Karin Jurczyk, Michaela Schier, Peggy Szymenderski, Andreas Lange, G. Günter Voß:
Entgrenzte Arbeit – entgrenzte Familie.
Grenzmanagement im Alltag als neue Herausforderung.
Berlin: edition sigma 2009.
399 Seiten, ISBN 978-3-8360-8700-1, € 24,90
Abstract: In der empirischen Studie wird die Dynamik der Entgrenzung als eine umfassende gesellschaftliche Entwicklung der letzten 15 Jahre in Ost- wie in Westdeutschland untersucht. Ausgehend von arbeitssoziologischen Erkenntnissen werden Veränderungen in den alltäglichen ‚zeit-räumlichen Mustern‘ des Familienlebens, in der Selbstwahrnehmung der Individuen, im Geschlechterverhältnis und in der ‚Herstellung von Familie‘ beschrieben und analysiert.
Nachdem das Normalarbeitsverhältnis weitgehender Auflösung verfällt, werden die zeitlichen, sozialen und motivationalen Grenzen zwischen Arbeit und ‚Leben‘ in vielen Bereichen durchlässig, diffundieren zum einen aufgrund weitreichender organisationaler Veränderungen in der Erwerbsarbeit, zum anderen im Kontext neuer subjektiver Bezüge zur Arbeit und der Vervielfältigung biographischer Zeitmuster und Optionen. In einem arbeitsoziologischen Text von 1998 hat G. Günter Voß diese Prozesse der Entstrukturierung des Erwerbslebens analysiert und mit dem inzwischen gängigen Begriff der Entgrenzung belegt (vgl. Voß, G. Günter: Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft. Eine subjektorientierte Interpretation des Wandels der Arbeit. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 31, 1998, S. 473-487). An dieses Konzept schließt die vorliegende Studie an; es werden empirisch die Folgen für den Familienalltag und für die familialen Geschlechterarrangements untersucht. Dabei geht es jedoch nicht um ein einfaches Ursache-Wirkungs-Verhältnis, auch wenn in einem ersten Zugriff von externen „Strukturgebern“ für die Familie gesprochen wird. Vielmehr werden die sich aus den vielfältigen sozialen – politischen und kulturellen, sozialstrukturellen wie subjektiven – Prozessen ergebenden Veränderungen des Alltagslebens und der Anforderungen an die Individuen in ihren Wechselbeziehungen gesehen und als Ergebnis dieser Interdependenzen betrachtet. Empirische Grundlage sind über 60 themenzentrierte Interviews mit Beschäftigten zweier sehr unterschiedlicher Branchen (Einzelhandel sowie Film- und Fernsehbranche), die beide von strukturellen Entgrenzungsprozessen geprägt sind.
Wie ehrgeizig in der Studie die Komplexität und zugleich unauflösbare Beziehung von Arbeit und Leben angegangen wird, zeigt sich daran, dass abschließend wieder die „Rückwirkungen“ der familialen und genderbezogenen Prozesse auf den Erwerbsbereich untersucht sowie Schlussfolgerungen für die wissenschaftlichen Kategorien der beteiligten Subdisziplinen vorgeschlagen werden. So wird von der Familie als „Herstellungsleistung“ gesprochen und – wie schon eingangs – die Kategorie der Kopräsenz als konstitutiv für gelingenden Familienalltag entfaltet. Diese zeittheoretische Kategorie steht gewissermaßen konzeptionell der Kategorie der Entgrenzung gegenüber: Wenn gemeinsame Zeit der Kern bzw. die Bedingung von Familienleben ist, dann kann die raum-zeitliche Entgrenzung der Arbeit – in Form von flexiblen Arbeitszeiten, Wochenendarbeit und Überstunden, prekären Vertragsformen, Arbeit an wechselnden Arbeitsorten wie auch zuhause – zu einem krisenhaften „Strukturgeber“ des Familienlebens werden.
Der Begriff der Entgrenzung erweist sich damit als umfassendes zeitdiagnostisches Konzept auch für den Wandel der Familie. In drei zentralen empirischen Kapiteln (4. bis 6.) werden die Aufgaben analysiert, vor denen Familien stehen. Wichtige Stichworte sind der Umgang mit Zeitnot, die Berücksichtigung sowohl der kollektiv-familialen als auch der individuellen Bedürfnisse und die schwierigen Aushandlungsprozesse zwischen den Geschlechtern. Diese sozusagen familiensoziologischen Ansätze werden umgehend im nächsten Kapitel rückgebunden an Aussagen zu den erwerbsbezogenen Kontextbedingungen, die wiederum oft mit einem spezifischen Geschlechterarrangement ‚gemildert‘ werden, in der Form, dass „ein Elternteil entgrenzt, das andere Elternteil eher stabil erwerbstätig ist“ (S. 281).
Was im Titel der Studie als Herausforderung bezeichnet wird, ist nichts anderes als eine weitgehend neue Kategorie von Arbeit. Denn „gesellschaftliche Arbeit zu sein, ist […] im Allgemeinen keine Eigenschaft einer Tätigkeitssorte. Ob wir eine Tätigkeit als Arbeit betrachten können, hängt hier von gesellschaftlichen Umständen ab, in welche diese Tätigkeit eingebettet ist.“ (Kambartel, Friedrich: Arbeit und Praxis. Zu den begrifflichen und methodischen Grundlagen einer aktuellen politischen Debatte. In: Deutsche Zeitschrift.für Philosophie Jg. 41, 1993, H. 2, S. 239-249; hier S. 242) Die Studie kann in fruchtbarer Weise einen umfassenden Arbeitsbegriff mit einem vom Konzept der „Lebensführung“ inspirierten Familienbegriff verbinden. Nicht zufällig ist die Studie von den beiden Arbeitsgruppen Jurczyk und Voß realisiert worden (die Familiensoziologin Karin Jurczyk ist Leiterin der Abt. Familie des Deutschen Jugendinstituts in München; der Arbeits- und Berufssoziologe G. Günter Voß ist Leiter des Arbeitsbereichs Industrie- und Techniksoziologie an der Technischen Universität Chemnitz, früher an der Universität München). Während die arbeits- und industriesoziologischen Forschungen und die Familiensoziologie an anderen Standorten kaum Interesse füreinander zeigen, hat es in München Tradition, den Beitrag der familialen Arbeit zur gesellschaftlichen Wertschöpfung zu thematisieren. ‚Arbeit und Leben‘, aber auch die Geschlechterverhältnisse (so bei Karin Jurczyk, Maria S. Rerrich, aber auch bei Elisabeth Beck-Gernsheim) werden als zentrale Lebensbereiche und als objektiv und subjektiv ineinander ‚verwickelte‘ Themen behandelt.
Die intensiven Auseinandersetzungen mit der Vielfalt der Lebenslagen, Probleme und Problemlösungen des Grenzmanagements in den einzelnen Beiträgen sowie die anregenden Schlussfolgerungen zur betrieblichen und gesellschaftspolitischen Gestaltung der Problemlagen können hier nicht andeutungsweise referiert werden. Das Buch ist auch bei der Lektüre nur einzelner, ausgewählter Kapitel interessant und verständlich. Sowohl für arbeitssoziologisch als auch für familiensoziologisch Interessierte ist es ein wichtiges Buch. Darüber hinaus gelingt es den Autorinnen und Autoren (anders als in der Arbeitssoziologie gängig), nicht „dem Muster einer nachträglichen Erörterung spezifischer […] Problemlagen von Frauen“ (Nickel, Hildegard Maria: Zeitdiagnostisches Konzept, Genderkompetenz, Fokus Erwerbsarbeit – Drei Fragen. In: Dunkel, Wolfgang/Sauer, Dieter (Hg.): Von der Allgegenwart der verschwindenden Arbeit. Neue Herausforderungen für die Arbeitsforschung. Berlin: edition sigma 2006, S. 231-233; hier S. 232) zu folgen, sondern die Geschlechterdimension aller Aspekte von Arbeit und (Familien-)Leben im Vordergrund zu halten.
URN urn:nbn:de:0114-qn113173
Prof. Dr. Birgit Geissler
Universität Bielefeld
Fakultät für Soziologie
Homepage: http://www.uni-bielefeld.de/soz/personen/geissler/
E-Mail: birgit.geissler@uni-bielefeld.de
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