Brigitte Brandstötter:
Wo die Liebe hinfällt.
Das neue Rollenbild ungleicher Paare – Frauen mit jüngerem Partner.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009.
194 Seiten, ISBN 978-3-531-16990-3, € 29,90
Abstract: Brigitte Brandstötter untersucht in ihrem Buch Paare, in denen die Frau deutlich älter ist als der Mann. Den besonderen Schwerpunkt legt sie dabei auf die Rollenbilder der Beziehungspartner sowie die gesellschaftlichen Strukturen, in denen diese Beziehungen zustande kommen und gelebt werden. Auf Basis von Interviewdaten beschreibt Brandstötter detailreich den Verlauf ausgewählter Paarbeziehungen von der Gründung bis zu den Zukunftsaussichten nach mehreren Jahren des Zusammenlebens. Implizit transportiert diese Untersuchung die normative Botschaft, dass solche Paarbeziehungen ‚nicht der Rede wert‘ sein sollten.
Der Altersabstand zwischen Frauen und Männern in Paarbeziehungen ist nur selten ausdrücklicher Gegenstand familiensoziologischer Forschungsarbeiten. Das liegt vor allem wohl daran, dass dieser Abstand interkulturell und historisch mehr oder weniger stabil bei zwei bis drei Jahren liegt, die der Mann älter ist als die Frau. Dass Frauen Kontakte mit jüngeren Männern und Männer Kontakte mit älteren Frauen systematisch meiden, geht aus neueren Untersuchungen zu altersspezifischen Partnerpräferenzen hervor (vgl. Jan Skopek: Partnerwahl im Internet. Eine quantitative Analyse von Strukturen und Prozessen der Online-Partnersuche. Universität Bamberg: Dissertationsschrift 2010). Wie aber verhält es sich nun, wenn solche empirisch nach wie vor seltenen Konstellationen doch zustande kommen? Was sind die Gründe dafür? Wie sind die Reaktionen des sozialen Umfeldes? Welche Bedeutung hat die Tatsache, dass die Frau älter ist als ihr Mann, für das Zusammenleben? Warum sind solche Beziehungen verhältnismäßig selten?
Diesen Fragen widmet sich Brigitte Brandstötter in ihrer Studie über Paarbeziehungen, in denen die Frau deutlich älter ist als der Mann – in ihrer Terminologie sogenannte „ungleiche Paare“, die sie eigens für diese Untersuchung mit dem Etikett „die Relativen“ belegt (wenn im Folgenden diese Begriffe verwendet werden, sind immer diese Konstellationen gemeint). Sie leistet damit einen interessanten Beitrag zur Soziologie privater Lebensführung, indem sie sich explizit mit einer Paarkonstellation befasst, die in der bisherigen Forschung kaum gewürdigt wurde. Das Ziel ihrer Arbeit ist es, die Prozesse, die zur Bildung intimer Beziehungen mit ‚umgekehrt traditionellem‘ Altersabstand führen, empirisch zu rekonstruieren und sie vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Leitbilder, öffentlicher Meinungsströmungen und den individuellen Biographien der Beteiligten zu reflektieren. Darüber hinaus stellt die Analyse des Rollenbildes der ungleichen Paare und der damit verbundenen paargemeinschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen ein zweites Ziel der Studie dar.
In Anbetracht fehlender Referenzstudien wählt Brandstötter ein nichtstandardisiertes empirisches Vorgehen im Sinne einer gegenstandverankerten Theoriebildung (Grounded Theory), betont aber gleichzeitig ausdrücklich den „deskriptiven Charakter“ ihrer Arbeit (S. 27). Neben eigens für diese Untersuchung geführten Interviews schließt Brandstötter unterschiedliche Medienerzeugnisse, wie Belletristik aus mehreren Epochen, Zeitschriften und Filme, in ihre „Spurensuche“ mit ein (S. 27). Dieses Vorgehen ist originell und keinesfalls typisch in der soziologischen Forschungslandschaft. Durch den Einsatz unterschiedlicher Datenquellen gelingt es Brandstötter, ein recht detailliertes Bild dieser Lebensform auf verschiedenen Argumentationsebenen zu zeichnen, das sowohl vermutete als auch überraschende Elemente enthält.
Bevor Brandstötter im 7. Kapitel die Auswertung ihrer Interviews dokumentiert, referiert sie über geschichtliche Aspekte ungleicher Paarbeziehungen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert (4. Kapitel) sowie über deren Darstellung in den Medien (5. Kapitel) und präsentiert einige Zitate aus dem Alltagsleben, die sich auf Paare mit deutlich älteren Frauen beziehen (6. Kapitel). Mit diesen drei Kapiteln schafft die Autorin die Grundlage für eine Einbettung der Befunde ihrer eigenen Primärerhebung in den gesellschaftlichen Kontext und führt gleichsam „eine Sicht von Außen“ (S. 73) auf altersspezifisch ungleiche Paarbeziehungen vor. Es wird deutlich, dass ungleiche Paare nur gelegentlich thematisiert werden und wenn, dann als ungewöhnliche Sonderfälle, denen mit einer gewissen Skepsis bis hin zu Unverständnis begegnet wird. Auch zeigt sich, dass es in allen historischen Epochen diese ungleichen Paarbeziehungen gab (so zum Beispiel im bäuerlichen Milieu des 17. und 18. Jahrhunderts), es sich also keinesfalls um eine neue Lebensform handelt. Implizit transportieren diese Kapitel die normative Position Brandstötters, die als ihre Motivation für diese Arbeit unter anderem „ein persönliches Gerechtigkeitsgefühl“ ausmacht und sich wundert, „warum die Paarbeziehung zwischen einem Mann und einer an Jahren älteren Frau als Mesalliance gilt“ (S. 33).
Dem Hauptkapitel der Arbeit (S. 79 ff.) liegen leitfadenbasierte Interviews mit 14 Personen in Paarbeziehungen zugrunde, in denen die Frau mindestens sieben Jahre älter ist als ihr männlicher Partner. Befragt wurden neun Frauen und fünf Männer; in drei Fällen handelte es sich um Paarinterviews. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt „[e]ntlang dem Verlauf der Paarbeziehung“ (S. 82), mit dem besonderen Fokus auf die Beziehungsgründung, das Zusammenleben und die Reaktionen des sozialen Umfeldes.
Neben vielen kleineren Aspekten kristallisieren sich nach Brandstötter neun Merkmale eines „typischen ‚ungleichen‘ Paares“ heraus (S. 177): Erstens haben die Frauen einen höheren sozioökonomischen Status im Vergleich zu ihren Männern; zweitens vermischen die Relativen unterschiedliche soziokulturelle Entwicklungen zu ähnlichen Lebensstilen; drittens verzichtet die Frau darauf, ihre statusbedingte Autorität zu demonstrieren; viertens führen die Partner eine weitgehend egalitäre Paarbeziehung, vornehmlich aus Gründen gegenseitiger Anerkennung; fünftens spielt die Liebe die Rolle intrinsischer Motivation; sechstens überfordern sich die Partner nicht mit überzogenen Erwartungen an die Liebe des anderen; siebtens geben die Partner typische geschlechts- und altersspezifische Rollen auf und handeln stattdessen moderne Rollen aus; achtens ist die Bereitschaft, das Risiko des Scheiterns einer Beziehung auf sich zu nehmen, verhältnismäßig groß; und neuntens verlängert sich die Werbephase der Männer aufgrund einer erhöhten Vorsicht der Frauen im Hinblick auf die Beziehungsgründung. Gemeinsam ist den Befragten weiterhin, dass sich ungleiche Partnerschaften nicht bereits durch ihre gesamte Biographie ziehen, dass das Kennenlernen eher zufällig erfolgt, dass der Wunsch nach einer langfristig angelegten Familiengründung nicht zwingend besteht und dass die gemeinsamen Zukunftsaussichten eher skeptisch beurteilt werden.
