Abstract: Im Beitrag wird die ästhetische Struktur von Tizians Vergewaltigung der Lucretia von 1571 analysiert, eines späten Gemäldes, das für Philipp II. entstand. Dieses zeigt – entgegen der Malereitradition – nicht den Selbstmord Lucretias, sondern den vorausgegangenen Gewaltakt durch Tarquinius. Das Geschehen wird dabei ambivalent dargestellt: Motivisch kehrt Tizian die Vehemenz des Übergriffs hervor, auf der ästhetischen Ebene und in der Inszenierung des Akts und seines Umfelds rekurriert er jedoch zugleich auf Darstellungen und Interpretationen, die der Frau einen Anteil an dem Verbrechen zuschreiben wollten. Diese Ambivalenz fordert im hohen Maß die Beteiligung der Betrachter/-innen an der Sinngenerierung heraus, vor allem deren Bilderkenntnis, zielt also auf einen imaginativen Bildspeicher, über den jede/r Betrachter/-in verfügt und auf den er/sie für die Interpretation realer Bilder zurückgreift.
Kunstwerke zeichnen sich häufig durch eine produktive semantische Ambivalenz und mithin eine inhaltliche Vielschichtigkeit aus, die sich dem Zusammenwirken von bildlichen Rekursen, künstlerischer Umdeutung und Erfindung sowie nicht zuletzt dem Spiel mit dem imaginativen Bilderfundus der Betrachter/-innen verdankt. Exemplarisch dafür soll hier ein Gemälde Tizians in den Blick genommen werden. 1571 für Philipp II. von Spanien vollendet, zeigt es die Vergewaltigung der Lucretia[1] (Abb. 1). Nach Livius war Lucretia die sittsame Gemahlin eines römischen Edelmanns, der in der Runde seiner Freunde die Tugend seiner Frau betonte.[2] Einen aus dieser Runde, Tarquinius, provozierten die Schilderung und späterhin der Anblick Lucretias so sehr, dass er sie in Abwesenheit des Ehemannes zu verführen versuchte. Sie jedoch wies ihn zurück, worauf Tarquinius sie erpresste und vergewaltigte, nachdem sie der Nötigung hatte nachgeben müssen. Tags darauf rief Lucretia die Männer ihrer Familie zu sich, setzte sie von dem Vorfall in Kenntnis und entschloss sich zur Selbsttötung.
Tizian widmete sich der Szene der Nötigung und damit einem in der Malerei eher seltenen Sujet, wurde die Vergewaltigung doch – im Gegensatz zum Selbstmord Lucretias – im 16. Jahrhundert vor allem in der Druckgraphik verbildlicht. Diese Sequenz der Erzählung jedenfalls stellt durch die in ihr angelegte Gegensätzlichkeit künstlerisch eine große Herausforderung dar, verlangt sie der Erzählung folgend doch, zugleich sexuelles Begehren und keusche Zurückweisung in einem Bild zu zeigen, den Schrecken des Verbrechens zu veranschaulichen und dennoch ein dem ästhetischen Urteil der Betrachter standhaltendes Gemälde hervorzubringen.
Der Maler übersetzt das gewalttätige Verlangen des Tarquinius in die Heftigkeit seiner Bewegung. Mit weit ausholendem Arm, den Dolch in der Hand stürmt der Mann auf Lucretia ein, welche ihrerseits mit erhobenen Armen bemüht ist, ihn abzuwehren. Die Brutalität des Angriffs bedingt also keineswegs eine eindeutige Überwältigung der weiblichen Protagonistin, vielmehr werden die beiden Figuren in einem sorgsam austarierten Ineinandergreifen von Bewegung und Gegenbewegung aufeinander bezogen. Tarquinius drängt vorwärts und dreht sich zugleich nach hinten, Lucretia wird in die Kissen gedrückt und richtet sich dennoch dabei auf. Am Spiel der Arme und an den Gesten wird dieser Zustand wechselseitiger Destabilisierung und Stabilisierung evident: Ohne sich an Lucretia festzuhalten, würde Tarquinius nach vor kippen, ohne von ihm gezogen zu werden, könnte Lucretia sich kaum aufrichten. Der Überfall wird derart in eine Folge von Bewegungsabläufen übersetzt, die kompositorisch harmonisiert sind, die jedoch zugleich das Aufeinandertreffen der beiden Personen als ein ebenso spannungsreiches wie labiles ausweisen.
