Geschlecht und Ernährung – eine lohnende Perspektivenallianz für Natur- und Sozialwissenschaften

Rezension von Jana Rückert-John

Katarina Schritt:

Ernährung im Kontext von Geschlechterverhältnissen.

Analyse zur Diskursivität gesunder Ernährung.

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011.

132 Seiten, ISBN 978-3-531-17727-4, € 29,95

Abstract: Katarina Schritt geht in ihrem Buch von der These aus, dass Essen und Ernährung soziale Phänomene sind. Ihr Anliegen ist es, den sozialen Charakter von Ernährung anhand des Diskurses um ‚gesunde‘ Ernährung zu verdeutlichen. Anhand des Ernährungsberichts der Deutschen Gesellschaft für Ernährung belegt sie, dass es in der naturwissenschaftlich geprägten Ernährungsforschung kaum Ansätze gibt, die empirischen Befunde in einen sozialen Erklärungszusammenhang zu stellen. Dem setzt sie eine konstruktivistische Perspektive entgegen und zeigt, dass das Ernährungsverhalten als Produkt von Geschlechterrollenerwartungen zu begreifen ist. In dieser Lesart erscheinen geschlechtlich konnotierte Lebensmittel, Praktiken ‚gesunder‘ Ernährung und Ernährungswissen als Geschlechterrollenattribute, mittels derer geschlechtliche Identität hergestellt wird.

Essen und Ernährung müssen als soziale Phänomene untersucht werden, will man sie angemessen verstehen. Damit soll nicht die physiologische Notwendigkeit geleugnet werden, doch ist die soziale Dimension bereits eine historisch vielfach belegte Erkenntnis, die in Zeiten des Wohlstands und Überflusses in der Moderne umso deutlicher hervortritt. Mit dem, was, wie, wo und mit wem wir essen, artikulieren wir Normen, Werte und identitäre Eigenheiten. Trotz dieser sozialen Bedeutung führt die sozialwissenschaftliche Betrachtung von Essen und Ernährung ein Schattendasein in der vorrangig naturwissenschaftlich geprägten Ernährungsforschung.

Ein wesentlicher sozio-kultureller Aspekt des Ernährungsverhaltens stellt neben beispielsweise dem Alter das Geschlecht dar: Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Ernährung sind unter anderem beim Fleischverzehr belegt. Ernährung und Geschlecht in Beziehung zu setzen, scheint vor allem deshalb lohnend, da diesbezüglich eine doppelte Leerstelle in der Forschung beobachtet werden kann. Einerseits fehlt es den Ernährungswissenschaften an einer Forschungsperspektive auf den Gegenstand Geschlecht, andererseits wird Ernährung auch in der Geschlechterforschung immer noch randständig behandelt. Bei Ernährung und Geschlecht handelt es sich um zwei soziale Phänomene, die einen Körperbezug aufweisen, weswegen Erklärungen häufig einer Naturalisierung anheimfallen: Geschlechtliche Unterschiede im Ernährungsverhalten haben scheinbar ‚natürliche‘ Ursachen. Vor diesem Hintergrund sind sozialwissenschaftliche Betrachtungen wie die von Katarina Schritt, in denen der verkürzte Blick auf Ernährung und Geschlecht kritisch diskutiert und um konstruktivistische Sichtweisen erweitert wird, eine wissenschaftliche Bereicherung.

Sozialität der Ernährung

Das auf ihrer Diplomarbeit basierende Buch Ernährung im Kontext von Geschlechterverhältnissen ist in zwei Teile gegliedert: „Diskursivität von ‚gesunder‘ Ernährung“ und „Doing Gender im Ernährungsverhalten“. Im ersten Teil diskutiert die Autorin die These, dass Essen und Ernährung als soziale Phänomene zu begreifen sind, wenngleich sie auch physiologische und lebenserhaltende Funktionen erfüllen. Die Sozialität von Ernährung zeigt Katarina Schritt an der Diskursivität von ‚gesunder‘ Ernährung auf. In Anlehnung an die Diskurstheorie Michel Foucaults und an Überlegungen Nancy Frasers argumentiert sie, dass die Debatte um Ernährung als Diskurs bezeichnet werden kann. Der Begriff ‚gesunder‘ Ernährung entspricht demzufolge „nicht einer Wahrheit“, sondern ist „Produkt gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse“ (S. 31).

