Kathrin Zehnder:
Zwitter beim Namen nennen.
Intersexualität zwischen Pathologie, Selbstbestimmung und leiblicher Erfahrung.
Bielefeld: transcript Verlag 2010.
445 Seiten, ISBN 978-3-8376-1398-8, € 33,80
Abstract: Kathrin Zehnder untersucht in ihrer Dissertation die Diskussionen auf frei zugänglichen Internet-Medien der Intersexuellen-Community und arbeitet die dort besprochenen Themen anschaulich heraus. Der Sicht der Intersexuellen setzt sie einen medizinischen Diskurs gegenüber, in dem ‚Intersexualität‘ zumeist als pathologischer, zu behandelnder Zustand charakterisiert wird. Verspricht dieser Ansatz einen äußerst ertragreichen Band, so wird diese Erwartung jedoch nur teilweise erfüllt.
Kathrin Zehnder, Mitherausgeberin des schönen Sammelbandes ‚Intersex‘: Geschlechtsanpassung zum Wohl des Kindes? Erfahrungen und Analysen, in dem sie auch selbst einen sehr guten Beitrag publizierte, hat nun ihre Dissertation vorgelegt. Sie wendet sich den Sichtweisen, die intersexuelle Menschen auf ,Geschlecht‘ haben, zu und erkundet deren Erfahrungen mit medizinischen Behandlungspraxen, indem sie auf innovative Weise Foren und Blogs einer Intersexuellen-Community als Quellen nutzt. Die dort aufgefundenen Themenstränge kontrastiert sie mit dem medizinischen Diskurs über Intersexualität, in dem Menschen uneindeutigen Geschlechts meist als ‚Abweichung‘ und ‚Störung‘ beschrieben werden.
Noch immer werden in der Schweiz, wo Kathrin Zehnder ihre Dissertation schrieb und wo sie forscht und lehrt, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland bei ‚uneindeutigem Geschlecht‘ bzw. ‚intersexuellem Genital‘ Neugeborener oftmals kurz nach der Geburt operative Eingriffe zur Korrektur des Genitals vorgenommen. Es soll ein eindeutig ‚weibliches‘ oder ‚männliches‘ äußeres Erscheinungsbild des Kindes hergestellt werden, um die Entwicklung eindeutiger ‚weiblicher‘ oder ‚männlicher‘ Geschlechtsidentität zu gewährleisten. Vor allem von Seiten der Menschen, die auf eine solche Weise operativ und hormonell an die gesellschaftliche Erwartung weiblichen oder männlichen Geschlechts angeglichen wurden, steht die ‚medizinische Behandlung‘ in der Kritik – sie wird rückblickend als schmerzhaft und traumatisierend beschrieben, nicht selten macht sie weitere medizinische Eingriffe erforderlich. Den Erfahrungsberichten so behandelter intersexueller Menschen wurde in der Vergangenheit kaum Aufmerksamkeit zuteil. Während durch den seit den 1990er Jahren andauernden politischen Kampf der Intersexuellen gegen die medizinischen Maßnahmen im Säuglingsalter mittlerweile eine breitere öffentliche Wahrnehmung für das Leiden der betroffen gemachten Menschen erreicht wurde und auch in der Medizin zumindest über eine Änderung der Behandlungsweisen nachgedacht wird, erweist sich hingegen die durchgeführte Praxis als zäh. Selbst die „Hamburger Forschungsgruppe Intersexualität“, die für den deutschsprachigen Raum die vielfach negativen Erfahrungen von Intersexuellen sammelte, tritt nach wie vor nicht grundlegend gegen vereindeutigende Eingriffe an Geschlechtsteilen bei Säuglingen ein.
Nach einer längeren Einführung, in der Zehnder einige der sie interessierenden Inhalte und Methoden vorstellt, wendet sie sich zunächst summarisch dem medizinischen Diskurs zu. Anschließend folgen ausführlichere Betrachtungen zur Intersexuellen-Community. Einer Darstellung der Geschichte der Intersexuellen-Bewegung(en), für deren Vernetzung und politische Arbeit die Autorin gerade die Bedeutung des Internets herausstellt, folgen ausführliche Betrachtungen von Ansichten, die intersexuelle Menschen in einem Forum und auf Blogs geäußert haben. Hier thematisiert sie insbesondere die diskutierten inhaltlichen Fragen – wobei ein häufiger Bezug auf die medizinische Behandlungspraxis deutlich wird –, daneben wirft sie einen Blick auf die Ein- und Ausschlussmechanismen: Wann wird ein Mensch als Teil einer Community von Intersexuellen anerkannt? In einem abschließenden längeren Kapitel spitzt Zehnder ihre Erörterungen zu, indem sie den medizinischen Diskurs und die Sichtweisen und Erfahrungen intersexueller Menschen zusammenführt.
