Der Blick der Emanzipation

Rezension von Janne Mende

Bernhard Heininger (Hg.):

Ehrenmord und Emanzipation.

Die Geschlechterfrage in Ritualen von Parallelgesellschaften.

Hamburg u.a.: LIT Verlag 2009.

176 Seiten, ISBN 978-3-8258-1745-9, € 24,90

Abstract: Der Tagungssammelband des Würzburger Graduiertenkollegs „Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolssystemen“ bietet vielfältige, zum großen Teil vor- und frühgeschichtliche Beispiele historisch spezifischer Geschlechterkonstellationen. Anhand detailgetreuer Studien archäologischer und literarischer Artefakte werden durchaus spannende, weil häufig unbekannte Dimensionen herausgearbeitet. Mit dem Phänomen des im Buchtitel angekündigten Ehrenmordes beschäftigt sich nur ein Text des Sammelbandes. Konfrontiert mit einer nur losen Verbundenheit der Beiträge untereinander bleibt es der Leser/-in selbst überlassen, die unterschiedlichen Zugänge in einen gemeinsamen Diskussionszusammenhang zu bringen, als dessen Bezugspunkt ein kaum konturiertes Emanzipationskonzept nahe gelegt wird.

Eine Untersuchung der Parameter ‚Ehrenmord‘ und ‚Emanzipation‘ verspricht Auseinandersetzungen mit der zugrunde liegenden Struktur des Verhältnisses dieser beiden Pole. Sie könnte die Annäherung an einen Emanzipationsbegriff ermöglichen, der nur als universeller verwirklicht werden kann, der sich aber zugleich als historisch und räumlich dynamisch erweist. Politische ebenso wie ökonomische und psychosoziale Bedingungen spielen dafür eine Rolle. Die „Geschlechterfrage in Ritualen von Parallelgesellschaften“ könnte dann diskutiert werden unter der an Relevanz nicht verlierenden Perspektive, in welchem Verhältnis Universalismus und Kulturrelativismus im Hinblick auf umfassende Emanzipation zueinander stehen. Denn es sind gerade Verweise auf den Respekt vor traditionellen Ritualen der als anders imaginierten Gesellschaften, die gegen einen universellen Begriff von Emanzipation zur Diskussion gestellt werden.

Blick auf Gegenwärtiges

Tatsächlich bietet der Eröffnungsbeitrag von Schirrmacher entsprechende Zugangsmöglichkeiten. Die sehr ausführliche Beschreibung der Bedingungen und Erscheinungsformen des Phänomens Ehrenmord geht mit klaren Forderungen einher, den Schutz für potentiell betroffene Frauen und Mädchen zu verbessern und außerdem eine Gesetzesgrundlage zu schaffen, auf der nicht nur der ausführende Mörder, sondern die gesamte an der Planung beteiligte Familie oder Gruppe mit den Sanktionen bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit zu rechnen hat. Schirrmacher stellt deutlich heraus, dass Menschenrechtsverletzungen nicht mit „kultureller Toleranz“ (S. 26) zu begegnen ist. Werden hier gesellschaftliche Dimensionen in Form von Gesetzen, religiösen Gruppen oder „halbfeudalen, tribalen Strukturen“ (S. 20) benannt, so sucht man jene in dem einzigen anderen sich auf die Gegenwart beziehenden Beitrag jedoch nahezu vergeblich. Ganz richtig wird bei Auernheimer Kultur zwar als verwoben mit ökonomischen Systemen, Rechts- und Wirtschaftsformen eingeführt. Die nachfolgende Analyse bleibt jedoch recht subjektiven und intersubjektiven Vorstellungen von Kultur und Gesellschaft verhaftet. Die Struktur von (scheinbaren) Parallelgesellschaften wie der türkischen Community in Deutschland wird anhand verschiedener Erhebungen über subjektive Normvorstellungen bestimmt und dabei das kaum überraschende Ergebnis vorgeführt, dass die Anderen eben doch nicht so anders sind. „Nur die Hälfte der mit Türken verheirateten ‚Türkinnen‘ lebt in einer arrangierten Ehe. Und bei diesen 50 Prozent ist nochmals der Modus der Partnerfindung genauer in Augenschein zu nehmen“ (S. 37, Herv. JM) – diesen Befund hält Auernheimer den „alarmierenden Darstellungen in den Medien“ (ebd.) entgegen. Die trotzdem von ihm anvisierte kulturelle Transformation soll neben der soziostrukturellen Integration durch interkulturelle Kommunikation herbeigeführt werden. In symmetrischen interpersonellen Beziehungen, in denen das Andere nicht abgeurteilt wird, sollen Verhärtungen und Reaktanz, die traditionelle Muster verstärken können, vermieden werden.

Die Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in der eigenen Gesellschaft sowie die Kritik des Eurozentrismus und der dazugehörigen Projektionen sind in diesem Zusammenhang zwar keinesfalls die falschen Mittel. Ohne die Herausarbeitung und Kennzeichnung eines Maßstabs für Emanzipation ist es jedoch auch Auernheimer nicht möglich, berechtigte progressive Forderungen und „die Sicherung zivilisatorischer Standards“ (S. 39) von eurozentrischen Projektionen und „der Versuchung zur zivilisatorischen Mission“ (S. 41) zu unterscheiden. Greift man ausschließlich auf die intersubjektive Argumentationsfigur zurück, die im Beitrag nahe gelegt wird, bleibt eine bewusste Entscheidung für das eine und gegen das andere notwendigerweise willkürlich. Der zentralen Problemkonstellation zwischen rassistischen Zuschreibungen und berechtigtem Änderungsbedarf wird nur mit dem Hinweis auf einen notwendigen interkulturellen Dialog begegnet. Diese Lösungsmöglichkeit greift jedoch in sozialwissenschaftlicher Hinsicht zu kurz. Gerade eine strukturelle Absicherung umfassender Emanzipation ist nötig, verbleibt doch die Forderung nach einem sensiblen zwischenmenschlichen Umgang nicht nur auf einer oberflächlichen Ebene, sondern belässt die Macht zur willkürlichen Gestaltung des Dialogs in Händen der Mehrheitsgesellschaft. Nur durch Sprache und „Sensibilität für Machtasymmetrien“ (ebd.) wird eine asymmetrische Beziehung nicht zu einer symmetrischen; allein durch intersubjektive Verständigung werden repressive Praxen nicht abgeschafft.

Blick auf Vergangenes

Die Hoffnung, dass diese offenen und nur differenziert zu klärenden Fragen in den Beiträgen des zweiten Abschnittes aufgegriffen werden, erfüllt sich leider kaum. Die fünf Autor/-innen werfen spezifisch historische Blicke auf ausgewählte Artefakte verschiedener Zeiten und Orte und untersuchen Hinweise auf jeweils mögliche Geschlechterbeziehungen. Die Verortung des Tagungsbandes im Würzburger Graduiertenkolleg „Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystemen“ kommt hier deutlich zum Vorschein. Eng am (archäologischen oder literarischen) Material, kleinschrittig, unaufgeregt und sehr fachspezifisch werden für die jeweilige Disziplin mitunter entscheidende Erkenntnisse präsentiert. Orschiedts Revision prähistorischer Artefakte aus der Jungfernhöhle von Tiefenellern korrigiert Theorien über Jungfrauentötung und Kannibalismus mit der These der mehrphasigen Bestattung. Cooneys Untersuchung altägyptischer Sarkophage gestattet eine Interpretation, nach der zum einen beide Geschlechter – nicht wie häufig angenommen nur das männliche – für den Vorgang der Wiedergeburt zentral sind und zum anderen die im weltlichen Leben eng gezogenen Geschlechtergrenzen im Tod überschritten werden können. Ebenfalls nach der potentiellen Durchlässigkeit von Geschlechtergrenzen fragt Westenholz in der Untersuchung von Hierarchien religiöser und ritueller Kasten im alten Mesopotamien und findet Hinweise auf ein drittes Geschlecht, das Freiräume und Mediationsmöglichkeiten eröffnet.

Neben der Untersuchung archäologischer Funde gelingt es Groß in seiner Exegese einer Szene im Alten Testament, Einblicke anderer Art in historisch zurückliegende Formen des Geschlechterverhältnisses zu erschließen. Hinweise auf androzentrische Auslegungen werden ebenso in die Analyse einbezogen wie Deutungen einer feministischen Exegese. Standhartinger versucht, gesellschaftliche Realitäten für konvertierende Frauen am Ende des ersten, Anfang des zweiten Jahrhunderts nach Christus anhand literarischer Interpretationen aufzuzeigen. Demnach „bleibt Religion einschließlich der östlichen ein öffentlicher Raum, in dem Frauen nicht nur geduldet, sondern auch in der Erfüllung ihrer religiösen Pflichten gefordert sind“ (S. 146), weswegen Konvertion von Frauen als zersetzend und gefährlich galt. Doch sind die unmittelbaren Übertragungen von der literarischen auf die reelle gesellschaftliche Sphäre, die im Artikel vollzogen werden, schwer nachvollziehbar.

Blick auf Zukünftiges?

Auf weitergehende Auslegungen oder Einbettungen in sozialwissenschaftliche Zusammenhänge verzichten die Beiträge des historischen Teils. Dabei hätten Phänomene von Geschlechterungleichheiten oder verschiedenartige, den engen Raum des Ehrenmordes überschreitende Opferrollen von Frauen sowie mögliche Umgangs- und Widerstandsweisen durchaus Diskussionen mit- und gegeneinander gestattet. Nun kann es durchaus legitim sein, von weitergehenden und ab einem bestimmten Punkt in den Bereich der Spekulation hineinreichenden Deutungen abzusehen. Unklar bleibt dann allerdings, aus welchem Grunde überhaupt der Versuch unternommen wurde, die recht heterogenen Zugänge unter die Begriffe von Ehrenmord, Emanzipation und Parallelgesellschaften zu fassen, denn die Gestaltung eines Tagungsbandes bietet durchaus mehr Handlungsspielraum.

Ist das alte Mesopotamien eine Parallelgesellschaft? Ist Geschlechterüberschreitung nach dem Tode Emanzipation? Ist die sekundäre Bestattung von (zumeist schwangeren) Frauen und Kindern getrennt von Männern ein Hinweis auf Ehrenmorde? Diese Fragen mögen als spekulativ zurückgewiesen werden können. Der Aufbau des Sammelbandes jedoch legt sie nahe.

URN urn:nbn:de:0114-qn113125

M.A. Janne Mende

Universität Gießen

International Graduate Centre for the Study of Culture

E-Mail: janne.mende@gcsc.uni-giessen.de

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