Detailreiche Perspektive auf die klassische Familie mit Kindern – und viele Fragen zu anderen Familienformen

Rezension von Ortrun Brand

Martina Heitkötter, Karin Jurczyk, Andreas Lange, Uta Meier-Gräwe (Hg.):

Zeit für Beziehungen?

Zeit und Zeitpolitik für Familien.

Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2009.

434 Seiten, ISBN: 978-3-86649-187-8, € 39,90

Abstract: Der Sammelband rund um die Analysen zur Zeitverwendung in Familien und die Gestaltung von zeitbezogener (Familien-)Politik liefert zahlreiche Analysen zum familiären Ist-Zustand: von der zeitlichen Gestaltung des Essalltags über den Druck durch sich ausweitende Arbeitszeiten bis hin zu der Frage, welche Formen von Vereinbarkeit wo und wie umzusetzen sind, um Familien Zeitwohlstand zu ermöglichen. Zusammengeführt werden dabei interdisziplinäre Perspektiven der Zeit- mit denen der Familienforschung. Die Herausgeber/-innen treten mit dem expliziten Anspruch eines erweiterten Familienbegriffs an, schränken diesen jedoch für den Sammelband weitgehend auf die klassische Familie ein, die sich vor allem durch das Vorhandensein von Kindern konstituiert. Als Ergebnis lässt sich zum einen festhalten, dass die Art und Weise des Umgangs und der subjektiven Rezeption von Zeit offenbar stark von Bildungsniveau und Einkommen der (erwachsenen) Familienmitglieder abhängt. Zum anderen wird das – ebenfalls durchaus bekannte – Ergebnis der hohen Geschlechtsspezifik der Zeitverwendung bestätigt, das einmal mehr die herausragende Rolle der Erwerbstätigkeit für die Modernisierung der Geschlechterverhältnisse in den Blick rückt. Der Sammelband überzeugt durch den Umfang und den Detailreichtum der präsentierten Forschungsergebnisse und auch dadurch, dass jenseits von Alltag und Erwerbstätigkeit auch die Sphäre der politischen Gestaltung und des Umgangs mit Zeit in den Blick genommen werden. Offen bleibt allerdings die Frage, wie eine von einem traditionellen Geschlechter- und Familienbild befreite Analyse von Zeit in unterschiedlichen familiären Formen des Zusammenlebens von Menschen gestaltet werden könnte.

Zu Gegenstand und Aufbau des Sammelbands

Der Sammelband von Martina Heitkötter, Karin Jurczyk, Andreas Lange und Uta Meier-Gräwe mit dem Titel Zeit für Beziehungen? Zeit und Zeitpolitik für Familien basiert auf der Annahme, dass die Verzeitlichung der Gesellschaft in hohem Maße voranschreitet und Zeit eine immer wichtigere Dimension für den Alltag der Menschen und für weite Teile der Bevölkerung wird (vgl. S. 10). Der Diskurs um Zeitpolitik und Veränderung von Zeit hat dabei, so die Herausgeber/-innen, Familie lange Zeit ausgeblendet, was zu einem Mangel an Kenntnissen über die reale Zeit-Situation in Familien geführt hat. Der Band ist an eine breite Fachöffentlichkeit gerichtet und soll „einen ersten Einblick in die aktuelle Relevanz, die Gestaltbarkeit und die empirischen Phänomene von Beziehungs- und Familienzeiten“ (S. 12 f.) ermöglichen.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert, deren wesentliche Ergebnisse hier kurz resümiert werden, bevor exemplarisch auf ausgewählte Beiträge des Bandes eingegangen wird.

Im ersten Teil zur „Problemanalyse von Zeitnot und entwerteter Zeit“ zeigt sich zunächst, dass die Veränderung der Erwerbs- und Familienzeiten zu Reibungsproblemen führt; zentral ist die Frage, wie gemeinsame Familienzeiten und die Abstimmung und das Verhandeln darüber hergestellt werden können. Arbeitszeitverkürzung und Selbstbestimmung hinsichtlich des Ausmaßes von Flexibilität könnten Lösungen sein (Karin Jurzcyk, „Familienzeit – knappe Zeit? Rhetorik und Realitäten“). Die Abwertung von Zeit durch Erwerbslosigkeit eines oder beider Elternteile zeigt einerseits stark geschlechtsspezifische Muster der Bewältigung und Bewertung dieser Situation; andererseits bestehen erhebliche Erkenntnislücken im Hinblick auf die Differenzen unterschiedlicher Familienformen bei der Verwendung von Zeit unter den Bedingungen der Erwerbslosigkeit (Benedikt Rogge, „Entwertete Zeit? Erwerbslosenalltag in Paarbeziehung und Familie“). Alleinerziehende stehen vor noch größeren Zeitproblemen als in anderen Familienformen lebende Menschen, haben jedoch gleichzeitig den Wunsch nach zeitlich möglichst voller Erwerbstätigkeit; passgenaue Kinderbetreuung fehlt jedoch häufig (Irene Kahle und Uta Meier-Gräwe: „Balance zwischen Beruf und Familie – Zeitsituation von Alleinerziehenden“).

Im zweiten Abschnitt des Sammelbandes zum Thema sind unterschiedliche Analysen zur konkreten Verwendung von „Zeit in der Familie“ versammelt. Der Blick auf Zweierbeziehungen zeigt, dass Paarbeziehungen zum einen durch zeitliche Abfolgen gekennzeichnet sind. Zum anderen wirken Einflüsse von außen, zum Beispiel aus der Arbeitswelt, auf das Ausmaß der Zeit, die das Paar für sich hat, ein (Karl Lenz: „Zeit in und Zeit für Zweierbeziehungen“). Das „doing familiy“ bzw. die Verhandlungen über die Verwendung von Zeit in der Familie zeigen, dass insbesondere der Medienkonsum hier eine wichtige Stellung einnimmt; dieser zeitige jedoch nur in sozial benachteiligten Milieus negative Wirkungen (Andreas Lange: „Wer hat an der Uhr gedreht? Einblicke in die Zeitverwendung von Kindern und ihren Eltern“). Bei der Betrachtung von Ernährungsmustern wird das bekannte Ergebnis bestätigt, dass die Inanspruchnahme von (un-)bezahlter Hilfe im Haushalt nach sozialer Schicht und Qualifikationsniveau variiert. Weitgehend gleichberechtigte Arbeitsteilung bei Paaren findet dann statt, wenn beide Elternteile erwerbstätig sind (Christine Küster: „Mahl-Zeit?! Ernährungsmuster von Familienhaushaltstypen“). Der Essalltag von Familien unterscheidet sich zudem nach Bildungsgrad, Einkommen etc. (Uta Meier-Gräwe: „Zeitliche Choreographien des Essalltags von Familien in der flexibilisierten Gesellschaft“). Im aktuellen Wandel von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen bestehen vielfältige Potentiale für die Einbeziehung der Väter in die Familienarbeit, die durch Veränderungen eben nicht nur auf der individuell-identitären Ebene, sondern gerade auch auf der strukturellen Ebene zu befördern seien (Michael Meuser: „Keine Zeit für die Familie? Ambivalenzen involvierter Vaterschaft“).

Im dritten Abschnitt zur „Zeitliche(n) Verschränkung verschiedener Lebensbereiche“ wird zunächst in komparatistischer Perspektive gezeigt, dass für private Arbeitsteilung und Geschlechterarrangements einmal mehr die Frage, ob Kinder zu betreuen sind, den Ausschlag gibt. Der Vergleich von Großbritannien und Deutschland im Hinblick auf wohlfahrtsstaatliche Aspekte liefert zudem das Ergebnis, dass die Erwerbsmuster und Arbeitsteilung in Deutschland sich eher als Zuverdienermodell und im Vergleich zu Großbritannien als Modell mit mehr Beteiligung der Väter umschreiben lassen (Frank Bauer: „‚Nicht viel Neues in Küche und Kinderzimmer‘. – Zur Beharrlichkeit der traditionellen geschlechtsspezifischen Zeitverwendung in Deutschland und Großbritannien“). Erwerbstätige Eltern sind in enormem Umfang durch ihre Arbeitszeit in Anspruch genommen. Die politische Forderung lautet deshalb, dass Flexibilität in der Arbeitszeit vor allem von den Akteuren der Familie selbst bestimmt werden solle (Christina Klenner und Svenja Pfahl: „Jenseits von Zeitnot und Karriereverzicht – Wege aus dem Arbeitszeitdilemma“). Eltern der mittleren Generation gehören trotz der hohen zeitlichen Belastung durch Fürsorgetätigkeit zu den sehr engagierten Bevölkerungsgruppen; die Elternschaft gibt dabei häufig den Anstoß zum Tätigwerden. Das Ausmaß des Engagements von Müttern (von Kleinkindern) hängt dabei nicht nur von der Verfügbarkeit von Kinderbetreuung, sondern auch von der Beteiligung der Väter an der Betreuung der Kleinkinder ab (Sabine Geiss und Sibylle Picot: „Familien und Zeit für freiwilliges Engagement“). Zeit ist notwendig für die Überwindung des Raumes. Die Wegemuster und die dafür verwendete Zeit variieren stark nach Geschlecht. Wichtige Stationen des Alltags sollten möglichst unmotorisiert erreicht werden (Caroline Kramer: „‚Taxi Mama‘ und noch mehr: Wegezeiten für Haushalt und Kinderbetreuung“).