Im Gegensatz zu Zehnders Ausführungen zu den betroffenen Menschen ist die Umsetzung ihrer umfassenden Ankündigungen bezüglich des medizinischen Diskurses schwach. In der Einführung stellt die Autorin heraus, dass sie sich der Diskursanalyse bedienen würde, und sie reißt auch einige weitere methodische Grundlagen an, führt sie allerdings nicht in der notwendigen Tiefe aus, sondern kommt in der gesamten Arbeit immer wieder auch auf die inhaltlichen und methodischen Grundlagen zurück und ergänzt diese um weitere Aspekte.
Als Datenbasis für die Darstellung des medizinischen Diskurses verwendet Zehnder ein Lexikon, einen Online-Kurs zur Embryonalentwicklung und wenige ergänzende Aufsätze. Außerdem zieht sie vier Interviews hinzu, deren Bedeutung für die Arbeit sich aber nur erahnen lässt, da auf sie nur an wenigen Stellen Bezug genommen wird und dann nur in der folgenden Weise: „antwortete mir ein Endokrinologe“ (u. a. S. 130). Die Interviews werden nicht näher charakterisiert, auch wird die ihnen zugrunde liegende Methode nicht ausgeführt. Damit ist es bei der Lektüre des Buches nicht möglich, zwischen den einzelnen Interviewten und den von ihnen getätigten Aussagen zu differenzieren.
Aber auch die zugrunde gelegten schriftlichen Materialien stellen bestenfalls einen Teil eines medizinischen Diskurses dar. Es wäre notwendig und interessant gewesen, weitere Literatur und auch neuere Beiträge in medizinischen Zeitschriften in den Blick zu nehmen, in denen mittlerweile durchaus breiter die ‚medizinische‘ Behandlungspraxis, auch teilweise mit Bezug zu den Erfahrungsberichten von Intersexuellen, diskutiert wird. Bei Zehnder wird ein weitgehend uniformes Bild eines medizinischen Verständnisses von Geschlecht sichtbar, Diskussionen kommen lediglich an wenigen Stellen in den Blick – und das an, wie mir scheint, veralteten Punkten. So greift Zehnder die Debatte auf, ob auch zahlenmäßig nicht so häufige Varianten des Chromosomenbestandes in die medizinische Definition von ‚Intersexualität‘ mit eingehen sollten, was beispielsweise zu unterschiedlichen Angaben über den prozentualen Anteil von Intersexualität führte. Seit der Chicago Konsensus Konferenz im Jahr 2005 scheint dieser Streit entschieden, auch numerische Chromosomenaberrationen werden nun unter dem Überbegriff „Disorders of Sex Development“ (DSD, dt.: „Störungen der Geschlechtsentwicklung“) gefasst. Wenn die Auseinandersetzung im medizinischen Diskurs weiter geführt wird, wäre die Frage interessant, warum. Aber bis an diesen Punkt gelangt Zehnder mit ihrer Darstellung nicht (u. a. S. 77, 139 ff.).
Als problematisch fällt an einigen Stellen die mangelnde Sorgfalt bei der Zitation ins Auge, etwa wenn Namen und Jahreszahlen nicht stimmen; z. B. ist der Begriff ‚Intersexualität‘ nicht im Jahr 1920 (S. 126), sondern schon 1915/16 von Richard Goldschmidt geprägt worden, wie es sich in neuerer Literatur (u. a. Ulrike Klöppel) belegt findet. Können solche kleineren Fehler als Flüchtigkeitsfehler vorkommen, so wird es schon problematischer, wenn die Autorin das „Fünf-Geschlechter-Modell“ Anne Fausto-Sterlings aus einer von deren Arbeiten zitiert, in der es gar nicht thematisiert wird (Gefangene des Geschlechts 1985), wogegen ihre für die Intersexuellen-Bewegung grundlegende (vgl. Katrina Karkazis, Fixing Sex 2008) Arbeit („The Five Sexes“ in: The Sciences März/April 1993) sich bei Zehnder an keiner Stelle erwähnt und auch nicht im Literaturverzeichnis findet, obwohl sie sogar leicht zugänglich online verfügbar ist. Und auch wenn einige von Ulrike Klöppels Aufsätzen von Zehnder zitiert werden, nimmt sie nicht deren deutliche Kritik an Alice Domurat Dregers historischen Betrachtungen zu einem Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden „Zeitalter der Gonaden“ wahr (S. 72, 80).
