Textil, Bild, Körper: Totenkleidung und ihre Kulturgeschichtsschreibung

Rezension von Ulrike Vedder

Karen Ellwanger, Heidi Helmhold, Traute Helmers, Barbara Schrödl (Hg.):

Das ‚letzte Hemd‘.

Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur.

Bielefeld: transcript Verlag 2010.

356 Seiten, ISBN 978-3-8376-1299-8, € 35,80

Abstract: Die Einkleidung und Zur-Schau-Stellung von Leichnamen prägt seit jeher den religiösen, kulturellen, sozialen und individuellen Umgang mit dem Tod. Für historische und gegenwärtige Inszenierungen von Tod und Toten ist deren vestimentäre, materielle und visuelle Codierung also von besonderer Bedeutung, wie in dem hier empfohlenen Aufsatzband eindrücklich erforscht wird. Darüber hinaus machen die Beiträge in präzisen Einzelanalysen deutlich, auf welche Weise jeder Inszenierung von toten Körpern immer auch Geschlechterkonstruktionen inhärent sind.

Nach einer Tagung, die im Jahr 2008 an der Universität Oldenburg mit dem Titel „Totenkleidung. Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur“ stattfand, ist nun der fast gleichnamige Tagungsband erschienen. Unter der neuen Überschrift Das ‚letzte Hemd‘ versammelt der Band eine ganze Reihe lesenswerter Beiträge, die anhand sehr diverser Materialien vom 14. bis 21. Jahrhundert den Topos der Totenkleidung in der Fülle seiner Funktionen und Bedeutungen aus der Perspektive der Kultur-, Geschichts-, Textil-, Kunst- und Medienwissenschaften untersuchen und erproben: Aufsätze unter anderem über das Herrschaftsverständnis, das sich an der Totenkleidung fürstlicher und königlicher Leichen in der Frühen Neuzeit ablesen lässt (Susan Richter); über die komplexen Konnotationen jener kleinen Fetzen von abgetrennten Hemdkragen, die zusammen mit fotografischen Inszenierungen der Leichname enthaupteter Delinquenten im Pariser Polizeiarchiv aufbewahrt werden (Katharina Sykora); über das große schwarze Tuch, in das ein übrig gebliebener Stahlträger des zusammengestürzten World Trade Centers gehüllt wurde, und über dessen symbolische, gender-codierte Kraft für die Refiguration des urban body und der Nation (Christina Threuter); über kulturelle Bedeutungen des Weißseins von Leichen- und Sargwäsche sowie über deren Veränderungen durch die gegenwärtig zu beobachtenden individuellen Umgestaltungen der Totenfürsorge (Heidi Helmhold).

Die Breite der 13 Beiträge zeigt zum einen die produktive Anschließbarkeit des Themas ‚Totenkleid‘ an vielfältige Forschungsfragen, die aber nur zum Teil an der im Titel angekündigten Verhältnisbestimmung zwischen materieller und visueller Kultur orientiert sind. Zum anderen wird an dieser Breite jedoch auch die Schwierigkeit einer theoretischen und methodischen Konturierung des Themas deutlich, die sich möglicherweise schon in der Titeländerung des Bandes andeutet. Ohne die Verschiebung des Titels von „Totenkleidung“ zu „Das ‚letzte Hemd‘“ überbewerten zu wollen, legt sie doch nahe, dass die – durch Anführungszeichen angezeigte – immer auch metaphorische Rede über das letzte Hemd keine Fokussierung, sondern eine Ausweitung des Themas leisten soll. Unter dem Begriff „Totenkleid“ werden im Vorwort der Herausgeberinnen denn auch „die Kleidung Sterbender, Zurichtungspraktiken des Leichnams, dessen Umgebungstextilien, Kleidungsnachlässe und auch Architektur subsumiert, die es nicht allein als Körperumraum, sondern auch auf […] Körpermetaphorik hin zu befragen gilt.“ (S. 15)

Bei dieser begrifflichen Unruhe handelt es sich aber nicht um vermeidbare Unklarheiten, sondern um ein geradezu unumgängliches Problem, das der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Tod und den Toten als Dialektik inhärent ist. Denn zum einen ist die prekäre Grenze zwischen Leben und Tod bekanntlich durchaus verschiebbar und definitorisch unscharf, während sie zugleich absolut und opak ist. Und zum anderen – und daraus folgend – korrespondiert die nach wie vor herrschende öffentliche Unsichtbarkeit konkreter Toter genau mit einer überbordenden Bildproduktion; so wie sich auch von einer Todesamnesie in Moderne und Nachmoderne trotz der gleichzeitig zu konstatierenden Redeflut über Tod und Sterben sprechen lässt. Auch deshalb ist die Befassung mit dem Leichnam, wie sie das Sujet der Totenkleidung hinsichtlich der materiellen und der visuellen Kultur als Bekleidung, Einkleidung, Sichtbarmachung des Leichnams unternimmt, zugleich von epistemischer Relevanz, denn es ist die Konkretion des Leichnams, die allererst den Zugang zur Abstraktion des Todes erlaubt, oder mit Thomas Machos Studie Todesmetaphern gesprochen: „Am Anfang war die Leiche; und danach kam alle Theorie.“ (Macho, Thomas H.: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung. Frankfurt am Main 1987, S. 195)