Im letzten Abschnitt des Sammelbands zur „Zeitpolitik“ zeigt sich, dass bei den unterschiedlichen Vereinbarkeitsmodellen die notwendige Zeit für das örtliche Lebensumfeld bzw. für die „lokale Gemeinschaft“ (S. 361) zu berücksichtigen ist. Dabei ist nicht nur „das Leben“ passfähig zu machen in Bezug auf „die Erwerbsarbeit“, sondern eben auch die Erwerbssphäre entsprechend anzupassen (Ulrich Mückenberger: „‚Vereinbarkeit‘ in der städtischen Erwerbsgesellschaft“). Auf konzeptioneller Ebene präsentiert sich Zeitwohlstand als Begriff und Phänomen nachindustrieller Zeiten. Damit sollen Veränderungen in der Zeitverwendung reflektiert werden können (Jürgen Rinderspacher: „Zeitwohlstand und Zeitsouveränität – gegensätzliche Konzepte oder zwei Seiten derselben Medaille?“). Zeit- und Familienpolitik sind intrinsisch miteinander zu verknüpfen. Vor allem sollten lokale zeitpolitische Ansätze am örtlichen, d. h. räumlich nahen Umfeld von Familien ansetzen, um Zeitwohlstand (für Familien) zu vergrößern (Martina Heitkötter: „Der ‚temporal turn‘ in der Familienpolitik – zeitpolitische Gestaltungsansätze vor Ort für mehr Zeitwohlstand in Familien“).

Ausgewählte Beiträge

Der Sammelband tritt mit dem konzeptionellen Anspruch eines ‚weiten‘ Familienbegriffs an, schränkt diesen Anspruch aber gleichzeitig dahingehend ein, zunächst v. a. Familien mit Kindern betrachten zu wollen (Heitkötter, Martina; Jurczyk, Karin; Lange, Andreas; Meier-Gräwe, Uta: „Familien – ein zeitpolitisches Entwicklungsland“, S. 12, 23). Deshalb sollen im Folgenden einige ausgewählte Beiträge des Bandes näher in den Blick genommen werden, um zum einen zu prüfen, ob Ansatzpunkte für ein erweitertes Familienkonzept ausgemacht werden können, sowie ob und inwiefern ‚andere‘ spezifische Perspektiven auf Zeit auch gleichzeitig auf die Notwendigkeit eines anderen Familienbegriffs verweisen. Ausgewählt wurden dazu der Beitrag von Rogge, der sich mit Zeitumgang abseits von Erwerbstätigkeit, d. h. in Erwerbslosigkeit, befasst, des Weiteren der Beitrag von Lenz, in dem explizit das Paar an sich und eben nicht nur die Konstellation von Menschen mit Kindern untersucht wird, und schließlich der Beitrag von Ulrich Mückenberger, der nicht nur fragt, welche klassischen Konstellationen den gängigen Vereinbarkeitskonzepten unterliegen, sondern als einen möglichen Lösungsansatz eine räumlich-lokale Perspektive integriert.