Tarquinius ist bekleidet, allein sein Knie, das er zwischen Lucretias Beine schiebt, ist nackt, der verrutschte rote Strumpf legt seine Haut frei, unter der sich reges Muskelspiel abzeichnet. Sprechend ist die Linie von seinem Unterschenkel, die den Blick des Betrachters auf Lucretias verdecktes Geschlecht lenkt, wie auch das gebauschte Tuch die Aufmerksamkeit an jener Stelle konzentriert, Distanz schaffend und Bedrängung evozierend. Dolch und Schwert vereindeutigen als Sexualmetaphern das Ziel des Angriffs. Es bleibt der Imagination der Betrachtenden überlassen, die nicht explizit ausgeführte Vergewaltigung imaginativ zu vollenden.
Der Kontrast der emotionalen Verfasstheit der beiden Protagonisten, der in der beschriebenen formalen Disposition angelegt ist, kulminiert in der Farbgestaltung des Gemäldes. Tarquinius ist in Rot in unterschiedlichen Nuancen gekleidet, was seinen inneren Furor nach außen trägt: Die Strümpfe leuchten in Zinnober, die Hose in Karmin, und selbst Haar und Bart schimmern in Orangerot und übersetzen so den Gefühlszustand des Vergewaltigers, den Livius als „glühend vor Verlangen“ („amore ardens“)[3] beschrieb, anschaulich ins Bild. Grün hingegen glänzen die üppigen Draperien, die Lucretias räumliche Sphäre definieren, in die der Mann so heftig einbricht.
Der Komplementärkontrast spiegelt auf stilistischer Ebene eine die Komposition bestimmende Interdependenz der Akteure, die den von der Narration geforderten Widerstand unterläuft. Tizian markiert dies durch weitere Korrespondenzen und Überblendungen im Dienste harmonischer Farbkomposition: Das goldene Haar der Frau findet ein Äquivalent im mit Goldfäden durchwirkten Wams des Mannes, während ersteres weich und seidig schimmert, gerät letzterer zur ‚Panzerung‘, womit geschlechtliche Stereotypen im Sinne weiblicher Weichheit und männlicher Stärke reproduziert werden und auf die Szene bezogen Verletzlichkeit und Härte Ausdruck finden. Das Weiß von Tarquinius’ Hemd, das einen deutlichen Grauton in Relation zu den reinweißen Laken zeigt, spannt in Korrespondenz mit diesen Lucretias Körper gleichsam ein. Besonders augenfällig aber ist, dass das Grün des Bettvolants durchgängig mit einem rötlichen Schimmer überzogen ist, in ihm die an den Figuren motivisch getrennten Farben nun unmittelbar zusammenfallen. Der seidige Stoff scheint von der Gewandung des Mannes angestrahlt, das Rot breitet sich an der Oberfläche wie ein nervöses Flimmern aus, womit die von Tarquinius ausgehende Gefahr den gesamten Bildraum ergreift und zum Pulsieren bringt. Lucretias gesamter behüteter Innenraum wird durch diese farbliche Vereinnahmung von der Gewalttätigkeit erfasst.
Das Gemälde ist vor dem Hintergrund der ikonographischen Tradition ein Schwellenbild. Es importiert die Drastik, mit der in der Druckgraphik die Vergewaltigung der Lucretia bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verhandelt wurde, in die Malerei und bindet so die dem Medium obligatorische Szene des ‚schönen Sterbens‘ der Lucretia an die diesem zugrundeliegende Gewalttat zurück, die hier auch dezidiert als eine solche deklariert wird.[4] Dennoch aber zeigt es die Macht visueller Verführung und beansprucht eine solche einerseits für die Frau und andererseits für das Gemälde, die Malerei schlechthin.
Der Venezianer malte bekanntermaßen im Laufe seines langen Schaffens zahlreiche Akte und prägte damit nachhaltig ein Bild weiblicher Schönheit und nicht zuletzt weiblicher Erotik.[5] Dieses vermittelt sich allererst über die Inszenierung der Körper und deren stilistische Ausarbeitung. Tizian verlieh seinen weiblichen Figuren entsprechende Posen oder drapierte sie mit edlen Stoffen, um im Wechsel von Enthüllen und Verbergen die Augenlust der Betrachtenden zu wecken. Damit etablierte er bereits auf motivischer Ebene sinnliche Lockungen für einen – vornehmlich wohl – männlichen Adressatenkreis. Vor allem aber bot und bietet, wie häufig angemerkt wurde, die malerische Textur tizianesker Frauenkörper dem Auge vielfach Anreiz:[6] Das Inkarnat ist in Absetzung zu den anderen Partien meist mit geschlossenem Duktus gemalt und in reichen farblichen Nuancierungen angelegt. Der Körper wird nicht durch scharfe Konturen gegen den Raum abgesetzt, sondern geht an seinen Grenzen sachte in die Umgebung über oder ist durch breite, nicht selten rotbraune Schattierungen sanft umrandet. Diese ‚vibrierende‘ Malweise suggeriert Taktilität, ‚belebt‘ die Oberfläche und übersetzt Wärme und Weichheit der Haut in Farbe. Sie ruft die Imagination von Berührung auf und entfaltet so erotisierendes Potential. Auch die Figur der späten Lucretia folgt diesen Gestaltungsprinzipien. Tizian verbindet die Leiblichkeit der Frau mit der Materialität der Malerei in idealer Weise, um vor allem eines zu tun: das Begehren des Betrachters an der Malerei zu wecken, wie es die Kunsttheorie im 16. Jahrhundert als eines der höchsten Ziele der Kunst formulierte.[7] Von einem künstlerischen Standpunkt aus konnte Tizians Streben nur sein, eine so schöne, so reizvolle Lucretia zu malen, dass dem Betrachter die Affektion des Tarquinius nachvollziehbar scheinen sollte. Der weibliche Körper figuriert als Vermittlungsinstanz, das Wohlgefallen an der schönen Frau soll sich auf das gesamte Gemälde übertragen und vice versa, die Verführung liegt nicht auf der motivischen Ebene der Erzählung, sie zielt vielmehr auf die materiellen und ästhetischen Qualitäten der Malerei selbst ab.
Die Cambridger Lucretia folgt diesen Gestaltungsprinzipien im Wesentlichen. Dennoch konstatierte Daniela Bohde hier eine Enterotisierung der Frauenfigur: Die Brutalität des Überfalls, kulminierend in der überzeugenden Darstellung der Vergewaltigung, überlagere alle anderen etwaigen Implikationen. Tizian wolle vor allem die Intimität Lucretias wahren und die Verletzlichkeit des weiblichen Leibes vorführen.[8] Im Vergleich etwa mit den Stichen Heinrich Aldegrevers von 1539 (Abb. 2) bzw. 1553 (Abb. 3), die Tizian wohl kannte, lässt sich allerdings erkennen, dass er die Ausstellung des weiblichen Körpers, seine buchstäbliche Öffnung hin zum Betrachter und damit eine Komponente von Sexualisierung tatsächlich zurücknahm, mithin einen schonenderen Blick auf seine Protagonistin entwarf. Doch lässt sich deswegen nicht im Umkehrschluss eine völlige Aufgabe erotischer Implikationen behaupten. Die Frage nach Erotisierung bzw. Enterotisierung ist überdies nicht nur auf motivischer Ebene zu verhandeln, sondern, wie Bohde selbst in ihrer Studie an anderen Beispielen überzeugend herausarbeitet, entscheidend eben auch von malerischer Materialität und Faktur bestimmt, und just in diesem Punkt unterscheidet sich Lucretia kaum von anderen Akten Tizians.
Der Maler stellte das Gemälde also mitnichten ganz in den Dienst einer Anschaulichkeit des Schreckens, um eine sinnlich anregende Rezeption des Sujets auszuschließen. Doch ist diese Lucretia – um die konträre Forschungsmeinung zu referieren – gewiss nicht in der Weise doppeldeutig angelegt, wie Norman Bryson meint. Er sieht bei Tizian den Moment verbildlicht, in dem Tarquinius von Lucretia die Einwilligung erpresst, eine ‚Einwilligung‘, die nach römischen Recht die Vergewaltigung als Ehebruch auswies und die Tugendheldin schon Augustinus verdächtig erscheinen ließ.[9] Bryson historisiert zwar die Debatte um eine ‚Beteiligung‘ Lucretias und stellt die Frage, ob Tizian Vergewaltigung oder Ehebruch darstelle, bleibt allerdings in der Analyse des Bildes selbst in derselben Logik, wenn er im Verhalten der Frau einen Akt der Verführung festzumachen versucht: „we seem to be seeing two separate iconographic subjects superimposed – a man who rapes, and a women who seduces.“[10] Diese Lucretia aber ist keine Frau, die zu verführen trachtet, zumindest nicht Tarquinius und somit auch nicht auf motivischer Ebene, auf der Bryson argumentiert. Gemälde entziehen sich gemeinhin einer eindimensionalen Lektüre.
Tizian deklariert Vergewaltigung als Akt männlicher Gewalt, erkennt die destruktive Seite des Begehrens und versteht sexuelle Nötigung als Machtausübung. Doch bleibt seine Darstellung zuallererst einem zeitgenössischen Geschlechterbild verpflichtet, in dessen Rahmen die Widerständigkeit der Frau letztlich etwas Aussichtsloses haben musste und in dem der Tatbestand der Vergewaltigung divergenter Beurteilung oblag. Sexuelle Gewalttätigkeit, selbst von solcher Vehemenz, wurde im Venedig des 16. Jahrhunderts unterschiedlich bewertet, sowohl juristisch als auch gesellschaftlich: Vergewaltigung galt zwar als Verbrechen (wenngleich als eines der Unzucht, nicht der Gewalt) und wurde strafrechtlich geahndet, das Strafmaß aber war sehr flexibel und hing im Wesentlichen vom Alter und der gesellschaftlichen Stellung des Opfers ab.[11]
Das Gemälde ist auch vor diesem Hintergrund ein Schwellenbild; es importiert die Drastik, mit der in der Druckgraphik die Vergewaltigung der Lucretia bereits in der ersten Jahrhunderthälfte verhandelt wurde, in die Malerei und bindet so die dem Medium obligatorische Szene des ‚schönen Sterbens‘ der Heroine an die diesem zugrundeliegende Gewalttat zurück, die hier auch dezidiert als eine solche deklariert wird, zumal es sich bei Lucretia ja um eine ehrwürdige, hochrangige Ehefrau handelt, was die Tat nach historischem Rechtsverständnis erst zum Verbrechen macht. Tizian selbst sprach von Schändung („violata da Tarquinio“).[12] Darüber hinaus weckt der nach oben gestreckte Arm der Frau Assoziationen zum Griff nach der Palme in Märtyrerdarstellungen,[13] ein motivisches Zitat, das ihre moralische Integrität verbürgt. Zugleich aber führt das Gemälde die Macht visueller Verführung vor Augen und beansprucht eine solche einerseits für Lucretia und andererseits für die Malerei. Es überrascht kaum, dass ein wenig jüngerer zeitgenössischer Betrachter, Cassiano dal Pozzo, als er das Gemälde 1626 im Madrider Alcázar sah, vor allem anderen die Schönheit des Akts hervorhob.[14]
Schon allein das Setting, in dem der Maler die sittsame Frau platziert, unterläuft das Bild von deren Keuschheit und setzt in seiner Ambivalenz auf die Imagination und das visuelle Gedächtnis der Betrachtenden. Als opulent ausgestattetes Schlafgemach nimmt es dezidiert auf dargestellte Räume und Ambiente Bezug, in denen einem üblicherweise Venus und andere Verführerinnen bzw. Verführte, selten jedoch als tugendhaft ausgezeichnete Frauen begegnen. Eng gewählte Interieurausschnitte, die den Fokus auf das Bett richten, bildeten in der italienischen Kunst des 16. Jahrhunderts häufig den Rahmen für erotische Szenen. So griff etwa Marcantonio Raimondi für seine Stichfolge der Modi (um 1524) – bildlichen Variationen des Liebesakts – auf eine solche Raumdisposition zurück. Weiterhin wäre beispielhaft auf eine (als Stich verbreitete) Zeichnung Perino del Vagas aus den späten 1520er Jahren zu verweisen (Abb. 4), die Venus hingelagert auf einen Berg von Kissen in einem – dem Gemach Lucretias ganz ähnlichen – Boudoir zeigt. Mit dieser räumlichen Konstellation schuf Tizian der Frau ein ‚Gehäuse‘ und konzentrierte damit erst recht den Blick auf das Geschehen und auf Lucretia selbst. Vor dem Hintergrund einer solch symptomatischen Inszenierungsform weiblicher Akte musste Tizian jedenfalls mit einer bestimmten Blickkonditionierung seiner Betrachter rechnen, die tradierte Semantiken eines derart gestalteten Raumes mitreflektierten und auf die Verfasstheit der Frau beziehen konnten.
Indirekte Zweifel an der Unschuld Lucretias äußerte auch die Traktatliteratur des Cinquecento, die sich wesentlich auf die von Coluccio Salutati 1367 verfasste Declamatio Lucretiae stützte.[15] Darin versuchen Mann und Vater, die vergewaltigte Frau mit dem Argument vom Selbstmord abzuhalten, nur ihr Körper, nicht aber ihre Seele sei beschmutzt worden, worauf sie entgegnet, dass gerade darin das Problem liege: Denn ihre reine Seele könne diese Befleckung nicht ertragen, zudem habe ihr verderbter Leib vielleicht doch insgeheim Vergnügen empfunden und somit also Ehebruch begangen. Deshalb müsse die tugendhafte Seele aus dem Gefängnis eines sündhaften Körpers befreit werden. Lucretia wird in diesem Text, der – wie der Titel schon sagt – primär eine rhetorische Übung des Autors darstellt, zweifach schuldig gesprochen. Sie handelt gegen das Selbsttötungsverbot, das Salutati als christlicher Autor in der Rede von Vater und Ehemann mehrfach hervorkehrt, und sie räumt die Möglichkeit eigener lustvoller Beteiligung an der Vergewaltigung ein, was zu ihrem ausschlaggebenden Argument für den Suizid gerät, dem bezeichnenderweise auch die männlichen Verwandten nicht mehr widersprechen. Salutati wendet die vordergründige Verteidigungsrede dadurch letztlich zur impliziten Anklageschrift gegen die Frau, die sich davor schützen müsse, nachträglich doch noch Gefallen an dem zu finden, was ihr widerfahren sei, weil sie nur zu gut um den Wankelmut und die Verführbarkeit ihres Geschlechts wisse.
Vor diesem Hintergrund ist auch Tizians Einschätzung eines solchen Gewaltverbrechens zu historisieren. Er war nicht nur ein venezianischer Mann des Cinquecento, der in den oben skizzierten sozialen und literarischen Kontexten stand, sondern auch jener Maler, der es über die lange Zeit seines Schaffens wie kaum ein anderer vermochte, vermittels seiner Malkunst einen Begriff von idealer Weiblichkeit nachhaltig zu prägen.
Entscheidend für die Rezeption des Gemäldes also ist, dass es sich trotz der vordergründigen Ausstellung männlicher Gewalt gegenüber einer Frau moralischer Beurteilung entzieht, eine solche durch die antinomische Struktur des Bildes vielmehr dezidiert unterlaufen wird. Tizian bestimmt die semantische Differenz von motivischer und produktionsästhetischer Ebene des Gemäldes als konstitutiv für die ästhetische Erfahrung: Auf der einen Seite steht der Gewaltakt, der in seiner Heftigkeit emotional anrührt, auf der anderen Seite eine malerische Textur, die Sinnlichkeit evoziert, die Imagination des Beschauers anregt und sein Auge ‚verführen‘ soll. Erst der Wechsel aus emotionaler Ergriffenheit und ästhetischer Neugier vollendet die Betrachtung, die von Betroffenheit und Augenlust zugleich bestimmt wird, die Frau als Tugendheldin anerkennt und sich dennoch an der Sinnlichkeit des gemalten Akts erfreut. Diese Dialektik prägt die Struktur des Gemäldes.
Aufgrund dieser Unbestimmtheit wird eben nicht eine Wahrnehmungsweise präferiert, also etwa Empathie oder distanzierte Beurteilung des Geschehens, sondern es wird gerade das Ineinandergreifen differenter Modi als Voraussetzung reflektierter Schau gefördert.
[1]: Das Gemälde (188x145cm, Öl/Leinwand) befindet sich heute im Fitzwilliam Museum, Cambridge. Vgl. dazu Jack Weatherburn Goodison, Jack Weatherburn/Robertson, Giles H.: Catalogue of Paintings. Fitzwilliam Museum Cambridge. Bd. 2: Italian Schools. Cambridge 1967, S. 172 ff.; Wethey, Harold E.: The Paintings of Titian. Bd. 3: The Mythological and Historical Paintings. London 1975, Kat.-Nr. 34; Martinau, Jane/Hope, Charles (Hg.): The Genius of Venice 1500-1600. Kat. Ausst. Royal Academy of Arts. London 1983, Kat.-Nr. 130; Bryson, Norman: Two narratives of rape in the visual arts: Lucretia and the Sabine women. In: Tomaselli, Sylvana/Porter, Roy (Hg.): Rape. Oxford, New York 1986, S. 152-173; Jaffé, Michael/Groen, Karin: Titian’s Tarquin and Lucretia in the Fitzwilliam. In: The Burlington Magazine 129, 1987, S. 162-172 (mit restauratorischem Befund); Fehl, Philipp: Mourning for Lucretia. In: Gemin, Massimo (Hg.): Nuovi studi su Paolo Veronese. Venedig 1990, S. 277-284; Goffen, Rona: Titian’s Women. New Haven-London 1997, S. 204 ff.; Bohde, Daniela: Fleisch und Farbe. Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians. Emsdetten-Berlin 2002, S. 179 ff.; Suthor, Nicola: Augenlust bei Tizian. Zur Konzeption sensueller Malerei in der Frühen Neuzeit. München 2004, S. 95 ff.; Ferino-Pagden, Sylvia (Hg.): Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei. Kat. Ausst. Wien: Kunsthistorisches Museum, Venedig: Gallerie dell’Accademia. Wien 2007, Kat.-Nr. 2.8.
[2]: Titus Livius: Römische Geschichte, Buch I-III. Hg. v. Hans Jürgen Hille. Darmstadt 1987, I, S. 57-59.
[3]: Livius (Anm. 2), I, S. 58.
[4]: Vgl. Bohde 2002 (Anm. 1).
[5]: Zur Aktmalerei Tizians vgl. Hammer-Tugendhat, Daniela: Erotik und Geschlechterdifferenz. Aspekte zur Aktmalerei Tizians. In: Erlach, Daniela/Vocelka, Karl (Hg.): Privatisierung der Triebe? Sexualität in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1994, S. 367-446; Goffen 1997 (Anm. 1); dies. (Hg.): Titian’s Venus of Urbino. New York 1997; Bohde 2002 (Anm. 1); Suthor 2004 (Anm. 1).
[6]: Vgl. dazu v. a. Hammer-Tugendhat 1994 (Anm. 5); Goffen 1997 (Anm. 1); Bohde 2002 (Anm. 1) und Suthor 2004 (Anm. 1).
[7]: Bereits Leonardo formulierte in seinem Trattato della Pittura die Fähigkeit der Malerei, im Betrachter Liebe zu erwecken, als eines ihrer höchsten Ziele. Zur Relation von Malerei und Begehren vgl. ausführlich Koos, Marianne: Bildnisse des Begehrens. Das lyrische Männerporträt in der venezianischen Malerei des frühen 16. Jahrhunderts. Giorgione, Tizian und ihr Umkreis. Emsdetten, Berlin 2006, bes. S. 272 ff.; Cropper, Elizabeth Cropper: The Place of Beauty in the High Renaissance and its Displacement in the History of Art. In: Vos, Alvin (Hg.): Place and Displacement in the Renaissance. Binghamton, New York 1995, S. 159-205.
[8]: Vgl. Bohde 2002 (Anm. 1), S. 188 f.
[9]: Vgl. Augustinus: Der Gottesstaat/De Civitate Dei. Hg. von Carl Johann Perl. Bd. 1. Paderborn u. a. 1979, I, S. 19: „Was dann, wenn sie nämlich (was sie allein nur wissen konnte) dem Jüngling, der sie allerdings gewaltsam überfiel, doch auch durch eigene Lust gereizt zustimmte und so sehr unter ihrem Selbstvorwurf litt, daß sie meinte, die Sünde durch den Tod sühnen zu müssen? [...] War sie ehebrecherisch, warum dann das Lob? Und war sie keusch, warum dann der Selbstmord?“
[10]: Bryson 1986 (Anm. 1), S. 170.
[11]: Vgl. Ruggiero, Guido: The Boundaries of Eros. Sex, Crime and Sexuality in Renaissance Venice. New York 1985, S. 96 ff.
[12]: So in einem Brief vom 1. August 1571 an Philipp II. Zit. nach: Mancini, Matteo Tiziano e le corti d’Asburgo nei documenti degli archivi spagnoli. Venedig 1998, Dok. 246, S. 366. „Violare“ lässt sich als „schänden“ übersetzen.
[13]: Diese Beobachtung findet sich bei Suthor 2004 (Anm. 1), S. 262.
[14]: Vgl. Wethey 1975 (Anm. 1), S. 180.
[15]: Die älteste und vermutlich verlässlichste Abschrift findet sich in einem italienischen Manuskript des 15. Jahrhunderts in Todi (Biblioteca Comunale, Ms. 53, fol. 49r-49v), der Text ist editiert in: Menestò, Enrico: Coluccio Salutati. Editi e inediti latini dal Ms. 53 della biblioteca comunale di Todi, Todi 1971, S. 34 ff. , ein früher Abdruck etwa in den 1496 publizierten gesammelten Briefen des Aeneas Silvio Piccolomini. Vgl. Jed, Stephanie H.: Chaste Thinking. The Rape of Lucretia and the Birth of Humanism. Bloomington/Indianapolis 1989, und Follak, Jan: Lucretia zwischen positiver und negativer Anthropologie. Coluccio Salutatis ‚Declamatio Lucretiae‘ und die Menschenbilder im ‚exemplum‘ der Lucretia von der Antike bis in die Neuzeit. Diss. Universität Konstanz 2002, URL: http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2002/914/ [15.09.2010]. Zur Rezeption Salutatis im 16. Jahrhundert vgl. Bohde 2002 (Anm. 1).
URN urn:nbn:de:0114-qn113186
Prof. Dr. Karin Gludovatz
Freie Universität Berlin
Kunsthistorisches Institut
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