Die Autorin fragt im Weiteren nach den Akteuren des Diskurses und geht hierbei von der These einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Prägung des Ernährungsdiskurses aus. Hierzu untersucht sie exemplarisch den Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung aus dem Jahre 2008, da dieser im öffentlichen Diskurs eine wichtige Rolle einnehme und von den Akteuren als bedeutsame Voraussetzung für ernährungspolitische Maßnahmen gesehen werde (S. 36). Katarina Schritt zeigt zur Bestätigung ihrer These, dass sich nur ein geringer Teil des Berichts explizit mit sozio-kulturellen Faktoren beschäftigt, während sich die Mehrzahl der Betrachtungen auf medizinisch-naturwissenschaftliche Themen der Ernährung konzentrieren. Sie kritisiert vollkommen zu Recht, dass in der Studie „keine Versuche unternommen werden, die Ergebnisse zu interpretieren“ (S. 43) oder in einen weiterführenden Erklärungszusammenhang zu stellen. Über eine bloße Beschreibung der statistischen Ergebnisse gehe der Bericht nicht hinaus. Es werde nicht näher darauf eingegangen, welche Bedeutung die sozialen Faktoren Alter und Geschlecht für das Ernährungsverhalten haben. Mit dieser maßgeblich verkürzten Forschung wird die Deutsche Gesellschaft für Ernährung selbst ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht, wenn Ernährungsempfehlungen im Lebensalltag umgesetzt werden sollen.

Der Ernährungsbericht 2008 kann als exemplarisch für eine Vielzahl von naturwissenschaftlich geprägten Ernährungsstudien gelten. Hierbei ist häufig eine soziologisch unreflektierte Verwendung von Begriffen und Konzepten – wie z. B. Alter, Geschlecht oder Gesundheit – zu beobachten, die zu undifferenzierten und auch banalen empirischen Aussagen führen. Problematisch ist hierbei, dass die Konstruktivität – um mit Katarina Schritt zu sprechen – oder anders: die Kontingenz der Begriffe nicht bedacht wird, sondern vielmehr – in verkürzter Perspektive – von ihrer Konstanz oder Natürlichkeit ausgegangen wird.

Doing Gender der Ernährung

Im zweiten Teil des Buches konzentriert sich die Autorin auf die Kategorie Geschlecht und untersucht die wechselseitige Bedingtheit von Geschlecht und Ernährung. Hierzu stellt sie zuerst die dafür relevanten Befunde des Ernährungsberichts der Deutschen Gesellschaft für Ernährung 2008 vor, die sich auf empirische Ergebnisse der Nationalen Verzehrsstudie II beziehen, und diskutiert in kritischer Weise die konstatierten „eklatanten Unterschiede im Ernährungsverhalten der Geschlechter“ (S. 51). Dabei berücksichtigt die Autorin die unterschiedlichen Energiebedarfe der Geschlechter, wie sie Eingang in geschlechtsspezifische Ernährungsempfehlungen finden. Doch hinterfragt sie diese stereotypen Annahmen zugleich, wenn sie lediglich der Tendenz nach Bestätigung finden (S. 59). Katarina Schritt greift damit ein zentrales Argument der Geschlechterforschung auf: Auch beim Ernährungsverhalten kann nicht von den Männern und den Frauen ausgegangen werden. Die unterkomplexe Pauschalisierung von Geschlechterkollektiven verstellt den Blick für Unterschiede innerhalb geschlechtlicher Kohorten und für andere relevantere soziale Kategorien. Die Autorin weist zudem auf das bekannte Problem hin, dass „die analytische Trennung von Männern und Frauen die Dualität der Geschlechter gleichsam reproduziert“ (S. 70).

Im Anschluss wechselt die Autorin in eine konstruktivistische Perspektive, indem sie zunächst beim Begriff Geschlecht ansetzt und dessen soziale Bedeutung klärt. Das soziale Geschlecht (Gender) rekurriert nicht auf körperliche Geschlechtsmerkmale (Sex) und die Zuordnung in eine der zwei Ausprägungen von männlich und weiblich. Der Begriff Gender geht vielmehr von Geschlechterrollen und Geschlechterrollenerwartungen aus, die in alltäglichen Interaktionen konstituiert und stets auf neue reproduziert werden (S. 61). In ihrer weiteren Argumentation orientiert sich Katarina Schritt am Konzept des Doing Gender und geht damit der Frage nach, wie im Ernährungsverhalten geschlechtliche Ungleichheit und Hierarchie reproduziert wird (S. 68). Gleichzeitig diskutiert sie drei alternative Erklärungsansätze geschlechtsspezifischen Ernährungsverhaltens, die jenseits naturalistischer Zugänge angesiedelt sind.