Gendercodierungen

Besonders interessant ist nun in den einzelnen Beiträgen die Befragung der Totenkleidung und -bebilderung auf Gendercodierungen hin – auch da, wo die Überlegungen sich durchaus von der Totenkleidung im engeren Sinne wegbewegen wie etwa in Barbara Schrödls Artikel zur filmischen Inszenierung sterbender weiblicher Figuren und deren textiler Umgebung sowie deren Funktionen für den erotischen und politischen Schuld-/Unschulddiskurs im deutschsprachigen Film der 1950er Jahre oder wie in Isabel Richters Beitrag über Trauerschmuck, der aus menschlichen Haaren gefertigt ist. Solcher Haarschmuck wurde im 19. Jahrhundert als emotional hoch besetzter Teil der Trauerkleidung zwar nicht nur von Frauen getragen, sollte aber idealerweise durch weibliche Handarbeit entstehen und war vor allem durch kulturelle Fantasien über weibliches Haar sowie durch ikonographische Kontexte weiblich codiert und erotisch aufgeladen. Ähnlich verfährt Elisabeth Freiß in ihrer Untersuchung jenes Bildes zwischen Leben und Tod, das von der sog. „Venus von Währing“, dem wächsernen anatomischen Modell eines weiblichen Körpers (im Wiener Josephinum Ende des 18. Jahrhunderts), auf ambivalente Weise in Szene gesetzt wird. Während die Venus-Figur als Modellkörper der Wissenschaft und zugleich als idealisierte göttliche Figur mit der Idee der Unsterblichkeit behaftet ist, wird demgegenüber durch das Wachs, durch gläserne Augen und Haar aus Flachs eine vermeintliche Lebensechtheit produziert, die den Modus der Vergänglichkeit vor Augen stellt. Parallel dazu kollidiert „das museale Display“ – die wissenschaftlich-didaktische Zurschaustellung mit ihrem Baukastensystem herausnehmbarer Organmodelle incl. Fötus – mit der „Präsenz einer Realie“ (S. 171), nämlich eines textilen Objekts, das die visuelle Rezeption in entscheidender Weise nochmals verschiebt: Die Venus-Figur wird auf einem weißen Atlastuch liegend präsentiert, das als Schleier, Lendentuch oder Leichentuch und damit in der christlichen Ikonologie der Auferstehung und der göttlichen Wahrheit bedeutsam ist, das aber zugleich „eine verstörende Realität“ (S. 185) und Körpernähe evoziert. Die Venus-Figur ist demnach als Überblendung verschiedener „Körper der Königin“ (Regina Schulte) sowie sich wandelnder Seelenvorstellungen zu verstehen, deren Spuren dank der Materialität und Medialität der textilen Objekte entzifferbar sind.

Ikonographien des Undarstellbaren

Die Überblendungen und Kollisionen verschiedener „Körper des Königs“ thematisiert Kristin Marek anhand der Effigies, der hölzernen Puppen, die als Double des verstorbenen Königs im spätmittelalterlichen England und Frankreich unverzichtbares Element der Funeralzeremonie waren. Diese reich bekleideten Puppen waren während der Zeremonien weithin sichtbar, während ein Sarg den unsichtbaren Königsleichnam barg. Mit ihrer Einordnung der Effigies in eine komplexe Ordnung des Visuellen im (Spät-)Mittelalter, die durch die zeremonielle Verwendung von Bildern erst deren ikonische und symbolische Qualitäten erzeugt, sowie mit ihrer Analyse der konkreten historischen Konstellation – einer Herrschaftskrise –, in der die Effigie des englischen Königs Eduard II. Verwendung findet, entschlüsselt Kristin Marek die rätselhaften Verbindungen zwischen Double und Leichnam. So deutet sie die Effigie gerade nicht als Antwort auf ein allgemeines Bedürfnis nach Sichtbarkeit des Leichnams, sondern anhand der merkwürdigerweise geöffneten Augen der Puppe im Gegenteil als „Anti-Repräsentation des Leichnams“ (S. 159). Darüber hinaus war die Effigie mit besonderen Gewändern bekleidet, nämlich den Salbgewändern, die der König bei seiner Investitur getragen hatte, als die Salbung ihn zum „wundertätigen, sakrosankten Körper“ transformiert hatte (S. 164). Mit der Bekleidung wurde also die Heiligkeit des Königs zur Schau gestellt und zugleich als Fundament eines auch politisch wirksamen Verhältnisses zwischen König und Volk sanktioniert. Am Beispiel dieses Beitrags zeigt sich die hohe Produktivität einer Untersuchungsperspektive, die – wie das Vorwort des Bandes programmatisch formuliert – „das Verhältnis von materieller und visueller Kultur“ (S. 18) theoretisch versiert und historisch präzise durchdenkt.

Ähnlich verfährt Katharina Sykora in ihrem bereits genannten aus dem Kontext ihrer großen Studie Die Tode der Fotografie (Paderborn, München 2009) stammenden Aufsatz über das Zusammenspiel der abgetrennten Hemdkragen sowie der fotografischen Inszenierungen von enthaupteten Delinquenten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Paris. In einer Zeit also, in der Hinrichtungen in Frankreich kein öffentliches Schaupiel mehr waren – zu dem an entscheidender Stelle die ostentatio gehörte, d. h. das demonstrative Vorzeigen des abgeschlagenen Kopfes, das zugleich Züge einer Bannung des Bösen und des Todes hatte –, unternahm es der Oberste Scharfrichter Frankreichs Anatole Deibler, die enthaupteten Leichname möglichst kurz nach ihrem Tod in der Anatomie zu fotografieren. Dabei achtete Deibler auf einen räumlichen Abstand zwischen Rumpf und Kopf, der bei der Betrachtung der Fotografien zugleich eine zeitliche Dehnung des winzigen Augenblicks der Guillotinierung erzeugt: „Dadurch aber wird der infinitesimale Moment zwischen Leben und Tod überhaupt erst für das Auge der Betrachter sichtbar.“ (S. 271) Neben dieser Sichtbarmachung des sonst nicht wahrnehmbaren Moments übernehmen die Fotografien, deren Inszenierung, Medialität, Kontext und Wirkung Sykora sorgfältig untersucht, die Gesten und Funktionen der ostentatio und transformieren die Verbrecherköpfe in „Embleme des Todes“ (S. 271): auf ikonografische, theatrale und mediale Weise.

Eine ganze Reihe hochinteressanter instruktiver Beiträge sind also in dem Band versammelt, der sich allerdings – und das ist bei der Thematik doch sehr erstaunlich – auf westeuropäische Phänomene konzentriert, ohne dass das im Vorwort ausgewiesen oder konzeptionell erläutert würde. An dieser empfindlichen Lücke ändern auch die zwei Beiträge zu Lynch-Fotografien aus den USA sowie zum „Leichentuch“ über 9/11 nichts. Es fehlt mithin eine außereuropäische Perspektive auf die Frage der Grenzziehungen zwischen Leben und Tod und auf die diese Grenze behandelnden Rituale, Materialien, Gesten, Medien: ein Blick auf andere Lebensbegriffe, auf andere Todeskonzepte und deren jeweilige Modernisierungen. Bedauerlich ist darüber hinaus neben der insgesamt eher schlechten Abbildungsqualität ausgerechnet in einem Band zur visuellen Kultur (das wundersame Totentanzalphabet von Hans Holbein d.J., auf dem Winfried Schwabs Beitrag gründet, ist quasi unsichtbar), dass außer den üblichen Tippfehlern offensichtlich eine Reihe störender Fehler übersehen wurden: So liest man mehr als einmal von Ground Zero als „Negropole“ statt „Nekropole“; in einer Filmanalyse wird die erotisch-zerstörerische Stiefmutter immer wieder als Schwiegermutter bezeichnet, was den ganzen Filmplot in Unsinn überführt; und warum die neuen Bestattungsorte wie z. B. Friedwälder „außerhalb der euklidischen Topographie eines Friedhofes“ (S. 342) liegen sollen, bleibt im Dunkeln. Insgesamt aber bietet der Band eine Fülle ergebnisreicher Beiträge mit z. T. überraschenden Materialien für die Erforschung des vestimentären, materiellen und visuellen Umgangs vormoderner, moderner und nachmoderner Kulturen mit den Toten – umso mehr, als die für die jeweiligen Sinngebungsprozesse so entscheidenden Geschlechtercodierungen intensiv beleuchtet werden.

URN urn:nbn:de:0114-qn113064

Prof. Dr. Ulrike Vedder

Humboldt-Universität zu Berlin

Institut für deutsche Literatur

E-Mail: ulrike.vedder@german.hu-berlin.de

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