Wiedervereinigte Geschlechterverhältnisse?

Rezension von Heike Kahlert

Pamela Heß:

Geschlechterkonstruktionen nach der Wende.

Auf dem Weg einer gemeinsamen Politischen Kultur?

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010.

304 Seiten, ISBN 978-3-531-17129-6, € 39,95

Steffen Kröhnert:

Sag mir, wo die Frauen sind…

Ausprägung und Ursachen geschlechtsselektiver Abwanderung aus den neuen Bundesländern.

Aachen: Shaker Verlag 2009.

217 Seiten, ISBN 978-3-8322-8516-6, € 35,80

Alison Lewis:

Eine schwierige Ehe.

Liebe, Geschlecht und die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung im Spiegel der Literatur.

Freiburg: Rombach Verlag 2009.

345 Seiten, ISBN 978-3-7930-9590-3, € 48,00

Ursula Schröter, Renate Ullrich:

Patriarchat im Sozialismus?

Nachträgliche Entdeckungen in Forschungsergebnissen aus der DDR.

Berlin: Karl Dietz Verlag 2005.

168 Seiten, ISBN 978-3-320-02900-5, € 9,90

Ursula Schröter, Renate Ullrich, Rainer Ferchland:

Patriarchat in der DDR.

Nachträgliche Entdeckungen in DFD-Dokumenten, DEFA-Dokumentarfilmen und soziologischen Befragungen.

Berlin: Karl Dietz Verlag 2009.

186 Seiten, ISBN 978-3-320-02210-5, € 14,90

Abstract: Im Mittelpunkt der Sammelrezension stehen fünf neuere, monographisch angelegte sozial- und kulturwissenschaftliche Studien zu Geschlechterverhältnissen und -konstruktionen im deutsch-deutschen Wiedervereinigungsprozess. Bei aller Verschiedenheit in ihren disziplinären Zugängen zum Untersuchungsgegenstand, in methodologisch-methodischer Hinsicht und in ihren Positionierungen gegenüber den Ergebnissen ist ihnen in ihren Blicken zurück nach vorn auf die Wende eine Fokussierung auf private Geschlechterbeziehungen gemeinsam. Hier zeigen sich, so der Tenor der Publikationen, nach wie vor erhebliche Differenzen in den dominierenden Geschlechterkulturen in Ost- und Westdeutschland, die zugleich auch die asymmetrische Struktur des Beitritts der DDR zur Alt-BRD widerspiegeln.

Suchbewegungen zu Gleichheit und Differenz im Ost-West-Vergleich

Die vertraglich vollzogene Wiedervereinigung der alten Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik jährt sich inzwischen zum 20. Mal. Dieses Ereignis gibt in politischer, sozialer und wissenschaftlicher Hinsicht nach wie vor Anstöße zu Reflexionen über gemeinsame Alltäglichkeiten und wechselseitige Irritationen bezüglich der inneren Einheit Deutschlands. Die deutschsprachige Geschlechterforschung tut sich weiterhin schwer damit, die deutsch-deutsche Vereinigung kritisch aufzuarbeiten, und entsprechende Einlassungen sind vergleichsweise rar. Die im Folgenden besprochenen Publikationen verdeutlichen allerdings, dass die Aufarbeitung von Geschlechterverhältnissen und Geschlechterkonstruktionen im Zuge der Wende noch voll im Gang ist.

Die Suchbewegungen zum Verstehen von Gleichheit und Differenz im Ost-West-Vergleich kreisen um die Fragen, welche Frauen in welchem Teil Deutschlands zu welcher Zeit ‚mehr‘ gleichgestellt waren als die anderen, inwiefern der vermeintliche ‚Gleichstellungsvorsprung‘ von Frauen im Osten gegenüber Frauen im Westen auch über die formale Gleichberechtigung hinausging, in welchen sozialen Bereichen er sich wie niederschlug, und schließlich, welche Geschlechterkonstruktionen die jeweiligen politischen und sozialen Verhältnisse hervorbrachten. Der staatlich verordneten ‚Emanzipation von oben‘ in der DDR wird dabei eine auf der sozialen Bewegung der Frauen basierende ‚Emanzipation von unten‘ in der alten Bundesrepublik gegenübergestellt. Einigkeit scheint darin zu bestehen, dass die gegen Ende der DDR erreichte weltweit nahezu beispiellose Erwerbsbeteiligung der Frauen nur einen, wenngleich wichtigen Aspekt der Gleichstellung ausmachte. Unstrittig scheint auch zu sein, dass die Integration von Frauen in die Berufswelt, die hier wesentlich durch staatliche Unterstützung etwa in Form von Kinderbetreuungseinrichtungen ermöglicht wurde, nicht mit einer Egalisierung der geschlechtlichen Arbeitsteilung im Privaten und mit egalitären Geschlechterkonstruktionen einherging. Zunehmend wird dabei in den Analysen der Blick auch auf die Männer gerichtet, auf ihre Interessen am Erhalt ungleicher Geschlechterverhältnisse und auf die mit der Frauenemanzipation einhergehenden Brüche und Krisen in männlichen Identitätskonstruktionen.

Den Geschlechterverhältnissen und -konstruktionen in der DDR und in beiden Teilen Deutschlands während und nach der Wende widmen sich die im Folgenden zu besprechenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Monographien, die sämtlich neueren Datums sind. Die fünf Bücher unterscheiden sich in ihren disziplinären Zugängen, in methodologisch-methodischer Hinsicht und in den Positionierungen der Verfasser/-innen gegenüber ihrem Gegenstand jedoch erheblich voneinander. In ihrer Zusammenschau entsteht ein facettenreiches Bild von Gleichheit und Differenz der Geschlechterverhältnisse und -konstruktionen im Wiedervereinigungsprozess.