Solche kleineren Unschärfen und Fehler summieren sich und lassen es als notwendig erscheinen, Angaben, die man Zehnders Schrift entnimmt, noch einmal zu prüfen. Ein grundlegendes Problem ihrer Abhandlung des medizinischen Diskurses ist sprachlicher Natur, und es wächst sich zu einem inhaltlichen Problem aus. Während die Autorin in den übrigen Teilen des Buches sehr zaghaft weitgehend Konjunktiv-Formen verwendet, gibt sie dies für ihre Betrachtungen zum medizinischen Diskurs – in dem Intersexuelle oft pathologisierend als ‚Abweichung‘ und ‚Störung‘ beschrieben werden – weitgehend auf und verwendet dort den Indikativ; lediglich bei den geschlechterkritischen feministischen Arbeiten wird sie hier wieder zögerlicher. Während die übrigen Inhalte von Zehnders Buch damit als verhandelbar erscheinen, wirken die biologisch-medizinischen Ausarbeitungen hiervon abgesetzt als fest, als sich darbietende tatsächliche ‚Wahrheit‘. Dabei zeigen doch gerade die von Zehnder angeführten Arbeiten Laqueurs und Dregers, dass auch in den biologisch-medizinischen Konzepten Veränderungen stattfanden, wie auch Zehnders Erläuterungen zu Queer Theory und Körperverständnissen – letztere anknüpfend an Paula Irene Villa und Barbara Duden – auf historische und aktuelle diesbezügliche Wandlungen aufmerksam machen. Der Bezug auf eine ‚Wahrheit‘ wird immer wieder punktuell deutlich, so wenn die Autorin an eine zitierte Selbstbeschreibung eines sehr kurzen Penis sofort anschließt: „Damit bestätigt auch Violas Körperlichkeit, dass sie nie ein Mann war.“ (S. 216, Hervorhebung im Original) Jeweils ein größerer Abstand, ein Zurückhalten einer eigenen Position, um diese dann abgesetzt und gezielt einzubringen, hätte dem Buch an manchen Stellen gut getan – geglückt ist dies hingegen vielfach in den Betrachtungen zur Intersexuellen-Community.
Die notwendige Distanz und eine gute thematische Zuordnung gelingt Zehnder bei den Auswertungen des Hermaphroditforums und einiger Blogs im Internet (insbesondere ab S. 191). Zehnder wendet sich gerade diesen Informations- und Kommunikations-Plattformen im Internet zu, da sie feststellt, dass diese in der Bewegungsgeschichte der Intersexuellen-Bewegung und für die Vernetzung von intersexuellen Menschen wichtige Bedeutung hatten und haben. Sie arbeitet hier glasklar verschiedene Themen und die unterschiedlichen Positionen der Beteiligten der Diskussionen heraus: In dem Forum und den Blogs spielen die Erfahrungen mit den ‚medizinischen‘ Behandlungen eine wichtige Rolle. Thematisiert wird dort, dass ein nicht behandelter, unversehrter gegenüber einem medizinisch behandelten Körper vorzuziehen sei. In der Community werden außerdem an Ratsuchende Hinweise zu medizinischen Diagnosen und Therapien erteilt. Schließlich finden Diskussionen darüber statt, wie eine bessere geschlechtliche Ordnung aussehen könnte, ob hierfür bspw. die Einführung einer dritten Geschlechtskategorie sinnvoll wäre oder ob damit weiterhin – oder sogar noch sichtbarer und wirkungsvoller als bisher – eine Stigmatisierung von Menschen, die über nicht so häufige Varianten der Ausprägung der Genitalien verfügen, stattfinden würde.