Wenngleich Brandstötters Untersuchung nicht explizit darauf angelegt ist, kann man diese Aspekte natürlich durchaus im Vergleich zu den ‚altersspezifisch traditionellen‘ Paaren lesen, in denen der Mann älter ist als die Frau. Brandstötter stellt diese Gegenüberstellungen (teilweise implizit) an verschiedenen Stellen des Textes selbst an, verweist jedoch darauf, dass „ein direkter Vergleich [der Rollenbilder; FS] aufgrund fehlender soziologischer Befunde weder zulässig noch möglich ist“ (S. 171). Vergleicht man jedoch trotzdem, wird deutlich, dass die Lebensführung, wie sie von den im Rahmen dieser Studie befragten Personen (Selektivität der Stichprobe hin oder her!) beschrieben wird, nicht so ungewöhnlich zu sein scheint, dass sie angesichts der heute allemal bunteren Vielfalt an Lebensformen den Anstoß des Umfeldes erregen würde. Ist es also doch ‚nur‘ der ungewöhnliche Altersabstand, der Aufsehen erregt? Der Versuch einer Antwort auf diese Frage hätte den Rahmen dieser Studie leider bei weitem gesprengt.
Ein Anliegen Brandstötters, das sich implizit durch das gesamte Buch zieht, ist die Frage, welche Rahmenbedingungen dafür nötig sind, dass „‚ungleiche‘ Paare immer weniger kritisch betrachtet werden und ihre Liebe einen Beziehungstyp bildet, der ‚nicht mehr der Rede wert‘ sein wird“ (S. 182). In der soziologischen Diffusionstheorie geht man davon aus, dass neben angemessenen Möglichkeiten der Verbreitung neuer Ideen, zum Beispiel über die Medien, immer eine gewisse Anzahl von Innovatoren nötig ist, welche die neuen Ideen praktizieren. Das heißt, dass eine Zunahme des Anteils an Paaren, in denen die Frau deutlich älter ist als ihr Partner, die notwendige, wenngleich nicht hinreichende Voraussetzung für die Etablierung neuer, oder moderater gewendet: für die Normalisierung bislang skeptisch aufgenommener Muster der Lebensführung ist. Nun haben beispielsweise Maxine P. Atkinson und Becky L. Glass (Marital age heterogamy and homogamy, 1900 to 1980. In: Journal of Marriage and Family, 47. Jg. (1985), H. 3, S. 685–691) mit amerikanischen Zensusdaten gezeigt, dass der Anteil von Paaren, in denen der Altersabstand nicht mehr als vier Jahre beträgt, zwischen 1900 und 1980 von etwa einem Drittel auf knapp 70 Prozent angestiegen ist (der Anteil in Westeuropa dürfte ähnlich hoch sein), und sie erwarten, dass dieser Anteil sogar noch ansteigen könnte. Wenngleich Trendaussagen aufgrund heterogener Befunde schwerfallen (vgl. Skopek 2010, op. cit.), dürfte es alleine schon aufgrund quantitativer Bestimmtheiten recht unwahrscheinlich sein, dass der von Brandstötter zu Recht konzedierte „cultural lag“ (S. 178) hinsichtlich einer ‚Entstigmatisierung‘ dieser Lebensform schnell überwunden werden könnte.
Für die Familiensoziologie sind Untersuchungen dieser Art allerdings insofern bedeutsam, als sie das Wissen um das empirische Spektrum paargemeinschaftlicher Lebensentwürfe jenseits der quantitativ dominierenden ‚konventionellen‘ Lebensformen erweitern. In der Zukunft wird es sinnvoll sein, die hier gewählte normative Perspektive gegen eine analytische Sichtweise zu tauschen. Daraus resultierende systematische Vergleiche zwischen verschiedenen Lebensformen sowie eine solide theoretische Fundierung, die zudem Anknüpfungspunkte zur aktuellen familiensoziologischen Diskussion bietet, haben durchaus das Potential, die Forschung nachhaltig zu stimulieren.
URN urn:nbn:de:0114-qn113023
Dr. Florian Schulz
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg
E-Mail: florian.schulz@iab.de
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