Andrea K. Thurnwald:
„Fromme Männer“.
Eine empirische Studie zum Kontext von Biographie und Religion.
Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2010.
352 Seiten, ISBN 978-3-17-021308-1, € 39,90
Abstract: In dieser aufschlussreichen Studie über christliche Frömmigkeit von Männern steht deren Selbstverständnis im Fokus. Der Kirche nahe stehende Männer aus einem ländlichen Raum wurden nach ihren Lebensgeschichten und ihrer Glaubenspraxis befragt; außerdem wurde die Art und Weise ihres Sprechens in den Blick genommen. Das Ergebnis sollte Geschlechterforschung, Kirche und Männerarbeit gleichermaßen interessieren, denn die ‚frommen Männer‘ sind tendenziell konservativ und zeigen sich am Thema Männlichkeit überwiegend uninteressiert.
‚Fromme Männer‘ dürfte es eigentlich – laut kultur- und religionswissenschaftlicher Geschlechterforschung, aber auch nach dem populären Geschlechterdiskurs – kaum geben. Es kursiert die Rede von der ‚Feminisierung der Religion‘, nach der sich Männer zwar noch auf den religiös-institutionellen Leitungsebenen finden lassen, die Frauen hingegen längst dort die Mehrheit darstellen, wo diese Institutionen mit Leben gefüllt werden. Für den populären Geschlechterdiskurs in Fernsehen, Zeitung und Rundfunk ist Frömmigkeit nicht nur eine altmodische, sondern auch eine weiche, sentimentale und irrationale Angelegenheit und damit nicht ‚männlich‘. Säkulare männerpolitische Akteure in der Politik und im Bildungswesen würden solche Zuschreibungen wohl kritisieren, meistens können oder wollen sie aber gar nichts zum Thema Religion beitragen. So bleibt es an den Kirchen, nach den ‚frommen Männern‘ zu fahnden.
Paul M. Zulehner und Rainer Volz haben in ihrer umfassenden, von der Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Gemeinschaft der Katholischen Männer Deutschlands herausgegebenen Studie Männer im Aufbruch aus dem Jahr 1998 genau dies getan und die ‚frommen Männer‘ gefunden – damit aber auch Debatten in Kirchenleitungen, Gemeinden und auf den Kirchentagen ausgelöst. Die Enttäuschung war nämlich groß: Die frommen Männer erwiesen sich überwiegend als konservativ sowie als eine Gruppe, die sich eher weniger für Geschlechterthemen – auch nicht innerhalb der Kirchen – interessiert.
Unter dem Titel Fromme Männer. Eine empirische Studie zum Kontext von Biographie und Religion hat die Kulturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin Andrea K. Thurnwald nun ihre Dissertation veröffentlicht, in der sie christliche Männer nach ihren Biographien befragt und damit die quantitativ orientierten Studien zum Zusammenhang von Religion und Geschlecht qualitativ – im zweifachen Wortsinn – ergänzt hat. Die Bezeichnung ‚fromm‘ soll in ihrer Untersuchung das in seinen Bedeutungen indifferentere Adjektiv ‚religiös‘ ersetzen. Damit will die Autorin deutlich machen, dass sie Männer aufgesucht hat, deren Glaube einen direkten Gottesbezug aufweist und die sich – jenseits ungebunden-spiritueller oder auch esoterischer Orientierung – dem (kirchlich organisierten) Christentum und seinen Traditionen zuordnen. Sie grenzt sich in ihrer Wortwahl ebenso dem Adjektiv ‚spirituell‘ gegenüber ab, denn hinter dessen Konjunktur vermutet Thurnwald eine „Entkirchlichung“, in deren Folge ‚fromm‘ zunehmend negativ codiert würde. Das Wort ‚fromm‘, mit dem sich die befragten Männer allerdings auch nicht immer selbst beschreiben, hat in ihrer Studie keine abwertende oder distanzierende Konnotation, sondern unterstreicht vielmehr die Ambiguität von Vertrautheit und Fremdheit, von Hegemonie (des Christentums) und Marginalität (der ‚frommen Männer‘), von ‚alltäglich‘ und ‚aus der Zeit gefallen‘, die dem gesamten Thema eigen ist.
Andrea K. Thurnwald geht vor dem Hintergrund von 23 Einzelbefragungen sowie einigen Gruppeninterviews und teilnehmenden Beobachtungen an kirchlichen Veranstaltungen für Männer – alle aus dem Zeitraum von 1998 bis 2001 – dem Glaubensleben von Männern, überwiegend Laien, nach; die jüngsten waren zwischen 20 und 30, die ältesten zwischen 80 und 90 Jahre alt und stammten aus der eher ländlichen und evangelisch geprägten Region Mittelfrankens. Ziel der Autorin ist es, „Muster des Handelns, Redens und Denkens zu identifizieren, die sich bei ‚frommen Männern‘ finden“ (S. 125). Sie fragt danach, wie sie ihren Glauben gestalten, wie sie darüber sprechen, wie sie als Christen ihren Lebenslauf deuten und welche Normen von Männlichkeit dabei deutlich werden. Thurnwalds Erkenntnisinteresse zielt auf den Zusammenhang von Religion, Geschlecht und Biographie und damit auf die Frage, ob es eine geschlechtsspezifische Dimension von christlicher Frömmigkeit gibt. Ein Interview mit einer Frau dient ihr dazu, genauer der vermuteten Differenz männlicher und weiblicher Religiosität nachzugehen.
Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Leerstellen um die ‚frommen Männer‘ kann dieser Ansatz als überaus produktiv bezeichnet werden. Er verleiht den (ebenfalls sinnvollen) quantitativen Erhebungen eine Tiefenschärfung – religiöse Werteorientierungen können so in ihrer Genese, ihrem Lebensweltbezug und nicht zuletzt in ihren Entwicklungspotentialen erfasst werden. Im wissenschaftlichen Diskurs um die ‚Feminisierung der Religion‘ kann zur Überprüfung eigener Hypothesen der Blick auf die lebenspraktischen Dimensionen männlicher Religiosität eröffnet werden, und männerpolitische Akteure erhalten empirisches Material, das interessante Rückschlüsse auf die Erfahrungswelten von Männern bietet. Auch für eine kulturanthropologische Frömmigkeitsforschung kann Thurnwalds Konzentration auf den Protestantismus produktiv sein, da die eher öffentlichere katholische Frömmigkeit (z. B. bei Wallfahrten, Prozessionen, Papstbesuchen etc.) mehr erforscht ist als der überwiegend auf Innerlichkeit konzentrierte protestantische Glaubensvollzug.
Allerdings eröffnet dieser neue Ansatz auch keinen anderen Einblick: Die Ergebnisse vorheriger Studien, besonders der bekannten Studie von Zulehner und Volz, werden im Großen und Ganzen bestätigt. Auch Thurnwald kommt zum Schluss, dass die Mehrheit der ‚frommen Männer‘ eine konservative Werteorientierung zeigt. Fraglich bleibt hier jedoch, ob eine vergleichbare Studie in urbaneren Regionen nicht zu einem anderen Ergebnis führen würde.
Der Untersuchung ist eine ausführliche Darstellung des Forschungstandes und eine Skizzierung des populären, wissenschaftlichen und kirchlichen Diskurses um Männlichkeit und christliche Religiosität vorangestellt. Indem die Autorin den populären Diskurs in den Blick nimmt, möchte sie Vorurteilen und Klischees nachspüren, die sich in Medien, aber auch in männerpolitischen Kontexten sowie in der Männerverständigungsliteratur artikulieren. Sie kann damit das behauptete Spannungsfeld zwischen ‚Männlichkeit‘ und ‚Frömmigkeit‘ illustrieren – eine Verbindung zu den Interviews herzustellen, gelingt ihr allerdings nur in Ansätzen. Bei der Darstellung des wissenschaftlichen Diskurses fallen ihre Konzentration auf die deutschsprachige (teilweise sogar regionale) Diskussion und dementsprechende Auslassungen auf. Diese Beschränkung ergibt vor dem Hintergrund des räumlich begrenzten Forschungsfeldes allerdings auch Sinn.
Überzeugen kann Thurnwald hingegen mit der kenntnisreichen Darstellung des kirchlichen Diskurses, in der sie verschiedene Projekte kirchlicher Männerarbeit – z. B. empirische Studien im landeskirchlichen Auftrag oder Workshops der sogenannten ‚Mythopoeten‘ – nennt, erläutert sowie unterscheidet und sich dabei mit Wertungen zurückhält. Differenziert ist ihr Umgang mit mythopoetisch orientierten christlichen Autoren wie Patrick M. Arnold, Richard Rohr oder Markus Hofer, deren Ansätze sie beschreibt, aber auch mit den kritischen Kommentaren Hans Prömpers konfrontiert. Aufschlussreich wäre bei der Darstellung des kirchlichen Diskurses noch gewesen, diesen detaillierter unter dem Aspekt konfessioneller Spezifika zu differenzieren. Insgesamt bietet sich dieser erster Teil auch als kurzweilige Überblicksdarstellung für Forschende an, die zu den Interdependenzen von Männlichkeit, christlicher Religiosität und kirchlicher Verortung arbeiten.
Thurnwalds Erläuterungen zum Untersuchungsdesign und zur Methodik – einschließlich des Diskurses zur Begriffsgeschichte des Wortes ‚fromm‘ – sind ausführlich und nachvollziehbar, sie grenzt sich dabei von der Objektiven Hermeneutik nach Oevermann sowie von wissenssoziologischen Standards ab und schließt sich weitestgehend der Methodik Sigrid Reihs an, die im Jahr 1995 ebenfalls in narrativ-biographischen Interviews Motive ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kirche erforscht hat.