Der Beitrag von Benedikt Rogge („Entwertete Zeit? Erwerbslosenalltag in Paarbeziehung und Familie“) setzt an der Diagnose der Laborisierung der Alltagszeit an, d. h. an der durch die Industrialisierung initiierten Ausrichtung der gesamten Zeit eines Individuums an der Erwerbsarbeit. Bei Verlust der Erwerbsarbeit müsse man deshalb andere, subjektiv sinnvolle Formen der Zeitverwendung finden (vgl. S. 68 f.). Rogge beginnt mit einem statistischen Aufriss zur Erwerbslosigkeit, um zu zeigen, dass Erwerbslosigkeit in vielen Familien zum Bestandteil des Alltags geworden ist. Er verwendet dabei Zahlen aus dem Jahr 2005, was insofern etwas bedenklich ist, als erstens das Inkrafttreten des SGB II durchaus mit statistischen Problemen verbunden war, und zweitens ab der o. g. Zusammenlegung die Zahl der Empfänger/-innen von Arbeitslosengeld II bis einschl. 2006 deutlich angestiegen ist, was auch die Proportionen der von Erwerbslosigkeit betroffenen Familien verändert haben dürfte. Dies mag zwar insgesamt dem Entstehungszeitpunkt des Textes geschuldet sein; gleichwohl wäre eine kritische Fußnote zu dieser Datensituation für die Leserin hilfreich gewesen. Rogge betrachtet im Folgenden in mehreren Schritten die Auswirkungen der Erwerbslosigkeit auf die Zeitverwendung der Familien, die sich in – je nach Familientypus – erheblichen Belastungen finanzieller, psychischer und gesundheitlicher Art für alle Familienmitglieder manifestieren. Alternative Formen der Zeitverwendung stellen das Ehrenamt und die Freizeit dar, für die aber unklar ist, wie sie sich auf die Familie auswirken. Anhand der Auswertung von Zeitverhandlung in Familien zeigt Rogge im Hinblick auf die Veränderung bei der Aufteilung von Hausarbeit, dass es hier vor allem der Erwerbstätigkeitsstatus der Frau ist, der relevant ist für die Frage, ob und inwiefern die (erwerbslosen) Männer mehr Hausarbeit übernehmen. Rogge betont darüber hinaus die Geschlechtsspezifik der Aufgabenverteilung in der Familie. Er bezweifelt, dass die vor allem für die Frauen als Mütter nur negativ sein müsse, da Haus- und Familienarbeit „Quellen sinnvoller Zeitverwendung“ (S. 77) sein könnten; diese alternative Rolle stehe Männern jedoch seltener offen als Frauen. Im Weiteren weist Rogge nach, dass Art und Ausmaß des Effekts der Erwerbslosigkeitskrise vom so genannten Paar-Typus abhängig sind; so ist das Ausmaß der damit verbunden Krise in traditionalen Paar-Typen weitaus höher als in familistischen und individualisierten Paar-Typen. Insgesamt gerät diese Interpretation der Ergebnisse vorhandener Studien jedoch deutlich zu kurz; so bezieht sich Rogge etwa hinsichtlich der Alternativrollen durch Haus- und Familienarbeit auf Studien von 1990 und 1991 sowie auf eine Studie zu einem anderen wohlfahrtstaatlichen Kontext (Großbritannien) von 2004; und dies bedeutet, dass sich diese Interpretation für die Bundesrepublik lediglich auf die westlichen Bundesländer beziehen kann; die davon zu unterscheidenden Geschlechterrollen in den östlichen Bundesländern werden also nicht berücksichtigt. Zwar wird in einer Fußnote der Gedanke geäußert, dass die Rolle als „Nur-Hausfrau“ auch für die Mütter negativ sein könne; weitergehende Reflexionen, die sich u. a. am Ost-West-Unterschied festmachen könnten, erfolgen jedoch nicht. Dieses Manko der Nicht-Reflexion der unterschiedlichen Geschlechter- und mithin Familienbilder in Ost und West zieht sich durch den gesamten Beitrag. Dies lässt vermuten, dass dem Beitrag ein über recht klassische Frauen- und Männerbilder transportiertes, stark vereinfachendes Familienbild westdeutscher Prägung zugrundeliegt, was der aktuellen Realität der unterschiedlichen Regionen der Bundesrepublik so nicht gerecht wird. Auch wenn der Beitrag durch eine sehr umfassende Betrachtung des Forschungsstandes zum Thema Erwerbslosigkeit und Zeitverwendung hervorsticht, so ist doch auffällig, dass der Familienbegriff nicht explizit benannt wird und offenbar auch je nach betrachteter Studie changiert.

Mit einem explizit ‚anderen‘ Familienbegriff tritt Karl Lenz in seinem Beitrag „Zeit in und Zeit für Zweierbeziehungen“ an: Er widmet sich eben nicht nur solchen Lebensformen, bei denen Kinder im Haushalt leben, sondern ausschließlich der Zweierbeziehung bzw. dem Paar. Lenz stützt sich dabei v. a. auf die Ergebnisse seines Forschungsprojekts, bei dem u. a. Beziehungsratgeber und offene Interviews mit Paaren ausgewertet wurden. Die Eigendynamik einer Zweierbeziehung beschreibt Lenz dabei durch ein Ablaufmodell, in dem zwischen einer Aufbau-, Bestands- und einer Auflösungsphase differenziert wird. Insbesondere der Beziehungsanfang erfordere einen hohen Zeitaufwand für die Beteiligten, der aber subjektiv nicht als Belastung wahrgenommen werde (vgl. S. 120). Nach diesen Betrachtungen zum „Gewinnen“ oder Ausdehnen gemeinsamer Zeit richtet Lenz in seinem Beitrag die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie Paare Zeit reduzieren oder verlieren. Zwei wichtige Faktoren dafür seien Routinisierungsprozesse sowie die Entscheidung für Kinder. Zentrales Ergebnis ist, dass eine stabile Beziehung vor allem durch das Verbringen von viel Zeit miteinander gekennzeichnet ist. Externe Einflüsse wie die gestiegenen Ansprüche an berufliche Mobilität können sich als Stressoren für die Zweierbeziehung auswirken; Entfremdung und verminderte Interaktion seien mögliche Folgen. Die Ausdehnung der Arbeitszeit und deren Folgen für die Paarzeit seien ein unterbelichtetes Phänomen. Die Flexibilisierung von Arbeitszeit müsse nicht notwendigerweise eine Einschränkung für die Beziehung sein, sei es aber dann, wenn die Flexibilität nicht selbst bestimmt werden könne (vgl. S. 132). Zeit verknappe sich durch externe Einflüsse, und wie diese knappe Zeit zur Zufriedenheit beider verwendet werden könne, sei Gegenstand für und Herausforderung für die Verhandlungen des Paares. Der Beitrag von Lenz überzeugt zum einen durch seine Kohärenz; die Generierung der Ergebnisse v. a. aus einem eigenen Forschungsprojekt führt zu einem guten Gesamtzusammenhang der Aussagen. Positiv fällt zudem die kritische Betrachtung herangezogener anderer Studien hinsichtlich ihrer zeitlichen Einordnung und daraus resultierender ‚Altersspuren‘ auf (vgl. S. 121). Die ‚andere‘ Perspektive durch einen anders gelagerten Familien- bzw. Beziehungsbegriff bestätigt zwar einerseits die zentrale Bedeutung der (zeitlichen) Zäsur des Kinderkriegens in Beziehungen; dass aber auch Routinisierungsprozesse und damit einhergehende Verhandlungsnotwendigkeiten erheblich auf Zweierbeziehungen einwirken, gleichzeitig aber Potentiale für Beziehungen beinhalten (vgl. S. 125), weist für die Weiterentwicklung eines Familienbegriffs über die klassische Perspektive hinaus. Vermissen lässt der Beitrag eine durchgehende Betrachtung der Zeitverwendung in Paarbeziehungen nach Geschlecht/ern, die in diesem Kontext interessant gewesen wäre; sie wird vor allem aus Anlass des ‚Beziehungsbruchs‘ durch Hinzukommen eines Kindes betrachtet und taucht argumentativ punktuell bei den externen Einflüssen auf (vgl. S. 130).

Ulrich Mückenberger integriert in seinen Beitrag zu „‚Vereinbarkeit‘ in der städtischen Erwerbsgesellschaft – was wird da eigentlich womit vereinbar gemacht?“ zwei spezifische Perspektiven auf den Problemkomplex Familie und Zeit: Zum einen richtet er den Fokus auf städtische Gesellschaften, d. h. auf Formen des Zusammenlebens, bei denen auf dichtem Raum viele Funktionen des Lebens versammelt sind. Zum anderen nimmt er den politischen Komplex der Vereinbarkeit und damit des (hierarchischen) Verhältnisses von Arbeit und Leben in den Blick. Er arbeitet zunächst heraus, dass Vereinbarkeit seit dem deutlichen Anstieg der Frauenerwerbsquote in den 1970er Jahren ein Thema ist, stets aber nur als Unterstützungsmaßnahme in Westdeutschland für Teilzeit arbeitende Mütter als zusätzliche Arbeitskraftressource gedacht war und vor allem der Anpassung an die Erwerbsarbeit diente (vgl. S. 352). Demgegenüber formuliert er unter Rückgriff auf die aktuellen Problematiken der sinkenden Geburten- und Reproduktionsrate sowie der Notwendigkeit der steigenden Erwerbstätigkeit v. a. der Frauen im Wandel zur Wissensgesellschaft drei Anforderungen an eine neue Vereinbarkeitspolitik: Eltern sollten keine beruflichen Nachteile haben; es müsse Männern und Frauen ermöglicht werden, trotz Elternschaft erwerbstätig zu bleiben, und es dürfe aus Vereinbarkeit keine Geschlechterdiskriminierung resultieren; erreicht werden solle dies auf qualitativer Ebene durch die Steigerung von Zeitsouveränität und Zeitwohlstand (vgl. S. 354). Diese neue Vereinbarkeit soll strukturelle, d. h. politische und wirtschaftliche Unterstützung von Elternschaft und Erwerbstätigkeit für beide Geschlechter ermöglichen, bezieht dabei aber auch z. B. Pflege von Älteren mit ein. Angelehnt an das schwedische Modell und an die italienischen Ansätze zur Zeitpolitik soll dabei ganzheitlich angesetzt werden, d. h. es sollen ein „Denken […] in Lebenslagen und deren Dynamik“ (S. 356) zugrundegelegt und (zeitpolitische) Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen angestoßen werden. Mückenberger lenkt im Folgenden den Blick zum einen auf das territoriale Umfeld, konkret die „integrierende Stadt“ (S. 357), und zum anderen auf das Erwerbsleben, die „vereinbare Arbeitswelt“ (S. 357). Die Flexibilisierung der Arbeitswelt und die Individualisierung und Pluralisierung der Lebenswelten bedeuteten zwar eine erhebliche Herausforderung für die Städte, es könnten aber auch Handlungsspielräume und -optionen ausgelotet werden. Insbesondere die Enttraditionalisierung von Lebensformen führe dazu, dass der Blick auf mögliche Alternativentwicklungen für lokale Gemeinschaften gelegt werde. Und nur dann, so Mückenberger, wenn die lokalen Gemeinschaften den Blick stärker auf „den Alltag und seine Zeitgestaltungen wie auch auf verstärkte Information, Kooperation und Partizipation dabei“ (S. 362) richten, könnten sie ihre Integrationskraft behalten. Nachfolgend benennt er konkrete zeitpolitische Punkte und Ansätze für die Gestaltung lokaler Gemeinschaften und von Aspekten der Arbeitswelt. Positiv zu bewerten ist der klare Fokus des Beitrags, der auf das territoriale Umfeld und die nötige Transformation des Erwerbslebens gerichtet ist; der Blick auf diese beiden Bereiche zeigt, wie umfassend eine Veränderung hin zum (zeitpolitisch) guten Leben sein muss, um echte Vereinbarkeit jenseits von klassischen Familien- und Geschlechterkonzepten zu ermöglichen. Ein kleines Manko ist die Konzentration auf den städtischen Raum; zwar leben derzeit je nach Definition rund 50 bis 80% der Bevölkerung der Bundesrepublik in Agglomerations- bzw. städtischen Räumen (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2007, S. 13 f., Zahlen von 2003); es stellt sich angesichts des Konzepts der tempi di citta jedoch fundamental die Frage, wie sich dieses Postulat in weniger verdichteten Räumen – die sich zu einem hohen Teil in den hier kategorisierten verstädterten Räumen finden – umsetzen lassen kann. Positiv ist ebenfalls, dass konkrete Ansatzpunkte zur Zeitpolitik vor Ort und in der Gesellschaft insgesamt unterbreitet werden. Der Beitrag von Mückenberger irritiert jedoch zu Beginn mit dem Argument, dass Vereinbarkeit allein als Verfügbarmachung und Integration der Frauen in den kapitalistischen Verwertungsprozess interpretiert wird; Errungenschaften der zweiten Frauenbewegung und deren explizite Forderung nach Erwerbsintegration der Frauen zur Erreichung ökonomischer Unabhängigkeit werden dabei nicht berücksichtigt. Des Weiteren irritiert der Problemaufriss: Dass allein der Wandel zur Wissensgesellschaft und die sinkende Geburtenrate insbesondere bei Akademikerinnen die Notwendigkeit zur besseren und anderen Vereinbarkeit begründen, verwundert doch in hohem Maße ob der darin enthaltenen akademisch-bürgerlichen Perspektive; angesichts der hohen Zahlen der Erwerbslosen und des nach wie vor ungelösten Problems der Integration/Migration in der Bundesrepublik erstaunt dieser latente Ruf nach ‚mehr Kindern von Akademiker/-innen‘ doch sehr; die aus Erwerbsarbeit resultierenden Zeitnöte und Burnouts quer durch alle Schichten und der allseits bestehende Wunsch nach einem Mehr an Erwerbstätigkeit insbesondere bei Frauen und Müttern hätten als Anknüpfungspunkte für die Forderung nach anderer und besserer Vereinbarkeit völlig ausgereicht. Wünschenswert wäre es zudem gewesen, wenn hier neuere und modernere Ansätze in der Vereinbarkeitsdebatte wie etwa das Konzept der Arbeits- und Lebenskraft (Jürgens 2006) oder die Überlegungen zu Soziabilität (Correll 2005, Janczyk 2005/2009, Kurz-Scherf 2007) Beachtung gefunden hätten.

