Brigitte Aulenbacher, Michael Meuser, Birgit Riegraf:
Soziologische Geschlechterforschung.
Eine Einführung.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010.
282 Seiten, ISBN 978-3-531-15584-5, € 19,95
Abstract: Das Lehrbuch von Brigitte Aulenbacher, Birgit Riegraf und Michael Meuser zielt darauf, wichtige Entwicklungen und Etappen der soziologischen Geschlechterforschung zu rekonstruieren, Forschungsfelder zu beschreiben, Anschlüsse an angrenzende Bereiche aufzuzeigen und zukünftige Fragen zu skizzieren. Dieser hoch gesteckte Anspruch gelingt weitgehend, wobei notwendig Akzente gesetzt und zwangsläufig Leerstellen in Kauf genommen werden. Offen bleibt in der intendierten zeit- und wissenschaftsgeschichtlichen Orientierung der Darstellung aber leider, was genau das Soziologische an der Geschlechterforschung ist und wie sich die Geschlechterforschung in Bezug auf ihre Wurzeln in der Soziologie positionieren könnte und sollte.
Die Soziologie gehört dank ihres Gegenstandsbereichs – Gesellschaft – zu den wissenschaftlichen Disziplinen, in denen die Frauen- und Geschlechterforschung bis heute starke Wurzeln hat. Dabei wird diese nicht müde, theoretisch und empirisch zu verdeutlichen, dass soziologische Analysen von Gesellschaft nicht darauf verzichten können, die Rolle der Kategorie Geschlecht in der Gesellschaft zu verstehen und entsprechendes Wissen zu produzieren. Folglich sind die Versuche vielfältig, aus soziologischer Perspektive das Wissen der Frauen- und Geschlechterforschung in Überblickswerken zu bündeln und für die Hochschullehre aufzubereiten.
Den jüngsten Vorschlag hierzu unterbreiten die Soziologinnen Brigitte Aulenbacher und Birgit Riegraf sowie der Soziologe Michael Meuser in einem Einführungsbuch in die soziologische Geschlechterforschung, das in der Reihe „Studienskripten zur Soziologie“ erschienen ist. Die Bände der „Studienskripten“ richten sich laut Darstellung der sämtlich männlichen Reihenherausgeber in erster Linie an Studierende in Anfangssemestern, sollen aber auch Examenskandidat/-innen und Praktiker/-innen als rasch zugängliche Informationsquelle dienen. Damit ist ein methodisch-didaktischer Anspruch formuliert, an dem sich die zu besprechende Einführung messen lassen muss.
Die Autor/-innen beschreiben ihr gemeinsames Produkt, dessen einzelne Kapitel namentlich verantwortet werden, als „zeit- und wissenschaftsgeschichtlich orientierte[] Einführung“ (S. 8) in die „wesentlichen Traditionen und Traditionsbrüche“ und die „zentralen Diskussionslinien und Weichenstellungen der Geschlechterforschung“ (S. 7), die „einen Überblick über die vielschichtigen Diskussionen der Geschlechterforschung“ (S. 7) bieten soll. Die Auswahl der Inhalte habe in einem gemeinsamen Diskussionsprozess stattgefunden und sei von den theoretischen Perspektiven, den Erfahrungen und den Kompetenzen der Autorinnen und des Autors geprägt.
Ein solches Werk muss notwendig Akzente setzen und gleichzeitig zwangsläufig Leerstellen in Kauf nehmen. Selbstbewusst beziehen Aulenbacher, Riegraf und Meuser Position hinsichtlich der zu erwartenden Kritik: „Trotz aller notwendigen Einschränkungen sind wir davon überzeugt, dass wir eine weit gefasste und fundierte Einführung in die Geschlechterforschung vorlegen, die einen gehaltvollen Überblick und eine interessante Orientierung in diesem wachsenden Forschungsfeld bietet, und die hoffentlich dazu anregt, sich weiter und eingehender mit diesem spannenden und lebendigen Forschungsstrang zu befassen.“ (S. 8)
Wenngleich die Verfasserinnen und der Verfasser betonen, dass der Akzent auf der soziologischen Geschlechterforschung, auf deren Schwerpunkten und Fragestellungen liege, so finden sich in dem Buch doch auch immer wieder Ausflüge in benachbarte Disziplinen wie Erziehungs-, Politik- und Kulturwissenschaften. Insofern soll das in drei Teile gegliederte Lehrbuch einen Einblick liefern, „wie Soziologinnen und Soziologen die Entwicklung der Geschlechterforschung sehen und wie sie Geschlechterforschung betreiben“ (S. 11).
Der erste Teil widmet sich den „Entwicklungen der soziologischen Geschlechterforschung“. Unter diesem Label fragt Riegraf im zweiten Kapitel nach dem Forschungsprogramm der Geschlechterforschung und zeigt Veränderungen im Blick auf den Gegenstand sowie deren Auswirkungen auf das Selbstverständnis auf. Hier geht es um den wissenschaftskritischen Impetus der Geschlechterforschung, die Komplexität ihres Analysegegenstands und um die Ausdifferenzierung der Forschungsperspektiven. Aulenbacher unternimmt im dritten Kapitel einen Streifzug durch die Gesellschaftsanalysen der Geschlechterforschung und geht dabei auf Bezüge zu, Brüche mit und Weiterentwicklungen von soziologischen Denktraditionen ein. Schwerpunkte liegen hier auf Ansätzen, die an die marxistische Theoriebildung, die ältere und neuere Kritische Theorie und die Systemtheorie anschließen, auf praxeologischen Ansätzen und auf Ansätzen der Kapitalismus- und Fordismusanalyse. Im vierten Kapitel stellt Riegraf die Diskussion über die Konstruktion von Geschlecht vor und hebt hervor, dass Geschlecht aus soziologischer Sicht gesellschaftlich und kulturell hergestellt wird. Meuser widmet sich im fünften Kapitel schließlich den methodologischen Debatten der Geschlechterforschung. Er greift damit die Diskussion über etwaige spezifische Standards der empirischen Geschlechterforschung auf und führt die vorfindliche Präferenz für qualitative Herangehensweisen auf gegenstandsbezogene Fragestellungen zurück.
„Ausgewählte Gegenstandsbereiche soziologischer Geschlechterforschung“ stehen im zweiten Teil des Bandes im Mittelpunkt. Meuser lässt im sechsten Kapitel die Forschungen zum Verhältnis von Gewalt und Geschlecht Revue passieren. Dabei geht er auf feministische Skandalisierungen von Männergewalt, auf Studien zur Gewalt von Männern gegen Frauen, auf homosoziale Männergewalt und auf Frauen als Gewalthandelnde ein. Im siebten Kapitel referiert der Autor kulturelle Diskurse und soziosomatische Praxen der Geschlechterdifferenz. Hier interessiert also der Körper als Gegenstand der soziologischen Geschlechterforschung. Mit Perspektiven der Geschlechterforschung auf Arbeit befasst sich Aulenbacher im achten Kapitel. Das neunte Kapitel von Aulenbacher und Riegraf behandelt die geschlechtliche und sexualisierte Verfasstheit von Organisationen und die Gleich- und Ungleichstellung der Geschlechter darin. Abgeschlossen wird der zweite Teil des Lehrbuchs schließlich im zehnten Kapitel von Riegraf mit einem Überblick über Geschlechterkonstruktionen in Politik- und Staatskonzeptionen, geschlechtsspezifische Grundlagen des politischen Feldes, geschlechtsspezifische Logiken im politischen Prozess und die unterschiedlichen politischen Handlungsfelder des Staates.
Die Überschrift des dritten Teils, „Stand der Forschung und Perspektiven“, kommt etwas unvermittelt daher. Inhaltlich gemeint sind die grenzüberschreitenden Bewegungen der soziologischen Geschlechterforschung sowohl in politischer als auch in theoretischer und empirischer Hinsicht über geschlechtsbezogene Differenzen und Ungleichheiten hinaus. Hier behandeln Meuser und Riegraf im elften Kapitel das ihrer Ansicht nach nie ganz einfache Verhältnis zwischen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung. Dabei steht die (Weiter-)Entwicklung geschlechterpolitischer Strategien bis hin zu Gender Mainstreaming und Managing Diversity im Mittelpunkt der Erörterungen. Im zwölften Kapitel greift Aulenbacher abschließend die Diskussionen über Intersektionalität auf, also über die Überkreuzungen verschiedener sozialer Differenzen und Ungleichheiten. Dabei wagt sie auch einen (Aus-)Blick auf die thematische und programmatische Weiterentwicklung der Geschlechterforschung, „die die gesellschaftliche Entwicklung im Kontext der Herausbildung und Wirkung komplexer sozialer Ungleichheiten analysiert und die Soziologie selbst zu einer selbstkritischen Reflexion auf ihre Kategorien und Perspektiven anhält“ (S. 11).
Zweifelsohne steckt dieses Einführungsbuch den fachlichen Anspruch hoch. Angesichts der Fülle der zu verarbeitenden und verarbeiteten Literatur – das Literaturverzeichnis umfasst 50 Seiten! – kann die Umsetzung nur schlaglichtartig und selektiv erfolgen. Zwar vermisst die Leserin hier und da einiges, beispielsweise die Gegenstandsbereiche Familie und Sozialisation. Dennoch aber werden die auf der Umschlagrückseite genannten Intentionen der Autor/-innen weitgehend eingelöst, nämlich „zentrale Entwicklungslinien, Weichenstellungen und Stationen der soziologischen Frauen-, Männlichkeits- und Geschlechterforschung“ nachzuzeichnen, Forschungsfelder auszuleuchten und Zukunftsfragen aufzugreifen.
Der Text hätte allerdings in methodisch-didaktischer Hinsicht deutlich gewinnen können, wenn der Anspruch eines Lehrbuchs auch in der Darstellung ernsthafter berücksichtigt worden wäre. So ist die Sprache nicht durchgängig dem Niveau allenfalls mäßig lesebereiter Studierender auf Bachelor-Niveau angepasst. Auch hätten beispielsweise Übungsfragen am Ende eines jeden Kapitels, Definitionen zu zentralen Begriffen etwa in Gestalt eines Glossars und übersichtliche Hinweise auf wichtige Literatur zu den einzelnen Kapiteln die studentische Rezeption fördern können. In Zeiten der Modularisierung mutet es zudem geradezu anachronistisch an, wenn die Autorinnen und der Autor in der Schlussbemerkung darauf verweisen, dass jede/r es sich selbst beantworten müsse, was sie/er nach der Lektüre des Buches über die Geschlechterforschung erfahren habe (S. 225), und dass sich jede/r, „je nach Blickwinkel und eigenem Vertiefungsinteresse“ (S. 226), selbst eine Leseliste zusammenstellen müsse.
Die intendierte „zeit- und wissenschaftsgeschichtliche Orientierung“ der gesamten Einführung lässt schließlich offen, was genau das Soziologische an der Geschlechterforschung ist und wie sich die Geschlechterforschung in Bezug auf ihre Wurzeln in der Soziologie positionieren könnte und sollte. Im Text finden sich hierzu keineswegs konsistente Antworten, bedingt durch die Spannbreite von Begriffen, die von feministischen Beiträgen zur Gesellschaftsanalyse über soziologische Geschlechterforschung bis hin zur Geschlechtersoziologie reichen. In den Anfängen der geschlechtsbezogenen Forschung, die seinerzeit in ihrem wording noch auf Frauen Bezug nahm und gelegentlich auch darauf bestand, kritisch zu sein, hätte ein derartiges Nebeneinander von verschiedenen erkenntnisstrategischen und wissenschaftstheoretischen Positionierungen Kontroversen hervorgerufen. Heute jedenfalls wäre es sinnvoll, die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen, das Verhältnis von Soziologie und Geschlechterforschung näher zu bestimmen.
URN urn:nbn:de:0114-qn121123
Dr. Heike Kahlert
Universität Rostock
Institut für Soziologie und Demographie
Homepage: http://www.wiwi.uni-rostock.de/soziologie/makrosoziologie/kahlert/
E-Mail: heike.kahlert@uni-rostock.de
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