Die Autorin hat die befragten Männer nach der Auswertung der narrativen Interviews in vier, sich nicht grundsätzlich widersprechende, Gruppen eingeteilt: „entschiedene Christen“, die primär durch den CVJM, die christlichen Pfadfinder oder den Jugendbund für Entschiedenes Christentum sozialisiert wurden; „traditionelle Christen“, die sich bevorzugt in kirchlichen Gruppen wie den Gemeinderäten, den Kirchen- oder Posaunenchören engagieren; „suchende Christen“, die sich religiös auch außerhalb traditioneller kirchlicher Räume bewegen; „genderbewusste Christen“, die oft hauptamtlich in der kirchlichen Männerarbeit beschäftigt sind.
Die Ergebnisse der narrativen Interviews werden unter drei Aspekten systematisiert und präsentiert: biographische Fakten, Sprechweisen, religiöse Praxis. Bemerkenswert ist besonders der zweite Aspekt, unter dem Thurnwald „Sprechhaltung und Redeform“ in den Selbstaussagen, etwa Theoretisieren, Belehren, Predigen, Understatement, Ausweichen etc., herausarbeitet. Mit dieser Aufmerksamkeit für Modi des Narrativen sowie für die narrative Struktur von Glaube und Biographie gelingt es ihr, die Stärken und Besonderheiten narrativ-biographischer Interviews herauszustellen. Überzeugend ist auch der Blick auf die Lebensläufe der Männer, denn hier kann Thurnwald aufzeigen, dass verschiedene Frömmigkeitsstile Wurzeln in kindlichen Erfahrungen haben – ohne den Glauben der Männer dabei übermäßig zu psychologisieren und ohne den Kompetenzbereich der eigenen fachlichen Verortung zu überschreiten.
Thurnwald kann mit ihrer Dissertation nachweisen, dass die ‚frommen Männer‘, die es in allen Altersgruppen noch gibt, auch wenn sie quantitativ betrachtet weniger zu werden scheinen, zumeist konservativen Lebensentwürfen nachgehen. Die meisten wurden schon als Kind durch die Frömmigkeit erwachsener Bezugspersonen geprägt. Der Zugang zum christlichen Glauben erfolgt dabei weniger durch intellektuelle Auseinandersetzung mit Religion und auch kaum durch den Religions- oder Konfirmandenunterricht, sondern vielmehr durch persönliche und als authentisch erlebte Begegnungen; speziell männliche Vorbilder spielen hier in der Pubertät und Adoleszenz eine Rolle – Ergebnisse, die besonders für Forschungsprojekte im Bereich der Religionspädagogik und der Praktischen Theologie, aber auch der Geschlechterforschung und Kulturanthropologie aufschlussreich sein könnten. Die Ergebnisse zur Sprache der ‚frommen Männer‘ bestätigt und hinterfragt Stereotype gleichermaßen: So unterscheiden sich „entschiedene“ und „traditionelle Christen“ bezüglich ihrer Redeweisen; grundsätzlich ist aber keine spezifisch ‚fromme‘ sprachliche Diktion feststellbar, (solidarische) Kritik an der Kirche wird von den meisten artikuliert.
Der Differenz kann Andrea K. Thurnwald nicht entkommen: Bereits in der Frage nach dem Spezifikum männlicher Frömmigkeit ist eine zweigeschlechtlich differenzierte Antwort angelegt – ein epistemologisches Problem, dem empirische Geschlechterforschung nur schwer entgehen kann. Ungeachtet dieses strukturbezogenen Einwandes kann aber resümiert werden, dass Thurnwald mit ihrer Studie vor allem zwei grundlegende Ergebnisse erzielt hat: Zum einen zeigt sie auf, wie vielfältig ‚männliche Frömmigkeit‘ in sich ist, zum anderen wird trotz aller Verschiedenheit der befragten Männer deutlich, wie wenig sie – abgesehen von den Akteuren der kirchlichen Männerarbeit – ihre Männlichkeit überhaupt reflektieren bzw. wie wenig sie eine Verbindung zwischen ihrem Glauben und ihrem Geschlecht herstellen. Für die Geschlechterforschung sowie für die kirchliche Männerarbeit mag das ernüchternd sein. Gerade darin liegt aber der Grund, warum Andrea K. Thurnwalds Studie uneingeschränkt als lesenswert zu bezeichnen ist.
URN urn:nbn:de:0114-qn113169
Sven Glawion
Humboldt-Universität zu Berlin
Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (assoziiertes Mitglied)
E-Mail: sven.glawion@rz.hu-berlin.de
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