Bewertung

Das Buch ist für einen Sammelband sehr umfangreich. Es ist aus zwei verschiedenen Tagungen entstanden; jeweils ein Teil der dort gehaltenen Vorträge wurde aufgenommen. Der Band überzeugt in hohem Maße durch die detailreiche und empirisch fundierte Analyse der konkreten Verwendung von Zeit in unterschiedlichen Familientypen. Positiv sticht zudem die anspruchsvolle analytische Perspektive der Herausgeber/-innen ins Auge, die gerade kein Hohelied auf die Zeitstruktur des Industrialismus und des männlichen Normalarbeitsverhältnisses verfassen, sondern explizit auch die Möglichkeiten und neuen Optionen, die aus veränderten Zeitregimes resultieren, in den Blick nehmen wollen (vgl. z. B. S. 10, 14). Zudem treten die Herausgeber/-innen des Bandes mit dem Anspruch an, eben keinen klassischen Familienbegriff zugrunde legen zu wollen (vgl. S. 14), wenngleich dieser Anspruch für den Band dann doch wieder eingeschränkt wird auf die Betrachtung von (klassischen) Familien mit Kind/ern (u. a. S. 23). Die Gesamtkomposition des Bandes ist auch insofern überzeugend, als neben grundlegenden Überlegungen zu den Problemanalysen von Zeit und der konkreten Analyse von Zeitverwendung in Familien die überaus wichtigen Komplexe der ‚anderen‘ Lebensbereiche jenseits der Familie sowie die Ebene der (zeit-)politischen Gestaltung einbezogen werden. Insbesondere letztere zieht sich auch außerhalb des letzten thematischen Abschnitts zur Zeitpolitik in Form politischer Postulate durch verschiedene Artikel des Bandes. Die Umsetzung dieses Anspruchs gelingt in den einzelnen Beiträgen jedoch nicht immer. Zwar richten einige Artikel die Aufmerksamkeit beispielsweise auf Väter oder auf die Zweierbeziehung an sich; hier deuten sich einige spannende weiterführende Perspektiven an. Und vielleicht liegt gerade in der Überwindung der klassischen Perspektive das Potential, die Veränderungen in den Zeitregimes und die daraus resultierenden Möglichkeiten für Familien- und Zeitpolitik besser in den Blick zu bekommen. Zwar stimmen die meisten der mannigfaltigen Ergebnisse des Bandes eher pessimistisch, so die zur immensen Bedeutung der sozialen Strukturierung der Familien und zum (geringen) Umfang ihrer Ressourcen zur Bewältigung von Zeit und zum Umgang mit (Familien-)Zeit; dennoch fordern die Ergebnisse und Analysen des Bandes weiterführende Forschungsfragen zur Zeitrealität, zum Zeitwohlstand und zur Zeitsouveränität in anderen Formen menschlichen privaten Zusammenlebens heraus. Den Herausgeber/-innen ist diese Problematik durchaus bewusst (vgl. S. 23); es geht ihnen mit dem Sammelband zunächst darum, Fragen, Differenzierungen und die losen Enden einer Debatte sichtbar zu machen.

Als zentrale Ergebnisse des Bandes sind neben der Einsicht in die starke soziale Strukturierung von Familie der Nachweis einer bemerkenswerten Geschlechtsspezifik bei der Zeitverwendung festzuhalten, außerdem die Begründung der Notwendigkeit der Veränderung von Arbeitszeiten sowie lokaler Gestaltungsansätze für eine bessere Zeitpolitik von Familien. Wünschenswert wäre eine breitere Reflexion innerdeutscher Unterschiede zwischen den Geschlechter- und Familienbildern in Ost und West gewesen; deren weitgehendes Fehlen verleiht den Analysen durchaus eine stark westdeutsche und damit stark an die Transformation vom Ernährer- zum Zuverdienermodell angelehnte Perspektive: Wenn etwa die problematischen Auswirkungen des wachsenden Zeitstresses in Familien mit berufstätigen Müttern diagnostiziert werden (vgl. S. 20), dann stellt sich durchaus die Frage, ob diese Diagnose für Regionen, in denen die Frauenerwerbstätigenquote traditionell hoch war und ist, zutreffend ist.

Literatur

Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (2007): Frauen – Männer –Räume. Geschlechterunterschiede in regionalen Lebensverhältnissen. Bonn.

Correll, Lena (2005): Subjektorientierte Soziabilität. In: Kurz-Scherf, Ingrid/Correll, Lena/Janczyk, Stefanie (Hg.): In Arbeit: Zukunft. Die Zukunft der Arbeit und der Arbeitsforschung liegt in ihrem Wandel. Münster, S. 125–140.

Janczyk, Stefanie (2005): Arbeit, Leben, Soziabilität. Zur Frage von Interdependenzen in einer ausdifferenzierten (Arbeits)Gesellschaft. In: Kurz-Scherf, Ingrid/Correll, Lena/Janczyk, Stefanie (Hg.): In Arbeit: Zukunft. Die Zukunft der Arbeit und der Arbeitsforschung liegt in ihrem Wandel. Münster, S.105–124.

Janczyk, Stefanie (2009): Arbeit und Leben: eine spannungsreiche Ko-Konstitution. Münster.

Jürgens, Kerstin (2006): Arbeits- und Lebenskraft: Reproduktion als eigensinnige Grenzziehung. Wiesbaden.

Kurz-Scherf, Ingrid (2007): Soziabilität – auf der Suche nach neuen Leitbildern der Arbeits- und Geschlechterpolitik. In: Aulenbacher, Brigitte/Funder, Maria/Jacobsen, Heike/Völker, Susanne (Hg.): Arbeit und Geschlecht im Umbruch der modernen Gesellschaft. Forschung im Dialog. Wiesbaden, S. 269–284.

URN urn:nbn:de:0114-qn112021

Ortrun Brand

Philipps-Universität Marburg

Politikwissenschaftlerin; derzeit Doktorandin im interdisziplinären Graduiertenkolleg „Geschlechterverhältnisse im Spannungsfeld von Arbeit, Organisation und Demokratie“ an der Philipps-Universität Marburg; vorher wissenschaftliche Mitarbeiterin bei GendA-Forschungs- und Kooperationsstelle Arbeit, Demokratie, Geschlecht

Homepage: http://www.uni-marburg.de/fb03/genderkolleg/stips/brand

E-Mail: ortrun.brand@staff.uni-marburg.de

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