Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch (Hg.):
Epistemologie und Differenz.
Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften.
Bielefeld: transcript Verlag 2010.
222 Seiten, ISBN 978-3-8376-1013-0, € 29,80
Abstract: Elf Beiträge kreisen um das Thema Wissen und Reproduktion. Der Anspruch der Herausgeberinnen ist ein epistemologischer, die Perspektive eine metatheoretische. Der doppeldeutig verstandene Reproduktionsbegriff soll zur Beschreibung der Wissens(re)produktion dienen. Dies wird jedoch nur in einem Beitrag des Bandes überzeugend eingelöst. Der Rest besteht aus einer disparaten Sammlung von – im einzelnen durchaus lesenswerten – Texten aus unterschiedlichen Disziplinen.
Epistemologie und Differenz ist einer dieser Sammelbände, deren Lektüre uns einigermaßen ratlos zurücklässt. Trotz einer Einleitung, die (spürbar bemüht) versucht, eine thematische und theoretische Klammer zu geben, will sich einfach kein Gesamtbild einstellen, auch kein kaleidoskopartiges. Man fragt sich am Ende sogar, ob einzelne Beiträge nicht besser in anderen, nämlich ihnen disziplinär oder thematisch näher stehenden Kontexten aufgehoben wären – beispielsweise eine wissenschaftshistorische Rekonstruktion des Temperaturbegriffs oder ein Text über Foucaults Kantrezeption. Außerdem stellt sich die Frage, warum der Beitrag über „Reproduktion als interpersonelle und konzeptionelle Relation“ am Schluss des Bandes platziert wurde, bietet er doch eine instruktive Analyse des Reproduktionsbegriffs und hätte damit besser an den Anfang gepasst. So hätte man zumindest eine klare metatheoretische Perspektive auf das Thema des Bandes gehabt und wäre beim Lesen der einzelnen Beiträge nicht so verloren gewesen.
Gemäß den Herausgeberinnen war der Anlass zu der Publikation ihre Einschätzung, dass das „Konzept der Reproduktion […] derzeit in allen seinen Facetten weitreichende Veränderungen“ (S. 7) erfährt. Reproduktion „im Sinne von Zeugung“ (S. 7) sei ein prominentes und wiederkehrendes Thema in der Geschichte des Wissens. Aus diesem Grunde diene der Begriff zu einer „Beschreibung der Funktionsweise von Wissen“ (S. 7). In dieser These, nämlich dass man über den auf seine biologische Bedeutungsdimension verengten Reproduktionsbegriff etwas über die Funktionsweise von Wissen erfahre, scheint mir der heikelste und am meisten einer Begründung bedürfende Punkt dieses Unternehmens zu liegen. Zwar ist es richtig, dass zur Beschreibung des Erkenntnisvorgangs oft Metaphern aus dem Bereich der menschlichen Fortpflanzung benutzt wurden bzw. werden – man denke nur an den mit Logoi schwangeren Theaitetos in Platons gleichnamigem erkenntnistheoretischen Dialog, dem die Hebamme Sokrates bei der schweren Geburt seiner Erkenntnisse beisteht –, aber man darf m. E. die Leistungen einer Metapher auch nicht überschätzen. Vor allem sollte man die Metapher nicht fraglos für eine angemessene Beschreibung des Vorgangs, für den sie steht, halten. Mit anderen Worten, es scheint mir wichtig, sich kritisch zu fragen, was genau die metaphorische Beschreibung eines Vorgangs über den Vorgang aussagt bzw. in welchem Sinne sie etwas darüber aussagt. Eine solche (kritische) Untersuchung des Reproduktionsbegriffs leistet nun aber gerade nicht die allzu detailverliebte, in Komplexität verstrickte Einleitung, sondern erst der am Ende platzierte Beitrag von Shahanah Schmid über „Reproduktion als interpersonelle und konzeptionelle Relation“.
Schmid analysiert ‚Reproduktion‘ zunächst abstrakt als relationalen Begriff: „Er bezieht sich auf das Verhältnis zwischen zwei ‚Dingen‘: ein Zuvorgehendes, welches sich reproduziert oder reproduziert wird, und ein Nachfolgendes, welches aus dem Prozess der Reproduktion des Zuvorgehenden heraus entsteht bzw. entstanden ist.“ (S. 205) Das durch Reproduktion entstehende Verhältnis zwischen den Dingen sei ein trennendes und verbindendes zugleich. „Diese Beschreibung von Reproduktion ist nicht nur für die epistemologische, sondern auch für die ‚biologische‘ Bedeutung des Begriffs sinnhaft. Menschen reproduzieren, es entstehen daraus neue Menschen – die alten und die neuen Menschen sind unterschiedlich, die einen sind Eltern, die anderen ihre Kinder, und zugleich sind sie verbunden, sie stehen in einer Beziehung zueinander, als Eltern und Kinder.“ (S. 205)
Den Ansatz der britischen Sozialanthropologin Marilyn Strathern übernehmend unterscheidet Schmid beim Relationsbegriff einen interpersonellen von einem konzeptionellen oder kategorischen Aspekt. Der erstere betrifft „Beziehungen zwischen Menschen“, der letztere verweist auf „Beziehungen zwischen Konzepten oder Kategorien“ (S. 207). Mit Hilfe dieser Verdoppelung lässt sich nun der Begriff ‚Reproduktion‘ sowohl in seiner epistemologischen als auch in seiner biologischen Dimension erfassen. Das Fruchtbare am Strathern’schen Ansatz ist, dass er nicht in einen Aspektualismus mündet, sondern das Verhältnis zwischen den Aspekten (als eine weitere Relation) explizit thematisiert. Angewandt auf den Bereich der biologischen Fortpflanzung, dem sich der Beitrag von Schmid in der Folge widmet, heißt das: „Die Reproduktion des Wissens um die menschliche Reproduktion (konzeptionelle Relation) und die menschliche Reproduktion an sich (interpersonelle Relation) bieten somit getrennt, aber besonders in ihrer Relation zueinander, Einblick in euro-amerikanische Wissensweisen.“ (S. 208)