Hohes Gewicht werde in den untersuchten Internet-Medien auf den „Körper“ und die eigene „leibliche Erfahrung“ gelegt. So arbeitet Zehnder heraus, dass insbesondere der Gender-Forschung eine sehr theoretische Behandlung von Intersexualität vorgeworfen wird. Diese Forschung werde den eigentlichen Forderungen der intersexuellen Menschen nicht gerecht, vielmehr fühlten sich diese oftmals lediglich als Beispiel wahrgenommen, um andere Forderungen der Gender- und Queer-Theorien zu begründen. Die Autorin beleuchtet auch, dass die Zugehörigkeit zu einer Intersexuellen-Community im Forum und in den Blogs oft über die geäußerte physische Konstitution der Teilnehmenden legitimiert wird – und dass Menschen, die nicht über uneindeutige Genitalien verfügen oder bei denen dies zumindest vermutet wird, mit einem Ausschluss aus der Online-Community zu rechnen haben. Das betreffe insbesondere Trans*-Menschen.
Neben den Betrachtungen des Forums und der Blogs stellt Zehnder die Entstehung der Intersexuellen-Bewegung vor. Sie bezieht sich dabei auf die Selbstdarstellungen auf Homepages aktiver Intersexuellen-Gruppen, da es bislang keine anderen resümierenden Betrachtungen gebe. Für den deutschsprachigen Raum mag das korrekt sein und bieten ihre Ausführungen somit eine knappe Zusammenfassung, für den englischsprachigen trifft dies zumindest für die – bezüglich der Intersexuellenbewegung bedeutsame – Entwicklung in der USA nicht zu. Für diese finden sich in dem bereits erwähnten Buch von Karkazis (2008) ausführliche Auseinandersetzungen. Da Zehnder bei ihren entsprechenden Betrachtungen Arbeiten aus dem Jahr 2009 heranzieht, wäre ihr auch dieses Buch zugänglich gewesen. Für eine reflektierende Rückschau der Bewegungsgeschichte sind die zusammengetragenen Daten noch nicht ausreichend; gerade für den deutschsprachigen Raum wäre eine solche aber sicherlich lohnend, vor allem wenn sie auch auf Interviews von Protagonist/-innen aus der Intersexuellen-Bewegung basieren würde.
Bei diesem Band scheint es notwendig, einige Sätze zum Lektorat zu verlieren – besser gesagt: Dem Band wäre ein externes Lektorat zu wünschen gewesen, durch das viele kleinere und größere Fehler, die sich eingeschlichen haben, hätten beseitigt werden können. So sind bei Kürzungen in nicht wenigen Fällen Worte stehengeblieben, die in dem Satz nun nichts mehr zu suchen haben. Spätestens bei der Frage Konjunktiv vs. Indikativ und bei Sätzen wie dem folgenden ist der Verzicht auf ein externes Lektorat unverzeihlich: „Gemeinsame Leiderfahrung, Demütigung und Verwundung können als politische Strategie durchaus hilfreich sein…“ (S. 386) Zehnder meint nicht das, was dort steht, sondern es müsste richtig heißen und würde ihrem Ansinnen entsprechen: „Die Thematisierung von gemeinsamer Leiderfahrung…“. Wenn auch nicht in so krasser Form, so finden sich in der Arbeit vielfach mehrdeutige Stellen, die die Lektüre erschweren.
Insgesamt stellt der Band sich heterogen dar: Die Ausführungen zu den Internet-Medien der Intersexuellen-Community sind gut und beachtenswert. Hier sollten weitere Arbeiten ansetzen, um auch auf diese Weise die Sicht und die Erfahrungen intersexueller Menschen in Forschungen der Sozialwissenschaften, insbesondere der Geschlechterforschung, aufzunehmen. Was den medizinischen Diskurs angeht, hat die Autorin hier zu wenig Material herangezogen und insbesondere den verschiedenen Standpunkten und den Debatten in der aktuellen Medizin kaum Rechnung getragen; für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema sollte eher auf andere Ausarbeitungen zurückgegriffen werden.
URN urn:nbn:de:0114-qn113130
Dr. Heinz-Jürgen Voß
Forschung und Lehre insbesondere zu Geschlecht und Biologie sowie Queer theory und Queer politics an verschiedenen Universitäten; Arbeit an einem PostDoc-Forschungsprojekt zu biologischen Gleichheitstheorien bzgl. des Geschlechts
Homepage: http://www.heinzjuergenvoss.de
E-Mail: voss_heinz@yahoo.de
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter http://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons