Liebe Leserinnen und Leser,
was ist Familie? Diese Frage ist heute nicht mehr leicht zu beantworten. Traditionell wird als minimaler Konsens Familie als „gemeinsame Lebens- und Wohnform von Erwachsenen und Kind(ern)“ definiert (Beate Kortendiek: Familie: Mutterschaft und Vaterschaft zwischen Traditionalisierung und Modernisierung. In: Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2004, S. 384), doch angesichts der vielen unterschiedlichen Familienformen sollte der Begriff Familie „alle Beziehungsformen, in denen auf Dauer angelegte, intergenerationale Verantwortung gelebt wird“ umfassen, so der Vorschlag von Barbara Thiessen und Paula Irene Villa im Forumsbeitrag in dieser Ausgabe.
In den Medien ist vor dem Hintergrund der konstant niedrigen Geburtenziffern in der Mehrheit der europäischen Länder von einer ‚Krise der Familie‘, sogar vom ‚Ende der Familie‘ die Rede, doch die quantitative Bedeutung familialer Lebensformen ist ungebrochen hoch. Auch unter qualitativen Aspekten wird Familie nach wie vor hoch bewertet. So zeigen beispielsweise die Ergebnisse der letzten Shell-Jugendstudien, dass die meisten jungen Menschen in Deutschland (12 bis 25-Jährige) glauben, dass sie Familie brauchen, um „glücklich“ sein zu können.
In der jungen Generation, insbesondere der gebildeten Schichten, äußern in nahezu gleichem Maße Frauen wie Männer egalitäre Vorstellungen darüber, wie sie ihr Leben in einer Partnerschaft (mit Kindern) gestalten wollen. Empirische Untersuchungen bestätigen allerding immer wieder einen Traditionseffekt durch Elternschaft. In dem Moment, in dem Paare Eltern werden, zeigt sich, wie tief die traditionellen Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen in der Gesellschaft verankert sind. Trotz der Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung, die die Optionen zur Gestaltung des Lebens – vor allem der Frauen – erhöht haben, wirkt das Bild der ‚guten Mutter‘, die sich hauptsächlich für die Kinder verantwortlich fühlt und aus diesem Grunde bereit ist, ihre Berufstätigkeit zu unterbrechen oder zu reduziert oder auch ganz aufzugeben, leitend.
In der Frauen- und Geschlechterforschung wurde bereits in den 1980er Jahren die These von der ‚natürlichen Mutterschaft‘ als Mythos entlarvt. Bei aller möglichen Vielfalt wirkt der ‚Mythos der deutschen Mütterlichkeit‘ nachhaltig und beeinflusst in einem erheblichen Maße das Familienleben wie das Verhältnis der Geschlechter. In diesem Sinne ist die Familie – wie Beate Kortendiek zu Recht schreibt – „der Kristallisationspunkt, an dem ambivalente Beziehungen zwischen Traditionalisierungseffekten und Modernisierungsprozessen von Geschlecht deutlich werden“ (Kortendiek 2004, S. 388).
Auch Barbara Thiessen und Paula Irene Villa thematisieren in ihrem Forumsbeitrag die These, dass Mutterschaft und Familie zwar mehr und mehr eine Frage der Entscheidung und Verhandlung Einzelner geworden sei (Pluralisierung von Mutterschafts- und Familienbildern), dass die „normative Figur der Vollzeitmutter“ aber nach wie vor ein Leitbild ist, was auch Margret Karsch in ihrer Besprechung eines von Villa und Thiessen herausgegebenen Sammelbandes zum Diskurs über Mütter und Väter deutlich herausstreicht. Der Mensch ist auf Fürsorgebeziehungen angewiesen, angesichts dessen wird als Ziel von gesellschaftlichen Maßnahmen wie der Familienpolitik formuliert, die auf Fürsorge basierenden Beziehungen gesellschaftlich aufzuwerten und eine Balance zwischen Autonomie und Bindung herzustellen.
Je nach Perspektive werden Veränderungen hinsichtlich der Familie und der Geschlechterverhältnisse mal mehr, mal weniger hoch eingeschätzt; in jedem Fall wird der Wandel „überschätzt“. Diese These führt Lena Corell im zweiten Forumsbeitrag aus und kann sie durch eine Historisierung der Perspektive belegen. Überraschen mag ihre Erkenntnis, dass „die Pluralisierung von Lebens- und Familienformen früher weitaus stärker ausgeprägt“ war als heute.