Die Autor/-innen der anderen Beiträge des Sammelbandes befassen sich zu einem kleinen Teil ausdrücklich, zu einem größeren Teil aber nur indirekt mit der Fragestellung der Herausgeberinnen. Erwähnenswert ist der Text von Katrin Nikoleyczik „Zur Re-Produktion von Differenz in der neurowissenschaftlichen Bildgebung“. Am Beispiel der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) untersucht die Autorin „die materiell-diskursiven Bedingungen der neurowissenschaftlichen Erkenntnisproduktion“ (S. 173) und kommt zu dem Schluss: „Reproduktion von Geschlechterdifferenz bedeutet also nicht, dass diese vorgängig im Material existiert. Vielmehr ist Geschlechterdifferenz als ein Konzept von Geschlecht, welches Geschlecht mit Geschlechterdifferenz gleichsetzt, Teil des fMRI-Apparates, der das Phänomen ‚Geschlechterdifferenz in kognitiven Fähigkeiten‘ produziert. Somit wird Geschlechterdifferenz einerseits produziert. Andererseits wird sie aber als Konzept fortgeschrieben, also re-produziert. Dabei erfolgt im Produktionsprozess eine Transformation von einer ‚Differenz zwischen Menschen‘ hin zu einer ‚Differenz zwischen Hirnarealen‘.“ (S. 183)
Nikoleycziks Beitrag ist einer von fünf Texten, die sich – grob gesprochen – dem Feld der Wissenschaftsforschung bzw. der Studies of Science, Technology and Society (STS) zuordnen lassen. Des weiteren gehören dazu der bereits erwähnte Text „Die Reproduktion des Temperaturbegriffs“ von Arianna Borrelli, sodann eine Analyse galvanischer Selbstexperimente vor der Folie frühromantischer Diskurse der Empfindsamkeit mitsamt der dazugehörigen sozialen Praxis von Volker Hess, ein Beitrag aus der Informatik über „anthropomorphe Softwareagenten, die menschenähnlich auf dem Bildschirm verkörpert sind und mit sozialen und emotionalen Eigenschaften ausgestattet werden“, (S. 187) von Corinna Bath und schließlich der schon besprochene Text von Schmid. Legt man ein weites Verständnis von STS zugrunde, dann ist auch Ingrid Jungwirths diskursanalytische Untersuchung „Zur Spezifität von Diskursen. Die Rede von Identität in Sozialwissenschaften und sozialen Bewegungen“ diesem Feld zuzurechnen. Damit ergibt sich ein deutlicher Überhang an Texten aus den STS. Diese aber sind selbst pluridisziplinär und arbeiten mit Methoden aus verschiedenen Disziplinen. So lässt sich trotzdem kein einheitliches Bild vom Thema vorfinden.
Außerdem repräsentieren die restlichen fünf Beiträge des Sammelbandes wiederum sehr unterschiedliche Ansätze. Die Theaterwissenschaftlerin Ulrike Hass etwa beleuchtet, anhand der Darstellung von Familien im bürgerlich-neuzeitlichen Theater, den Übergang von einem genealogischen Geschlechterbegriff zum heute üblichen individualisierten, zweigeschlechtlich binären Modell. Isabell Lorey wirft einen philosophisch-politikwissenschaftlich kritischen Blick auf das im abendländischen Selbstverständnis unmarkierte Subjekt, ausgehend von der Voraussetzung, dass „Weißsein eine herrschaftsförmige Subjektivierungsweise darstellt“ (S. 103). Ute Frietsch widmet sich in ihrem exegetischen Beitrag der Kritik von Foucault an Kants Anthropologie, der sie eine epistemologische Dimension attestiert. Der Text von Ellen Harlizius-Klück über „Zahlverwandtschaften. Versuch über die Reproduktion des Geschlechts der natürlichen Zahl“, in dem mathematikhistorische Überlegungen in einen mehr oder weniger assoziativen Zusammenhang mit der (Kultur-)Geschichte der Weberei gebracht werden, ist den Kulturwissenschaften zuzurechnen. Dagegen will sich Eugene Thackers (englischsprachiger) Beitrag über den aristotelischen Begriff, genauer, das Prinzip des Lebens und insbesondere das damit einhergehende begriffslogische Problem nirgendwo so recht einordnen lassen.
Das Etikett ‚transdisziplinär‘, mit welchem Epistemologie und Differenz im Umschlagtext qualifiziert wird, hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Es verspricht einen Mehrwert, der sich aber angesichts der überwältigenden Disparität der gesammelten Beiträge nicht einstellen will. Und so bleibt der Verdacht, dass damit die mangelnde Einheitlichkeit eher schöngeredet werden soll. Abgesehen davon und abgesehen von der Inanspruchname des Leitbegriffs ‚Reproduktion‘ ausschliesslich im Sinne von Zeugung – was durchaus nicht selbstverständlich ist, umfasst der Reproduktionsbegriff doch noch andere Bedeutungen, z. B. die der Vervielfältigung oder der Kopie, und ließe sich plausiblerweise ebenso gut nach der Produktion von Wissen fragen – sind einzelne Beiträge durchaus lesenswert.
URN urn:nbn:de:0114-qn121106
Dr. Kathrin Hönig
Universität St. Gallen
Lehrbeauftragte für Philosophie
E-Mail: kathrin.hoenig@unisg.ch
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