Ein (wiedervereintes) Deutschland – zwei Geschlechterkulturen

In ihrer ausgesprochen kenntnisreichen, sorgfältigen und anregenden Studie geht Pamela Heß den Fragen nach, welche geschlechtsspezifischen Konstruktionen in West- und Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung 1989/90 vor dem Hintergrund der Rollenzuschreibungen und Rollenerwartungen im Zusammenhang mit familialen Verpflichtungen wirken, welche Gründe hierfür bedeutsam sein können und welche Implikationen sich daraus für eine Politische Kultur Gesamtdeutschlands ergeben. Sinnvoll erscheint die Konzentration der empirischen Untersuchung auf familiale Verpflichtungen „einerseits aus forschungspragmatischen Gründen und andererseits aus der Überlegung heraus“, dass geschlechtsspezifische Konstruktionen „gerade im Familien- und somit auch im Mutter- und Vaterbild besonders deutlich“ hervortreten (S. 14).

Von zentraler Bedeutung für Heß’ Argumentation, dass geschlechtsspezifische Konstruktionen über geschlechtliche Rollenzuschreibungen und -erwartungen sichtbar werden, ist das Konzept der Politischen Kultur. Die Politische Kultur eines Landes bestehe nicht nur aus Werten, Einstellungen und Normen über Politik und politischem Verhalten, sondern auch aus Geschlechterstereotypen; sie konstituiere sich im politischen Sozialisationsprozess, dessen Agenten unter anderem Familie, Schule, Arbeitswelt, Massenmedien, religiöse Einrichtungen, soziale Bewegungen und auch der Staat selbst seien. Der Blick auf die – in beiden Teilen Deutschlands über 40 Jahre hinweg unterschiedliche – politische Sozialisation insbesondere durch staatliche Interventionen ermöglicht nach Heß die Verengung des Verständnisses von Politischer Kultur auf die gesellschaftlichen Einstellungen zum Rollenbild der Geschlechter und auf das Geschlechterverhältnis im Allgemeinen. Vor diesem Hintergrund fragt die Verfasserin, inwieweit sich mit dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland und der damit verbundenen institutionellen Übernahme des westdeutschen demokratischen Systems der Systemwechsel für die Bürger der ehemaligen DDR auch auf der Ebene der politischen Einstellungen und Wertorientierungen und damit auch der Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnisse vollzogen hat. Die empirischen Untersuchungen basieren zum einen auf der quantitativen Auswertung des Familiensurveys, einer vom Bundesfamilienministerium beauftragten umfragegestützten Familienforschung des Deutschen Jugendinstituts, aus den Jahren 1988/90, 1994 und 2000 und zum anderen auf der qualitativen Inhaltsanalyse der west- und ostdeutschen Zeitschriften SuperIllu, Stern und Gala aus dem Zeitraum September 2007 bis Februar 2008.

Den Untersuchungen zufolge weist die innerfamiliale Arbeitsteilung ostdeutscher Familien geschlechtsspezifische Strukturen aus, die den Geschlechtern unterschiedliche Handlungsfelder zuschreiben und dabei das weibliche Geschlecht stärker auf den Bereich der Haus- und Erziehungsarbeit verpflichten. Heß bilanziert ihr Ergebnis: „Die ‚andere‘ Geschlechterkultur in Ostdeutschland bezieht sich zwar auf ein Familienmodell, nach dem beide Eltern erwerbstätig sind und die Kinder vor allem außerhäuslich betreut werden (das Prinzip der privaten Kindheit spielt im Gegensatz zu westdeutschen Familien nur eine untergeordnete Rolle), aber eben nicht auf eine unterschiedliche Vorstellung von Geschlechterrollen.“ (S. 266) Damit orientierten sich die Differenzen zwischen West- und Ostdeutschland in Bezug auf die Geschlechterkultur vor allem an unterschiedlichen Einstellungen zur weiblichen Erwerbsarbeit, zu Erziehung und Betreuung von Kindern, tendenziell auch zur Arbeitsteilung in der Familie. Die Vorstellungen West- und Ostdeutscher über Geschlechterrollen und deren Anforderungen unterschieden sich aber nicht: Frauen seien nach wie vor ungebrochen zuständig für Familien- und Haushaltspflichten, egal ob sie einer Erwerbsarbeit nachgingen oder nicht. Der Wirkungskreis der Männer habe sich dagegen nicht verändert – Erwerbsarbeit sei noch immer die Hauptverpflichtung der Männer.

Angesichts des sich vollziehenden Institutionenwandels in Ostdeutschland – Abbau der Vollzeiterwerbstätigkeit von Frauen in Richtung auf Teilzeiterwerbstätigkeit, Rückbau der staatlichen Infrastruktur der Kinderbetreuung – kann sich Heß vorstellen, dass sich das Familienmodell aus der DDR dem westdeutschen Familienmodell annähern könnte. Denkbar sei, dass Frauen auch in den neuen Bundesländern ihre berufliche Laufbahn für ein Kind kurzzeitig unterbrechen und danach in Teilzeit arbeiten. Nicht denkbar hingegen sei, dass Männer ihre Karriere für den Kinderwunsch aufgeben – weder in Ost- noch in Westdeutschland. Die ostdeutschen Männer beteiligten sich zwar tendenziell häufiger als westdeutsche Männer an der Kinderbetreuung und im Haushalt, aber auch in den neuen Bundesländern hätten Frauen bzw. Mütter die Hauptverantwortung für den Haushalt und die Organisation der Kinderbetreuung. Der sich in Ostdeutschland nach wie vor vollziehende Struktur- und Institutionenwandel könnte demnach auch eine Angleichung der ostdeutschen an die westdeutsche Geschlechterkultur nach sich ziehen.

Umgekehrt ließe sich jedoch auch schlussfolgern, so ist hinzuzufügen, dass der zeitgleich zögerlich in Westdeutschland in Gang kommende Wandel hinsichtlich der Förderung der weiblichen Erwerbstätigkeit und des Ausbaus der öffentlichen Kinderbetreuung Bewegung in die westdeutsche Geschlechterkultur bringen könnte. Dies kann aber, Heß zufolge, nur dann in der sozialen Praxis erfolgreich und nachhaltig wirken, wenn sich auch die dahinter stehenden Rollenbilder hinsichtlich der gesellschaftlichen und familialen Arbeitsteilung verändern.

Der Geschlechterwiderspruch als ‚Nebenproblem‘ der DDR

Die Ergebnisse der Studie von Heß zeigen deutlich, dass die rein formale Förderung und Durchsetzung der Angleichung der Geschlechter durch Veränderungen der strukturellen Rahmenbedingungen in der Erwerbsarbeit und der Kinderbetreuung allein nicht ausreichen, um Geschlechtergleichheit zu verwirklichen. Liest man diese Erkenntnis im Licht der beiden Studien von Ursula Schröter, Renate Ullrich und Rainer Ferchland, so entsteht der Eindruck, dass in der DDR der Geschlechterwiderspruch nur mehr als Nebenwiderspruch Berücksichtigung fand. Schröter et al. bezeichnen den Umgang der DDR mit den Geschlechterverhältnissen als „patriarchal“: Während der erste Band von 2005 im Titel noch das „Patriarchat im Sozialismus“ mit einem Fragezeichen versieht, scheint die Frage im zweiten Band von 2009, der das „Patriarchat in der DDR“ untersucht, bereits beantwortet zu sein. Die Klärung des Patriarchatsbegriffs erfolgt in beiden Studien eher rudimentär – Patriarchat scheint so viel wie geschlechtliche Ungleichheit als soziale Zweitrangigkeit von Frauen zu meinen –, aber das (verschwindende) Fragezeichen spielt durchaus eine Rolle in den Erörterungen. Worum geht es in den beiden Bänden, die aus Forschungsaufträgen der Rosa-Luxemburg-Stiftung hervorgegangen sind?

Der erste Band basiert auf geschlechtsspezifischen Auswertungen ausgewählter Dokumente der soziologischen und kultursoziologischen Forschung der DDR. Grundlagen bilden hier neben den sogenannten SID-Heften (Soziologische Informationen und Dokumentationen) und der Reihe Soziologie auch die interdisziplinären Informationshefte des Wissenschaftlichen (Bei-)Rats „Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft“ und die Mitteilungsblätter der Forschungsgemeinschaft „Geschichte des Kampfes der Arbeiterklasse um die Befreiung der Frau“ sowie Dissertationen und Forschungsberichte, die beim „Wissenschaftlichen Rat für Soziologische Forschung der DDR“ archiviert wurden – insgesamt mehr als 70.000 Seiten Text. Diesen Materialfundus untersuchen Schröter und Ullrich im Hinblick auf zwei Fragen: „Erstens. Welche Forschungsfragen und welche Forschungsergebnisse zu den Geschlechterverhältnissen sind bis heute wichtig und insofern aufhebenswert (wären aufhebenswert gewesen)? Zweitens. Welche Fragen, welche Zusammenhänge fehlen aus heutiger Sicht?“ (S. 7)

Die beiden Forschungsfragen lassen leider klare Auswahl- und Bewertungskriterien für das „Aufhebenswerte“ und „das Fehlende“ offen. Bei der Lektüre des Bandes müssen folglich einige Abstriche hinsichtlich der Stringenz und Nachvollziehbarkeit der Erkenntnisse gemacht werden. Dies wird noch verschärft durch persönliche Einsprengsel der Verfasserinnen, in denen sie jeweils benennen, was ihnen als DDR-Zeitzeuginnen bekannt und was ihnen nicht bekannt gewesen sei und wie sie diese Erkenntnisse heute beurteilen würden. Herausgekommen ist bei den, so der Untertitel des Bandes, „Nachträgliche[n] Entdeckungen in Forschungsergebnissen aus der DDR“ aber dennoch eine überaus spannende und überaus lesenswerte Rekonstruktion von Ergebnissen der vor allem gesellschaftswissenschaftlichen Forschungen in der DDR zu den Geschlechterverhältnissen und ihrem theoretischen wie politischen Umfeld.

Demnach gab es in der DDR auf Gründungsbeschluss des DDR-Ministerrats seit 1964 sowohl eine institutionalisierte Soziologie als auch eine institutionalisierte und interdisziplinär angelegte Frauenforschung. Diese sehen die beiden Verfasserinnen im internationalen Vergleich als bahnbrechend an: Die Gründung eines wissenschaftlichen Gremiums zur Analyse der Lage der Frauen in der DDR sei zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem es organisierte oder gar institutionalisierte Frauenforschung weder in den anderen sozialistischen Ländern noch in der damaligen Bundesrepublik und den anderen westeuropäischen kapitalistischen Ländern gegeben habe, sondern nur in den nordischen Ländern. Auch ein wissenschaftlicher Rat für soziologische Forschung in der DDR wurde kurz darauf vom Politbüro der SED ins Leben gerufen. Das erste Kapitel beleuchtet den politischen und theoretischen Hintergrund der Forschungen im Kontext dieser Gremien und zeichnet detailreich ihre Entwicklungsgeschichte nach.

Im zweiten Kapitel stellen die Verfasserinnen in chronologischer Abfolge (zumeist in Zwei-Jahres-Schritten) konkrete Forschungsergebnisse vor und konzentrieren sich dabei „auf die so genannte private Sphäre“, genauer noch vor allem „auf die im Privathaushalt geleistete, meist unbezahlte Arbeit“ (S. 66). In den Ausführungen stehen unter anderem die familiäre Entwicklung, die häusliche Arbeitsteilung, das Erziehungsverhalten der DDR-Eltern, die Auswirkungen der mütterlichen Erwerbstätigkeit auf die kindliche Entwicklung, die Vorbereitung der Jugendlichen auf die Familiengründung und das reproduktive Verhalten im Mittelpunkt. Die chronologische Darstellung ermöglicht es, gerade auch in der Verquickung mit politischen Entwicklungen, die die Forschungsergebnisse zur Unterstützung von Entscheidungen nutzten, Verschiebungen in den wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkten zu entdecken. So schlug sich beispielsweise die auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 verkündete Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau politisch in einem Schwerpunktwechsel von der Frauen- zur Bevölkerungs- und Familienpolitik und wissenschaftlich in Schwerpunktverlagerungen der Forschungen hin zu Fertilität, Familienfragen und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nieder.

Auffällig ist, dass die DDR-Frauenforschung wesentlich auf Frauen fokussierte und Männer allenfalls randständig in den Blick nahm, womit sie sich jedoch in guter Gesellschaft zur westdeutschen, ja westlichen Frauenforschung befand, die ihren Blick auch erst in den späten 1980er Jahren auf die Geschlechterverhältnisse und auf Männer zu richten begann. Deutlich wird in den Darstellungen der historischen Entwicklung, wie eng die DDR-Frauenforschung an die Frauen- und später auch Familienpolitik geknüpft war: So resultierten Forschungsfragen aus den politischen Gestaltungsaufgaben, und politisches Handeln legitimierte sich durch die so gewonnenen Erkenntnisse über Frauen und ihre Lebenswelten. Derartige Reflexionen weisen jedoch über Schröters und Ullrichs Forschungen hinaus und eröffnen neuen Horizonte für weiterführende Studien zur Verquickung von Wissenschaft und Politik in der DDR.

Gleichwohl fällt Schröters und Ullrichs Bilanz kritisch aus: Die DDR-Gesellschaftswissenschaften seien nicht generell geschlechtsblind gewesen, aber der Geschlechterwiderspruch habe im Vergleich zum Klassenwiderspruch nicht einmal als ‚Nebenproblem‘ eine angemessene Rolle gespielt. Während es in der umfangreichen Sozialstruktur- und Klassenforschung bereits seit Ende der 1970er Jahre für möglich gehalten worden sei, dass das strategische Ziel der Klassenlosigkeit nicht nur durch Annäherung an die Arbeiterklasse, nicht nur durch ‚Arbeiter-Werden‘ zu erreichen sei, weswegen die spezifischen Potenzen aller Klassen und Schichten analysiert werden müssten, habe es vergleichbare Forschungen (und die zugehörige Politik) für das Geschlechterthema nicht gegeben. Aus der Unterordnung der Geschlechterfrage (ebenso wie u. a. der ethnischen) unter die Klassenfrage sei allerdings kein Hehl gemacht worden, habe sie doch in Übereinstimmung mit den theoretischen Wurzeln der deutschen Arbeiterbewegung gestanden. Die Verfasserinnen schlussfolgern: „Kapitalismus funktioniert nicht ohne Patriarchat, aber Patriarchat funktioniert auch ohne Kapitalismus.“ (S. 163)

Grenzen der Gleichstellung der Geschlechter in der DDR

Im zweiten Band führen Ursula Schröter, Renate Ullrich und Rainer Ferchland die Überlegungen zum „patriarchale[n] Charakter des DDR-Staates“ (S. 7) weiter. Die bisherigen Befunde auf der Grundlage anderer Quellen aus verschiedenen Zeiträumen der Existenz der DDR sollen präzisiert, der empirische Fundus angereichert und die theoretische Verallgemeinerung erleichtert werden. Ziel ist dabei zum einen, einen Beitrag zur gegenwärtigen Debatte über den gelungenen oder weniger gelungenen Vereinigungsprozess in Deutschland zu leisten, in der insbesondere unter Bezugnahme auf die Frauen- und Familienpolitik der DDR immer wieder auf nach wie vor bestehende Ost-West-Unterschiede in Einstellungen und Verhaltensweisen – gerade auch im familiären Bereich – verwiesen werde. Zum anderen wollen die Verfasser/-innen eine der Ursachen für das Scheitern des „ersten deutschen Sozialismusversuch[s]“ (S. 8) mit seinem Chancenreichtum und seinen Grenzen der Geschlechterpolitik markieren.

Empirische Grundlagen dieser Analysen bilden erstens Dokumente des Demokratischen Frauenbundes Deutschland (DFD), der im Dienst der SED gestanden hatte, und damit offizielle DDR-Unterlagen vor allem aus den ersten beiden Jahrzehnten des Bestehens der DDR. Ursula Schröter zeichnet in diesem Kapitel den langwierigen Definitionsprozess des DFD als gesamtdeutsche Frauenorganisation wie auch ausgewählte frauenpolitische Ereignisse der 1960er Jahre nach. Dabei lenkt sie ihr Augenmerk auf die „konfliktreiche[] Beziehung zwischen Arbeiterbewegung und Frauenbewegung – in den Farben der DDR“ (S. 9). Deutlich wird in den Ausführungen, dass die DDR-Frauen bzw. ihre Organisation die vorgegebene Rolle nicht konsequent spielen konnten und spielen wollten, was unterschiedliche Reaktionen seitens der Regierenden zur Folge hatte, so etwa die Bildung von DFD-Betriebsgruppen und ihre spätere Auflösung oder die Durchführung von zentralen Frauenkonferenzen, die jedoch keine dauerhafte Einrichtung werden sollten. Schröter schlussfolgert: „Die nicht zu unterdrückenden Mitgliederinteressen der Frauen widersprachen nicht selten der Fremdbestimmtheit. Und dieser Widerspruch kann heute produktiv gemacht werden.“ (S. 61)

Als zweite empirische Grundlage dienen ausgewählte DEFA-Dokumentarfilme aus der gesamten Zeit der DDR, die von Renate Ullrich daraufhin untersucht werden, wie DDR-Frauen ihre eigene Situation beschrieben, mit welchen Problemen sie trotz aller fortschrittlichen Gesetze zum Frauen-, Mutter- und Familienschutz und zur Gleichstellung zu kämpfen hatten. Dabei geht es der Verfasserin vor allem darum, herauszufinden, welche Frauen in Bild und Wort dargestellt und welche Frauenbilder von diesen Filmen propagiert und mit-geprägt wurden. In den Schilderungen des Alltags der Frauen und Mädchen, insbesondere zu Zeiten der Wende, entdeckt sie Aussagen zum Stand und zu Trends der Emanzipation. So sei die Gleichstellung der Geschlechter im bzw. trotz Patriarchat der DDR weit gediehen gewesen und selbstverständlich gelebt worden und keiner Rede wert gewesen – bis zur Wende: „Der Einbruch des Kapitalismus traf alle – sowohl die Frauen als auch (ihre) Männer. Die Rückschritte in der Gleichstellung fielen ihnen (uns) erst später auf: der plötzlich wieder gültige § 218; die Kostenpflicht für ‚Pille‘ und für Kinderbetreuung; das auf dem bundesrepublikanischen Familienmodell beruhende Scheidungsrecht; der drohende Verlust an finanzieller und überhaupt an Eigenständigkeit gegenüber ihren Partnern und zu alledem der Vorwurf, der Drang der Ostfrauen nach Erwerbsarbeit sei eine wesentliche Ursache für die Massenarbeitslosigkeit.“ (S. 116)

Soziologische Befragungsergebnisse überwiegend aus den 1980er Jahren bzw. aus der Umbruchzeit stellen das dritte empirische Material dar. Rainer Ferchland analysiert diese in Bezug auf soziale Lagen und deren Reflexionen, wobei er den Schwerpunkt auf die Geschlechterdifferenz legt, die im Vergleich zur Klassendifferenz auch empirisch in der DDR nur eine geringe Rolle gespielt habe. Die neuerlichen Auswertungen der Befragungsergebnisse zeigen, „dass die Geschlechterfrage nicht zu den vordringlichen Untersuchungsschwerpunkten der Initiatoren und der Gesellschaftswissenschaften überhaupt gehörte […] Die Kategorie Geschlecht wurde nicht ignoriert, aber ihr wurde nicht die erforderliche Aufmerksamkeit zuteil“ (S. 180), wobei Ferchland zu Recht darauf hinweist, dass dieser Vorwurf nicht nur auf die DDR-Sozialwissenschaften zutrifft. Seine Analysen verdeutlichen, dass auch in der DDR eine geschlechtliche Ungleichheit zuungunsten von Frauen bestand. Im Generationenvergleich wird allerdings deutlich, dass diese zunehmend abgebaut wurde, je länger die DDR bestand – mehr als zur gleichen Zeit in der alten Bundesrepublik. Das Patriarchat in der DDR habe sich selbst gemäßigt: „Unter den patriarchalen Strukturen der DDR wurden große Fortschritte beim Abbau der strukturellen Diskriminierung der Frau bewusst und planmäßig (paternalistisch gesteuert) herbeigeführt.“ (S. 180) Die Arbeitsteilung innerhalb der Familie aber sei noch stark vom eigentlich in der Erwerbssphäre überwundenen Alleinverdienermodell geprägt gewesen: Die Hausarbeit blieb in der gesellschaftlichen Würdigung zweitrangig und wurde daher den Frauen übertragen. Bemerkenswert ist zudem, dass sich in der DDR-Wirtschaft der 1980er Jahre Tendenzen der Verzögerung und des partiellen Rückbaus der weiblichen Emanzipation durch eine erneute Vertiefung der geschlechtlichen Arbeitsteilung zeigten.

Im gemeinsamen Fazit weisen Schröter, Ullrich und Ferchland vor allem auf die Begrenztheit der Gleichstellung von Frauen im Sozialismus hin. Das sozialistische Patriarchat der DDR sei gegründet gewesen auf Volks- und Genossenschaftseigentum, Planwirtschaft, das Recht auf Bildung und berufliche Arbeit für alle Menschen im erwerbsfähigen Alter. „Frauenemanzipation galt als wichtig, aber nachgeordnet. Allerdings nicht als marginal. Es gab international anerkannte vorbildliche frauenpolitische Maßnahmen und Gesetze. Sie waren zwar nicht geeignet, das überkommene Patriarchat infrage zu stellen oder gar zu beseitigen. Aber sie waren geeignet, es zu zügeln, es für die meisten Frauen, Kinder und Männer – bei aller Widersprüchlichkeit – lebbar zu machen.“ (S. 185)

In der Zusammenschau beider Bücher entsteht vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Quellen und betrachteten Zeiträume eine facettenreiche Dokumentation der Erfolge und Grenzen der Frauen- und Geschlechterpolitik in der DDR, die die öffentliche Geschlechterungleichheit in ihre Schranken zu weisen vermochte, im privaten Bereich jedoch nicht abgebaut hatte. Gleichstellung wurde im öffentlichen Raum als Angleichung von Frauen an Männer praktiziert und blieb daher in ihrer Wirkmächtigkeit beschränkt, wobei dahingestellt ist, ob das gewollt oder ungewollt war. Verdienst der beiden Bände ist es, verschiedene Perspektiven auf den politischen, kulturellen und sozialwissenschaftlichen Umgang der DDR mit der Geschlechterfrage eröffnet zu haben, auch wenn bei dem dokumentarischen Eifer kritische Bündelungen in systematisierender Absicht ab und an zu kurz kommen, die Auswahlkriterien der untersuchten Dokumente, Filme und Studien nicht immer nachvollziehbar sind und das gemeinsame Label des sozialistischen Patriarchats in seinem diagnostischen und analytischen Gehalt begrenzt bleibt.

Liebes- und Eheglück in Wende-Zeiten: West-Männer als Gewinner und Ost-Frauen als Verliererinnen?

Die privaten Geschlechterverhältnisse stehen auch im Mittelpunkt der kulturwissenschaftlichen Studie von Alison Lewis, die Liebesgeschichten und Eheromane von Autor/-innen aus Ost und West analysiert, in denen sie die Wiedervereinigung vor allem mit der Metapher der „schwierigen Ehe“ beschrieben findet. In der Literatur würden die Jahre 1989 und 1990, die Zeit der Wende also, als Hochzeit oder Ehe zwischen Ost und West dargestellt, wobei die beiden Teile Deutschlands nicht zuletzt mit dem Ziel einer Reduktion von Komplexität und dem Hinweis auf ein Machtdifferential mit geschlechtlichen Vorzeichen versehen würden: Westdeutschland mit einem männlichen und Ostdeutschland mit einem weiblichen Vorzeichen. Dabei werden die Geschlechterrollen und Geschlechtsattribute auch in einen Bezug zur Geschichte der Nation gebracht.

Lewis misst der Auseinandersetzung mit dem Thema Geschlechterdifferenz zentrale Bedeutung für die Wiedervereinigung bei. In den Jahren nach dem Vollzug der Einheit habe die Geschlechterproblematik mit einem Mal wieder auf der Tagesordnung gestanden und sich besonders im Bereich der Familien- und Arbeitspolitik geltend gemacht. Mehr noch: „Das Projekt der deutschen Einheit und der inneren Einheit ist inzwischen ohne die Leitdifferenz des Geschlechts nicht mehr zu denken.“ (S. 12 f.) Der Gebrauch der Ehemetapher in dieser Zeit lasse demnach in vielerlei Hinsicht auch Rückschlüsse auf die Geschichte einer Gesellschaft zu, die einen rapiden Transformationsprozess durchlaufen habe und sich im Übergang befinde, und zwar nicht nur hinsichtlich der Geschlechterordnung. In diesem Zusammenhang seien Liebesgeschichten und Eheromane die bevorzugten Mittel gewesen, mit deren Hilfe sich die zeitgenössische Literatur mit den aktuellen Themen von Geschlecht und Nation auseinandersetzte. Das Moment der Ost-West-Paarbildung diene der Erkundung der nationalen Stimmungslage in Zeiten der Wende. Geschichten über die Liebe zwischen Ost und West seien demnach zwangsläufig auch Geschichten über die innere Einheit des Landes. Ost- und westdeutsche Autor/-innen verschiedener Generationen hätten sich dem Bereich Liebe und Ehe zugewendet, um tradierte und überkommene Geschlechtermuster auf den Prüfstand zu stellen und um Kritik an neuen, unerwünschten Entwicklungen in der Beziehung zwischen Mann und Frau zu üben. Dabei wird der historische Umbruch mit dem ihn begleitenden Individualisierungs- und Modernisierungsschub vor allem als Chance dargestellt, um Neues zu formulieren: alternative Formen von Männlich- wie Weiblichkeit und andere Formen der Partnerschaft und Zweisamkeit.

Grundlage von Lewis’ erhellender Studie sind acht Romane, die die Geschichte der Wende und der Einheit anhand einer Liebesgeschichte erzählen. In Jurek Beckers Roman Amanda herzlos (1992) werde erzählerisch die Vergangenheit des Ost-West-Paars vor der Wende erkundet und mit Reflexionen zur Frauenemanzipation verknüpft. Brigitte Burmeisters Roman Unter dem Namen Norma (1994) veranschauliche literarisch, dass mit der Wiedervereinigung ein deutlicher Riss durch die ostdeutschen Ehen ging, der die Ehepartner voneinander entfremdete und Streitigkeiten hervorrief. In Monika Marons Roman Animal Triste (1996) werde der Symbolcharakter einer unglücklichen Ost-West-Liebesgeschichte für Geschlecht und Nation deutlich. In den Studien zu diesen drei Romanen wird die Aufmerksamkeit vor allem auf Lebensläufe ostdeutscher Frauen aus der Wendezeit gelenkt. In den anderen Kapiteln rücken literarische Entwürfe ostdeutscher Männertypen in den Vordergrund: Dabei wird die Figur des Ostmanns als Verlierer der Wende erzählerisch mit seiner Unfähigkeit zu lieben verknüpft. Literarische Beispiele für die Krise der Männlichkeit im Kontext der Geschichte der deutsch-deutschen Teilung liefern Ingo Schramms Roman Entzweigesperrt (1998) und Michael Kumpfmüllers Hampels Fluchten (2000). Barbara Sichtermanns Roman Vicky Victory (1995) entwirft aus weiblicher Sicht eine literarische Zukunftsprognose für die ostdeutsche Männlichkeit nach der Wende. In Alexander Osangs Roman Die Nachrichten (2000) wird der Typ eines ostdeutschen Aufsteigers gezeichnet, der sich auch Westfrauen gegenüber zu behaupten weiß, und in Karen Duves Regenroman (1999) geht schließlich eine unerwünschte Form von westdeutscher Männlichkeit im Osten unter, während zugleich neue Weiblichkeitsmodelle entworfen werden. Die beiden letztgenannten Beispiele interpretiert Lewis als beginnenden Vollzug der inneren Einheit, der mit positiven Veränderungen hinsichtlich der Kategorien Geschlecht und Nation einhergeht. Bei dieser Diagnose zielt sie – wie im Buch insgesamt – darauf, die Wendeliteratur als „poetische Inszenierung von Geschichte“ (S. 50) darzustellen. Auch wenn in einer derartigen Darstellungsform Geschichte und Literatur kaum mehr unterscheidbar scheinen, betont Lewis doch immer wieder die feinen Unterschiede.

Deutlich wird so bei der Lektüre, dass die Wende zweifelsohne literarisch neue Konstruktionen von Ost-West-Beziehungen ermöglicht hat. Dabei spiegelt sich die asymmetrische Struktur des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland auch darin nieder, dass die Heirat mit einem Westdeutschen von vielen Romanfiguren als Ideal dargestellt wird, die so ihrem Wunsch nach Integration und ‚Ankunft‘ in der neuen, gewünschten Welt Ausdruck verleihen. Allerdings imaginieren viele untersuchte Werke gescheiterte Integrationsversuche durch die Liebe und entwerfen damit eher pessimistische Aussichten auf die Zukunft der deutschen Einheit. Auch hier liegen literarische und gesellschaftliche Realität oft eng beieinander: „Ein Leben ohne Liebe, ein Leben ohne die Intimität und die Freuden der Zweisamkeit und oftmals ein Leben in Einsamkeit sind Spielarten des Schicksals, das vielen Romanfiguren der Nachwendezeit bevorsteht. Der Verlust der Liebe wie auch der Fähigkeit zu lieben steht demnach in engem Zusammenhang mit dem Verlust anderer Glaubenssysteme in der postkommunistischen Ära.“ (S. 322 f.) Hinzu kommt, dass der geschichtliche Wandel die Geschlechter in Lewis’ Darstellungen auf keinen Fall einander näher gebracht, sondern eher die Gemeinsamkeiten zwischen Liebenden bzw. Ehepartnern und daher auch den letzten Rest Solidarität zwischen den Geschlechtern unterhöhlt zu haben scheint. „Es entsteht fast der Eindruck, als verschärfe der Ost-West-Konflikt den Kampf zwischen Mann und Frau.“ (S. 324) Gender wird in den untersuchten Romanen zum entscheidenden Faktor für die literarische Geschichtsschreibung der Autor/-innen, wobei das Happy-End der Beziehung in Gestalt einer harmonischen Einheit der Ehe zwischen Ost und West eher als fragwürdig dargestellt wird.

Go west: Verwerfung des Geschlechterarrangements als Ursache geschlechtsselektiver Abwanderung aus den neuen Bundesländern

Spannungen in den Geschlechterverhältnissen stehen auch im Mittelpunkt der letzten hier zu besprechenden, wiederum soziologischen Studie von Steffen Kröhnert. In dieser Dissertation erweitert und vertieft er Argumente und Analysen einer von ihm geleiteten Untersuchung des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung zur geschlechtsselektiven Abwanderung aus den neuen Bundesländern. Den Ausgangspunkt der deskriptiven quantitativen Untersuchung bildet die Beobachtung, dass zwischen 1989 und 2005 1,6 Millionen zumeist junge (18- bis 29-jährige) und zu 55% weibliche Menschen aus den neuen Bundesländern abgewandert sind. Diese Beobachtung widerspricht nicht nur traditionellen Annahmen zur Mobilität und zu Geschlechterrollen, nach denen Männer als das aktivere, mobilere und stärker erwerbsorientierte Geschlecht gelten, sondern ist in dieser Ausprägung auch für Europa historisch in Art und Ausmaß einzigartig und ungewöhnlich.

Die zentrale These von Kröhnerts anregender Untersuchung lautet, „dass sich die Ursachen der Geschlechtsselektivität der Wanderungsprozesse nicht – wie häufig vermutet – allein aus der Situation des Arbeitsmarktes in den neuen Bundesländern herleiten lassen, sondern dass ihre Gründe im Zusammenwirken verschiedener Bedingungsgefüge liegen, die in Folge der deutschen Wiedervereinigung zu einer Verwerfung des Geschlechterarrangements kulminierten, welche letztlich für disproportionale Abwanderung und das Entstehen einer unausgewogenen Geschlechterproportion in den neuen Bundesländern verantwortlich sind“ (S. 5). Als zentrale Elemente der Bedingungsgefüge macht er neben der ökonomischen Situation in den neuen Bundesländern und der Verfassung des dortigen Arbeitsmarkts die Geschlechterarrangements in Bildung und Beruf aus. Er zeigt, dass in der DDR zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung die Tendenz von jungen Frauen zu höheren allgemeinbildenden Abschlüssen deutlicher ausgeprägt war als in der Bundesrepublik und dass sie auch in der beruflichen Qualifikation und den tatsächlich ausgeübten Berufen besser aufgestellt waren als Männer. Zudem war hier die Vollzeiterwerbstätigkeit für Frauen Normalität, wobei der Arbeitsmarkt wie im Westen geschlechtlich segregiert war, aber mit je anderen Ausprägungen: Der Frauenanteil in männerdominierten Berufen war deutlich höher als in der Bundesrepublik, und der Dienstleistungssektor blieb fast ausschließlich den Frauen vorbehalten. Diese spezifischen Bedingungen führten Kröhnerts Argumentation zufolge im Zusammentreffen des ostdeutschen Geschlechterarrangements mit dem westdeutschen Arbeitsmarktregime im Wiedervereinigungsprozess dazu, dass ostdeutsche männliche gegenüber weiblichen Jugendlichen im Bildungssystem zurückblieben und dass sich das traditionelle männliche Rollenbild in den neuen Bundesländern offenbar als weniger anpassungsfähig an die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen erweist.

Die biographischen und familiären Prägungen durch die ostdeutschen Geschlechterarrangements hätten junge Frauen prinzipiell mit besseren individuellen Ressourcen für den Umgang mit den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen nach 1990 ausgestattet. So habe sich die ostdeutsche biographische Prägung von Frauen, gekennzeichnet durch hohe Wertschätzung ökonomischer Selbstständigkeit, hohe Bildungsaspiration und Orientierung auf Tätigkeiten im qualifizierten Dienstleistungsbereich, prinzipiell als besser passfähig zu dem marktwirtschaftlichen Leistungsgedanken und den individuellen Anforderungen durch den Umbau der gesamtdeutschen Industriegesellschaft erwiesen als die biographische Prägung der Männer. Diese resultiere zum Teil in einer Persistenz der hohen Wertschätzung klassischer männlicher Berufe (ungeachtet der tatsächlich realisierbaren Arbeitsmarktchancen) oder in Resignation vor den Anforderungen der modernen Gesellschaft, was sich durch eine eher geringe Bildungsaspiration bzw. Weitergabe einer solchen an die nachfolgende Generation äußere.

Das Aufeinandertreffen der besonderen gesellschaftlichen Bedingungen der Wiedervereinigung, die in den neuen Bundesländern zu einer Benachteiligung von jungen Frauen gegenüber jungen Männern geführt haben, mit deren geschlechtsspezifischen biographischen Ressourcen habe zu einer Situation geführt, in der die Abwanderung für junge Frauen aus beruflichen und privaten Gründen attraktiver als für junge Männer geworden sei. Unter Bezugnahme auf Erkenntnisse des bereits oben erwähnten Familiensurveys aus dem Jahr 2000 zum bildungsabhängigen Partnerwahlverhalten diskutiert Kröhnert weiter, dass das Bildungsgefälle zwischen den Geschlechtern die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass junge Frauen nicht nur aus Ausbildungs- und Arbeitsplatzgründen in den Westen abwandern, sondern dort auch überproportional häufig Partnerschaften mit Männern aus den alten Bundesländern eingehen und mit diesen Familien gründen. Dass junge ostdeutsche Frauen nach gut bzw. besser gebildeten und sozioökonomisch gut aufgestellten jungen westdeutschen Männern als Partnern suchen, wird nach Kröhnert zusätzlich durch die weiterhin schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den alten Bundesländern unterstützt, die eine Orientierung des Partnerwahlverhaltens auch an der möglichen ökonomischen Absicherung der Familie durch den Mann gemäß dem in Westdeutschland noch vorherrschenden, wenn auch modernisierten Ernährermodell fördert.

Die Ergebnisse der Studie schließen damit eng an die Ergebnisse der hier vorgestellten Untersuchungen von Heß und Lewis an. Vergleichbar mit Lewis’ kulturwissenschaftlichen Konstruktionen der Ost-West-Beziehungen zwischen den Geschlechtern zeigt Kröhnert mit sozialwissenschaftlichen Daten, dass ostdeutsche Frauen Beziehungen zu westdeutschen Männern präferieren, und wie Heß argumentiert er, dass die hierarchischere Struktur der westdeutschen Geschlechterverhältnisse, in denen das Ernährermodell noch immer Leitbildcharakter hat, den in der DDR erreichten Grad der ökonomischen Unabhängigkeit der Frauen von Männern zu untergraben droht. Wenngleich Kröhnerts Ziel wesentlich in einer Deskription quantifizierender Befunde liegt, so hätte seine Studie doch durch eine intensivere Einbettung und Reflexion seiner empirischen Ergebnisse in den Erkenntnisstand der Frauen- und Geschlechterforschung erheblich an Aussagekraft und Tiefenschärfe gewinnen können.

Im Fokus: Geschlechterverhältnisse und -konstruktionen in privaten Beziehungen

Ein wesentliches gemeinsames Moment der besprochenen Bücher liegt darin, dass die Geschlechterverhältnisse vor, während und nach der Wende als hierarchisch dargestellt und analysiert werden. Allerdings gehen nur Schröter, Ullrich und Ferchland so weit, diese Geschlechterverhältnisse als „patriarchal“ zu bezeichnen, während die anderen Autorinnen diesbezüglich zurückhaltender in ihrem wording, nicht unbedingt jedoch auch in ihrem inhaltlichen Gehalt sind. Es scheint, als habe der Wiedervereinigungsprozess auch die geschlechtliche Ungleichheit in Ost und West zusammengeführt und potenziert. Kröhnert hingegen reflektiert die Struktur der Geschlechterverhältnisse nicht näher, sondern beschränkt sich darauf, sie in ihrer Gestalt zu beschreiben. Ostdeutsche Männer erscheinen in seiner Studie als die Wendeverlierer; aber auch die ostdeutschen Frauen sind in seinen Ausführungen nicht einfach Gewinnerinnen der Wende, da sie ihren Lebensentwurf dem westdeutschen Geschlechter- und Arbeitsmarktregime anpassen müssen und die zu Zeiten der DDR erreichte ökonomische Unabhängigkeit durch Vollzeiterwerbstätigkeit und sozialpolitische Errungenschaften wie etwa institutionalisierte Kinderbetreuung einbüßen. Ihre Mobilitätsbereitschaft gen Westen affirmiert so betrachtet die hierarchische Struktur des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik.

Gemeinsam ist den hier vorgestellten Büchern auch, dass sie inhaltlich auf private Beziehungen fokussieren und dabei Geschlechterkulturen und -konstruktionen in den Blick nehmen. Hier, im Privaten, zeigen sich auch – neben dem längst vollzogenen Institutionentransfer von West nach Ost, der eine Angleichung des strukturellen und institutionellen Bedingungsgefüges von Lebensläufen und -entwürfen mit sich brachte – nach wie vor kulturelle Differenzen, die aus der immerhin vier Jahrzehnte hinweg kultivierten und tradierten Systemkonkurrenz von DDR und Alt-BRD resultieren und eine ungebrochen hohe Wirkmächtigkeit im Beziehungsalltag der Geschlechter entfalten. Hinsichtlich der herrschenden Geschlechterkulturen unterscheiden sich West- und Ostdeutschland gemäß der rezensierten Studien nach wie vor. Dies zeigt sich den Autor/-innen zufolge beispielsweise in den Einstellungen West- und Ostdeutscher gegenüber der Frauenerwerbstätigkeit, der Erziehung und Betreuung von Kindern und damit verbundenen Frauen- und Mütterleitbildern und zum Teil auch der familialen Arbeitsteilung. Eine wiederum gemeinsame Leerstelle in der Thematisierung und Problematisierung der Geschlechterverhältnisse und -konstruktionen stellen jedoch Männer- und Väterleitbilder in Ost und West dar. Ihnen wurde weder in der DDR noch in der Alt-BRD in politischer und wissenschaftlicher Hinsicht besondere Bedeutung beigemessen. Und doch, vielleicht sogar gerade deshalb, rücken sie in aktuellen Reflexionen der Ost-West-Geschlechterbeziehungen wie beispielsweise in Lewis’ kulturwissenschaftlicher Studie oder auch in Kröhnerts soziologischen Datenanalysen als das von Krisen geschüttelte und tendenziell mit der Bewältigung der Veränderungen überforderte Geschlecht in den Blickpunkt.

Damit sind zugleich auch weiterführende Forschungsfragen im Blick zurück nach vorn auf Geschlechterverhältnisse und -konstruktionen im Wiedervereinigungsprozess aufgeworfen. In diesem Sinn können die „Nachträgliche[n] Entdeckungen“ von Schröter et al. von DDR-Geschlechterverhältnissen in wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Dokumenten nicht nur als Forschungsergebnisse in dokumentarischer Absicht interpretiert, sondern auch als Hinweis auf einen noch weiter zu erschließenden Quellenkorpus für die zeithistorische Frauen- und Geschlechterforschung gelesen werden. Darüber hinaus verdeutlichen die vorgestellten Studien aber auch, dass der gegenwartsbezogene und zukunftsgerichtete aufmerksame Blick auf Gleichheit und Differenz der wiedervereinigten Geschlechterverhältnisse keineswegs obsolet ist. Mit Pamela Heß gesprochen: „Die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland […] dürfen nicht verdeckt oder übergangen werden – sie müssen artikuliert und analysiert werden.“ (S. 267) Differenzen an sich seien nicht schlimm, sondern Bestandteil unserer Gesellschaft. Differenz und Divergenz könnten gar fruchtbarer als Einheitlichkeit sein. Sie können sich vielmehr als Quelle von Entwicklung und Veränderung erweisen. Keineswegs geht es also darum, Differenz zu essentialisieren oder gar erst zu konstruieren, sondern darum, adäquat Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Geschlechterverhältnisse und -konstruktionen unter Bedingungen des sich vollziehenden Struktur- und Institutionenwandels im Wiedervereinigungsprozess zu analysieren.

URN urn:nbn:de:0114-qn113102

Dr. Heike Kahlert

Universität Rostock

Institut für Soziologie und Demographie

Homepage: http://www.wiwi.uni-rostock.de/soziologie/makrosoziologie/kahlert/

E-Mail: heike.kahlert@uni-rostock.de

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