Peter Winzen:
Das Ende der Kaiserherrlichkeit.
Die Skandalprozesse um die homosexuellen Berater Wilhelms II. 1907–1909.
Köln u.a.: Böhlau Verlag 2010.
384 Seiten, ISBN 978-3-412-20630-7, € 39,90
Abstract: Peter Winzen versucht in vorliegender Studie zu beweisen, dass Kanzler von Bülow hinter der Harden-Eulenburg-Affäre steckte. Der Publizist Harden beschuldigte in mehreren Artikeln einige der Freunde und Berater von Wilhelm II. der Homosexualität, was zu einer Reihe von Skandalprozessen führte. Winzens Argumentation kann in diesem Punkt nicht überzeugen, gleichzeitig zeichnet er aber den Verlauf der Affäre und ihre politischen Ursachen und Wirkungen unter Verwendung einer Fülle an Quellen sehr anschaulich nach. Das Buch eignet sich damit als Einführung in das Thema, für die Forschung, insbesondere für die Genderforschung, wird es dagegen wohl nicht von größerer Bedeutung sein.
1908 fand die „wohl umfangreichste Zeugenbefragung in der Geschichte des Kaiserreiches“ (S. 263) statt: Etwa 200 Zeugenaussagen sollten Klarheit darüber verschaffen, ob Philipp Fürst zu Eulenburg Analsex gehabt hatte oder nicht. Der Prozess war der Höhepunkt einer Reihe von mehr oder weniger absurden und skurrilen Auseinandersetzungen, Intrigen sowie Zeitungs- und Gerichtsschlachten, die als Harden-Eulenburg-Affäre in die Geschichte eingegangen sind. Peter Winzen zeichnet diese Affäre in seinem umfangreichen Buch quellengesättigt und in angenehm flüssiger Sprache detailliert nach.
Die Affäre, die das wilhelminische Kaiserreich erschütterte, begann mit einer Reihe von Artikeln des Publizisten Maximilian Harden, der sich gegen die ‚Kamarilla‘, den Kreis von Beratern, um Wilhelm II. wandte, als deren Kopf er zu Recht den ‚Königsmacher‘ Eulenburg ausmachte. Harden zeichnete in seinen Artikeln das Bild eines weichen, ‚abnormen‘ Rings um den Kaiser, der diesen abschirmte und unvorteilhafte politische Entscheidungen traf. In Folge der Artikel distanzierte sich Wilhelm II. von Eulenburg und von anderen der Homosexualität Verdächtigten. Der erzwungene Rücktritt des Berliner Stadtkommandanten Kuno von Moltke führte zu einem Beleidigungsprozess des Generals gegen Harden. Insgesamt kam es so zu drei Moltke-Harden-Prozessen mit wechselhaften Ergebnissen. Hauptgegner Hardens war aber nach wie vor Eulenburg, dem er das Handwerk zu legen gedachte; er unterstellte diesem, zu weich zu sein und darüber hinaus großen Anteil an der Marokkokrise und ihrem Ausgang gehabt zu haben. Während der Moltke-Prozesse leistete Eulenburg den Schwur, nie gegen den §175 StGB verstoßen, d. h. nie Analverkehr mit anderen Männern gehabt zu haben, und machte sich damit angreifbar. Harden hatte Belege, dass der Fürst einen Meineid geschworen hatte, und erreichte ein Strafverfahren gegen ihn, wobei er dem Staatsanwalt mit der Nennung von 165 Zeug/-innen (S. 263) und schriftlichen Unterlagen, darunter auch Briefen, die ihm zugespielt wurden, und Informationen, die Hardens Detektive aufgetan hatten, aushalf. Eulenburg blieb letztlich nichts anderes übrig, als sich in eine wohl vorgetäuschte Krankheit zu retten. So konnte er ein Urteil verschleppen, bis er 1921 starb.
Der Skandal der ganzen Affäre lag nicht nur in der Bedeutung Eulenburgs, der lange Zeit zu den besten Freunden des Kaisers zählte und maßgeblich am Aufstieg und Fall führender Politiker beteiligt war. Weit schlimmer war, dass Harden einer großen Öffentlichkeit vorgeführt hatte, wie stark das persönliche Umfeld des Kaisers von ‚abnormalen‘ Beratern durchsetzt war.
Die Mischung aus Politik, Intrigen und Sexskandalen war nicht nur für den zeitgenössischen Blätterwald von großem Interesse. Auch eine beachtliche Zahl von Historiker/-innen hat sich an dem Thema abgearbeitet und die politischen Hintergründe des ‚Feldzugs‘ von Harden detailliert untersucht. Es lässt sich also die Frage stellen, welchen Neuwert Winzens Buch haben soll.
Darauf gibt der Autor selbst Antwort: Bisher sei noch nicht sicher geklärt worden, wer überhaupt hinter der gegen Eulenburg gerichteten Kampagne gestanden und Harden mit belastenden Informationen versorgt habe. Winzen meint mit Reichskanzler von Bülow den eigentlichen „Brandstifter“ (S. 344) gefunden zu haben. Der ehemalige Protegé Eulenburgs habe seinen früheren Mentor politisch kaltstellen wollen, um seine eigene Position am Kaiserhof zu festigen bzw. auszubauen. Nun ist diese Interpretation keineswegs neu und findet sich bereits bei Helmuth Rogge (Helmuth Rogge: Holstein und Harden. München: C. H. Beck 1959, S. 14 ff.) und wurde in Briefen bereits von Holstein geäußert (Friedrich von Holstein: Brief an Ida von Holstein vom 25.11.1907. In: Helmuth Rogge: Friedrich von Holstein. Lebensbekenntnis in Briefen an seine Frau. Berlin: Ullstein 1932, S.297 ff.). Dass Bülow ein eifriger Strippenzieher war und die Demontage seines Konkurrenten aufmerksam verfolgte und auch unterstützte, steht außer Frage. Ob er aber wirklich der alleinige Planer und Verursacher der Kampagne war, lässt sich getrost bezweifeln.
Winzens Argumentation wirkt an vielen Stellen bemüht: So ist der öffentlich geäußerte Hinweis Hardens, Bülow als Politiker nicht sonderlich zu schätzen, für ihn ein „Geniestreich“ (S. 72), der die enge Verbindung zwischen dem Kanzler und ihm selbst vertuschen sollte. Die Charakterisierung Bülows als „unzulänglich“ sei entsprechend ebenfalls ein Hinweis auf die „Absprache“ der beiden (S. 76). Als Vermittler zwischen Kanzler und Publizist macht er Bülows Bruder Alfred aus, der vor der Veröffentlichung des ersten Artikels Hardens seinen Urlaub im Reichskanzler-Palais verbracht hatte, was für ihn der Beleg für dessen Komplizenschaft ist – ohne diesen Anlass hätte dieser seinen Urlaub bei seiner Familie und nicht am Amtssitz des Bruders verbracht. Der zweite Hinweis für die konspirative Tätigkeit des Kanzlers ist nach Winzen, dass Harden ihn – obwohl auch er der Gruppe um Eulenburg zuzuordnen ist – nie namentlich in seinen Artikeln erwähnte (S. 72). Das mag so gewesen sein, die Beweislage bleibt aber extrem dürftig und rechtfertigt nicht die weitreichenden Schlüsse, die Winzen daraus zieht. Fixiert auf Bülow vernachlässigt er die Bedeutung des Diplomaten Friedrich von Holsteins, der – wie Winzen selbst mehrfach deutlich macht – eine rege Korrespondenz mit Harden unterhielt und sich mit diesem über Fragen der Prozessstrategie und das allgemeine Vorgehen des Publizisten austauschte (S. 81).
Eine neue Erkenntnis scheint das Buch allerdings doch zu bieten: Winzen geht davon aus, dass „alle Hauptbeteiligten – Kläger wie Beklagte, Opfer wie Hintermänner – entweder eindeutig homosexuell oder doch zumindest homophilen Neigungen nicht gänzlich abhold waren“ (S. 12). Diese Aussage hat ohne Zweifel einen gewissen Reiz. Leider kann der Autor sie nicht überzeugend belegen: Was die Homosexualität Bülows betrifft, verweist Winzen lediglich auf ein unveröffentlichtes Manuskript (S. 13). Die Homosexualität Hardens versucht er durch einen anonymen Brief, in dem behauptet wird, dass Harden in seiner Jugend Päderast gewesen sei (S. 26), und eine ganze Reihe von Aussagen seiner Zeitgenossen, die den Publizisten als „zierlich“ (S. 23), weich und weibisch bezeichneten (S. 26), zu beweisen. Ob aus diesen Beschreibungen, Hardens Locken und dem Besitz einer gelben Jacke (S. 26) allerdings auf dessen Homosexualität geschlossen werden kann, bleibt mehr als zweifelhaft.
Indessen spielt die These für das weitere Buch auch keine Rolle mehr. Winzen betont zwar, dass Harden sich nicht an der Homosexualität per se gestoßen habe, sondern die breite Ablehnung der Bevölkerung gegenüber homosexuellen Menschen und Praktiken genutzt habe, um politische Ziele (also die Ausschaltung Eulenburgs und seiner Freunde am Hof) zu verwirklichen. Allerdings analysiert er sein Quellenmaterial nicht weiter im Hinblick auf den Themenkomplex Sexualität. Dass er der eigenen These von der geteilten Homophilie aller Beteiligten und den damit verbundenen Folgen nicht nachgeht, verwundert sehr. So drängt sich die Frage auf, wieso er die These dann überhaupt bereits in der Einleitung an prominenter Stelle äußert. Für die Genderforschung wird im vorliegenden Buch jedenfalls nur die Erkenntnis gewonnen, dass die Frage nach Analsex Anfang des 20. Jahrhunderts die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln sein konnte. Eine Überarbeitung des Buchs könnte allerdings mit wenig Aufwand zu interessanten Erkenntnissen führen. So deutet der Autor am Ende an, welche Auswirkungen die Affäre auf die Emanzipationsbestrebungen der Homosexuellen hatte. Auch die Frage nach spezifisch homosexuellen Diskursen und ihrer Verbindung zu übergeordneten sexuellen und gesellschaftlichen Paradigmen könnte ausgehend von der Quellenzusammenstellung und -untersuchung Winzens gestellt werden. Leider scheinen diese und verwandte Fragen den Autor nicht allzu sehr interessiert zu haben.
Insgesamt bleibt so ein zwiespältiger Eindruck: Auf der einen Seite bietet das Buch kaum neue Erkenntnisse, und viele Argumentationen sind im besten Fall sehr gewagt. Gender-relevante Fragestellungen werden nur sehr oberflächlich angesprochen, dann aber nicht weiter verfolgt. Auf der anderen Seite hat Winzen eine bemerkenswerte Fleißarbeit vorgelegt, die durch ihre elegante Sprache gerade für den berühmt-berüchtigten interessierten Laien geeignet ist. Die Abbildungen von zeitgenössischen Karikaturen, die leider kaum in die Interpretation eingegangen sind, machen das Buch darüber hinaus als Einführung in das Thema reizvoll, da so ein sehr plastischer Eindruck des zeitgenössischen Umgangs mit dem Skandal und seinen Protagonisten erzeugt wird.
URN urn:nbn:de:0114-qn121242
Julian Köck
Universität Bern
Historisches Institut
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