Ernährungsverhalten als Produkt von Geschlechterrollenerwartungen

Als Erstes diskutiert Katarina Schritt die These, wonach Frauen unterstellt wird, eine stärkere Körperorientierung zu haben (S. 72 ff.). Das Streben nach einem schlanken Körper führe dazu, dass Frauen mehr Wert auf ihre Ernährung legen und sich dadurch ‚gesünder‘ ernähren. Der historische Blick mache hingegen deutlich, dass der Frauenkörper als inferiore Variante des Männlichen (Thomas Laqueur) stets unter Beobachtung stand und hierbei zunehmend pathologisiert wurde. Am Geschlecht ausgebildete Rollenerwartungen stilisierten darüber hinaus Frauen als das ‚schöne Geschlecht‘. Abweichungen von gängigen Schönheitsidealen würden deshalb beim weiblichen Geschlecht wesentlich häufiger bemerkt und negativ bewertet werden als beim männlichen. Soziale Anerkennung hänge bei Frauen in wesentlich stärkerem Maße vom äußeren Erscheinungsbild ab (S. 80). Der Körper werde häufig als weibliches Kapital verstanden. Diese Erwartungen richten auch Frauen an sich selbst, was „Ängste und Unsicherheiten in Bezug auf den Körper und damit auch auf das Ernährungsverhalten verstärkt“ (S. 81). Die beobachtete ‚gesündere‘ Ernährung von Frauen sei demnach ein Ergebnis spezifischer Geschlechterrollenerwartungen, die häufig mit Verzicht, Enthaltsamkeit oder auch krankhaften Ernährungsformen wie Bulimie oder Anorexie einhergehen (S. 83).

Als Zweites diskutiert die Autorin die These, dass Unterschiede im Ernährungswissen der Geschlechter ein differentes Ernährungsverhalten zur Folge haben. Diesen Befund stellt sie in den Erklärungszusammenhang geschlechtlicher häuslicher Arbeitsteilung. Hierbei zeigt sie anhand familiensoziologischer und haushaltsökonomischer Studien, dass der weibliche Zeitaufwand für die häusliche Arbeit, so auch die Beköstigung, ungleich höher als der männliche ist (S. 88) und dass der Frau mehrheitlich die Verantwortung für das Familien- und Haushaltsleben obliegt. Was sich im höheren Ernährungswissen spiegelt, ist keine weibliche Affinität Nahrungsmitteln gegenüber, sondern wiederum als Aspekt der Geschlechterrollenerwartung zu deuten. Das betonen die männlichen Domänen beim Kochen noch zusätzlich, wenn sich diese eher auf öffentliche (z. B. Grillen) und außergewöhnliche Situationen (z. B. Zubereitung exotischer Gerichte) beziehen (S. 89 f.).

Argumentiert die Autorin gegen die zwei erstgenannten Thesen, so befürwortet sie die dritte, die besagt, dass Essen und Ernährung geschlechtliche Identitäten konstituieren. Praxen des Essens und der Ernährung bieten vielfältige Möglichkeiten, die eigene geschlechtliche Identität darzustellen und ebenso von Anderen in jeweiliger geschlechtlicher Zugehörigkeit erkannt zu werden (S. 122). Hierzu führt sie verschiedene Beispiele geschlechtsspezifischer Symbolik von Lebensmitteln an, wie Fleisch, das als Symbol von Macht, Kraft und Stärke gilt. Entsprechend der Geschlechterrollenerwartungen gilt nach der westlich geprägten kulinarischen Taxonomie (Monika Setzwein: Ernährung – Körper – Geschlecht. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004) Fleisch als starke Nahrung und wird dem Männlichen zugeordnet. Katarina Schritt macht hieran deutlich, dass auf symbolischer Ebene nicht nur Differenzen der Geschlechter reproduziert werden, sondern zugleich auch ihre hierarchische Ordnung (S. 112).

Unter der Perspektive geschlechtlicher Identität, die auf Geschlechterrollenerwartungen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung basiert, werden die Argumentationsstränge von der Autorin abschließend zusammengeführt. Nicht nur durch den Verzehr weiblich stilisierter Nahrungsmittel, sondern auch durch das Praktizieren einer ‚gesunden‘ Ernährungsweise und den Ausweis eines hohen Ernährungswissens lässt sich weibliche Identität herstellen, eine Identität, die immer noch breite gesellschaftliche Anerkennung findet. Damit wird gleichzeitig eine Kontrastfolie für die andere, männliche, Geschlechterrolle vorgegeben (S. 113). Doch diese ist eben nur eine mögliche, was dazu einlädt, perspektivisch den Blick in der Gender- und Ernährungsforschung auf Vielfalt und Wandel zu richten.

Fazit

Das Buch Katarina Schritts regt mit seiner überblicksartigen Diskussion der relevanten Literatur im Zusammenhang mit tauglich erscheinenden theoretischen Grundierungen zu solch einer erweiterten Blickrichtung an. Zwar darf es von ernährungssoziologisch informierten Leser/-innen nicht mit dem Anspruch gelesen werden, maßgeblich neue Erkenntnisse zu entdecken, es hat jedoch das Potential, bei einem darüber hinausgehenden Leserkreis das notwendige Interesse für eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf Ernährung und Essen zu wecken. Diese wird in den Debatten um Ernährung immer wieder gefordert, aber findet nur ungenügend Beachtung. Gerade deshalb lohnt die Publikation und ist seine Verbreitung vor allem in ernährungswissenschaftlichen Fachkreisen zu wünschen.

URN urn:nbn:de:0114-qn121150

Dr. Jana Rückert-John

Institut für Sozialinnovation e.V. (Berlin)

Dr. rer. soc.; wissenschaftliche Mitarbeiterin

E-Mail: jana.rueckert-john@isinova.org

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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