Unter den 14 für den Schwerpunkt der Ausgabe rezensierten Veröffentlichungen sind zwei Grundlagentexte: Angelika Tölke rezensiert ein Lehrbuch zur Familiensoziologie, das einen Überblick über die Forschungstradition, den Wandel der Forschungsthemen und -methoden der Familiensoziologie bietet, und Ulrike Zartler würdigt den „fundierten Überblick“ der Studie zur Kindheits- und Sozialisationsforschung.
Die rezensierten Titel widmen sich vor allem zwei thematischen Bereichen: der aktuellen staatlichen Familienpolitik und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Die Studien, die die aktuellen familienpolitischen Maßnahmen des Staates zum Thema haben, beziehen sich vor allem auf die Reformen in der Familienpolitik zwischen 2002–2009, insbesondere auf die Einführung des Elterngeldes (2007). Maria Wersig, die einen Sammelband rezensiert, macht auf das spannungsreiche Feld zwischen Familien- und Gleichstellungspolitik aufmerksam, und Arne Duncker zeichnet in seiner Rezension die Verbindung zwischen familienfördernden Leistungen und Sozialrecht nach. Dass die Familienpolitik immer auch geschlechterpolitische und klassenspezifische Dimensionen hat, bestätigt Gülay Çağlar in ihrer Besprechung einer theoretischen Studie über marxistische und feministische Staatstheorien und sieht darin eine Basis für weiterführende empirische Arbeiten. Alle Publikationen sind letztlich eine Grundlage für die Beantwortung der Frage, ob die aktuellen familienfördernden Maßnahmen als ein Paradigmenwechsel in der Familienpolitik gewertet werden können und ob sie die Option einer ‚Wahlfreiheit‘ für Frauen und Männer beinhalten, die Dorothee Kathrin Rempfer in ihrer Rezension als eine Voraussetzung für eine „geschlechter- und generationengerechte Gesellschaft“ hervorhebt.
Die Veröffentlichungen, die sich mit dem Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie befassen, thematisieren auch die damit einhergehende Arbeitsteilung und den Umgang mit Zeit. Hervorzuheben ist der von Ortrun Brand rezensierte Sammelband, der nach dem Urteil der Rezensentin aufgrund seiner detailreichen und empirisch fundierten Analysen eine gute Einführung in das Thema bietet. Claudia Zerle bespricht dazu eine Arbeit, in der es um die Voraussetzungen geht, die gegeben sein müssen, damit Väter ihren Kindern mehr Zeit widmen können. In diesem Kontext steht auch das Thema Hilfen im Haushalt und für die Kindererziehung durch ‚Dritte‘ (Au-Pair-Modell, Dienstmädchen). Claudia Gather rezensiert eine auf Österreich bezogene Studie und macht darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, auch die „Arbeitnehmerperspektive“, d. h. die reale soziale und ökonomische Situation der Au-Pairs mit in die Analyse einzubeziehen.
Die Debatten um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie lassen immer wieder die Diskrepanz zwischen einem veränderten Bewusstsein und einer unveränderten Praxis erkennen. Florian Schulz stellt in seiner Rezension einen Denkansatz vor, mit dem das Problem dieser Dissonanz analytisch besser gefasst und erklärt werden kann.
Zwei weitere Bücher sind speziellen Themen gewidmet: Hannes Schweiger rezensiert eine Arbeit, in der die Bedeutung der Familie für die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen thematisiert wird, und Kai Dröge eine Veröffentlichung zum Wandel der Vorstellungen von Liebe und Partnerschaft in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Er betont, dass nicht nur generationenspezifische Unterschiede zu betrachtet seien, sondern auch soziale Differenzen um den „Wandel in der Liebessemantik“ übergreifend erfassen zu können.
Familie als Ort der Ausbildung von (weiblicher) Identität, von „Familiengeheimnissen“ und der Auseinandersetzungen mit den Wirkungen des Nationalsozialismus auf das Generationenverhältnis sind denn auch immer wieder Thema in der Literatur. Christine Kanz stellt in einer Doppelrezension zwei Studien vor, die sich den literarischen Auseinandersetzungen mit Familie widmen. Für die Rezensentin gehören die Themen Generation und Familie zu den „wichtigsten Sujets literarischer Texte“.
Wie immer freuen wir uns über Rezensionsangebote und möchten Sie deshalb nachdrücklich auf unsere Vorschlagliste hinweisen: http://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/vorschlaege
Ihre Redaktion querelles-net
An dieser Ausgabe wirkten mit: Judith W. Guzzoni (Lektorat) und Carrie Smith-Prei (Übersetzungen). Wir bedanken uns für die Unterstützung.
URN urn:nbn:de:0114-qn112019
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter http://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons.