Paradoxe Arbeits- und Geschlechterordnungen jenseits der Erwerbsarbeit

Rezension von Stefanie Ernst

Jutta Allmendinger:

Verschenkte Potenziale?

Lebensverläufe nicht erwerbstätiger Frauen.

Frankfurt am Main u.a.: Campus Verlag 2010.

198 Seiten, ISBN 978-3-593-39266-0, € 16,90

Abstract: Allmendiger berichtet über zwei durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Projekte zu Frauen, die aus verschiedenen Gründen ihre Erwerbskarriere unterbrochen haben und in den Beruf zurückkehren wollen, aber auf erhebliche strukturelle Probleme im konservativen Wohlfahrtsstaat mit seinen ambivalenten Geschlechter- und Arbeitsordnungen stoßen. Umfassend und materialreich wird ein Sozialprofil dieser sogenannten „Schattenfrauen“ sichtbar, die allein im Begriff der traditionellen Hausfrau nicht mehr adäquat zu erfassen sind und die neuartige Herausforderungen an eine geschlechtergerechtere Arbeitsmarkt- und Gesellschaftspolitik stellen.

Mit gespanntem Interesse nahm ich die umfassend informierende, in neun Kapitel aufgeteilte Monographie Allmendingers in die Hand, liegen doch kaum Daten über jene zahlenmäßig nicht schlüssig erfasste und nahezu exotisch anmutende Gruppe nicht erwerbstätiger Frauen vor, die allenfalls in stereotypisierenden Staubsaugerwerbespots das erfolgreiche Familienmanagement als Refugium emanzipatorischer Selbstverwirklichung erleben dürfen.

Nach Helge Pross’ feministisch wegbereitender Studie über die „Wirklichkeit der Hausfrau“ von 1975 hat die Arbeitsmarkt- und Sozialforschung mit Verschenkte Potenziale nunmehr gut 35 Jahre später hochgradig aktuelle und repräsentative Daten über die Lebenssituation und -verläufe nicht erwerbstätiger Frauen in Deutschland erhalten. Dieses Forschungsdefizit ist umso überraschender, als seit langem zwar von unausgeschöpften Arbeitskraftpotentialen und einem drohenden Fachkräftemangel die Rede ist, diese traditionell aber nicht bei der ‚stillen Reserve‘ vermutet werden. Dabei wollen viele dieser Frauen erwerbstätig sein, unterliegen aber einem strukturellen Geflecht, das ihnen wenig Möglichkeiten zum (Wieder)Einstieg in das Berufsleben gibt und „aus frauentypischen Berufen, niedrigen Arbeitszeiten, geringem Einkommen und langen Unterbrechungen“ schlechthin besteht. (S. 21).

Profil nicht erwerbstätiger Frauen

Grund genug also für die Arbeitsmarktforscherin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Jutta Allmendiger, eine umfassende multimethodisch und multiperspektivisch angereicherte Untersuchung durchzuführen. Die Ergebnisse zweier Projekte, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegeben wurden, werden in diesem Buch vorgestellt. Ziel der Studie ist es, ein Sozialprofil nicht erwerbstätiger Frauen, zu dem statistische Berechnungen ebenso wie qualitative Daten über individuelle Motivationsstrukturen zählen, zu erstellen. Ausgangslage ist zum einen, dass es inzwischen zwar viele Informationen über Berufsverläufe erwerbstätiger Frauen gibt, über nicht erwerbstätige, die immerhin 28 % der heute 25- bis 59-jährigen Frauen in Deutschland ausmachen, dagegen aber wenig bekannt ist. Zum anderen beobachtet Allmendiger, dass familien- und berufsorientierte Frauen heute, obgleich in „starke[n] und wirkungsvolle[n] Rollen“ (S. 11) agierend, mehr denn je in einer Zwickmühle zwischen Beruf und Familie stecken. Wenn sie sich aufgrund mangelnder Kinderbetreuungsmöglichkeiten für einen längeren beruflichen Ausstieg entscheiden, haben sie gravierende Konsequenzen zu gewärtigen, die die ineinander verschränkten und anhaltenden Schwachstellen im umgebauten Sozialstaat offenlegen.

Dieses verschränkte Faktorenbündel löst Allmendinger in ihren Wechselbezügen schlüssig auf und macht auf der strukturellen, kulturellen, politischen, individuellen und partiell auch sozialpsychologischen Ebene – auf Basis von Daten des Mikrozensus, des Sozialökonomisches Panel (SOEP) und des Statistischen Bundesamtes sowie anhand von Interviews mit Beraterinnen und Fallmanagern der Agentur für Arbeit – deutlich, inwiefern das an der heteronormativen Erwerbsbiographie und Lebensform ausgerichtete Normalarbeitsmodell eine arbeits- und gesellschaftspolitisch hohe und fatale Tragweite wie auch Brüchigkeit zugleich hat.

Barrieren gegen eine Erwerbsbeteiligung von Frauen

Damit sind zugleich die Paradoxien wie etwa die des auf dem männlichen Alleinernährermodell beruhenden gender wage gap benannt, der durch einen erhellenden europäischen Ländervergleich auf nahezu 20 Seiten aufgezeigt wird. Die infrastrukturellen Unterschiede der Länder werden dabei als die zentrale Weichenstellung für die Erwerbsbeteiligung der Frauen im Kontext von Kinderbetreuung und beruflicher Selbstverwirklichung sichtbar: Selbst dem letzten Zweifler dürfte hier detail- und datenreich ausgeführt deutlich werden, nicht nur dass Deutschland neben der Schweiz auf dem letzten Platz rangiert, sondern auch dass eine hohe Erwerbsbeteiligung von Müttern nicht zu Lasten des Kindeswohls geht, was man hier wohl nicht oft genug wiederholen kann, zählt Deutschland doch zum einen zu den konservativen Wohlfahrtsstaaten, in denen sich das Konzept der sogenannten ‚Hausfrauenehe‘ nebst ‚Dreiphasenmodell‘ und dominanter männlicher Erwerbsorientierung immer noch hält, bis hinein in die Köpfe arbeitsmarktpolitischer Entscheider und Berater. Zum anderen weist die ausgeprägte berufliche Segregation und Segmentation des Arbeitsmarktes aber Frauenberufe auf, die gerade keine familienfreundlichen Arbeitsstrukturen und -zeiten haben: Wie sonst ließen sich die Schwierigkeiten der Chancengleichheitsbeauftragten begreifen, innovative Qualifizierungs- und Beratungsangebote für Frauen und Männer ausgewogen zu platzieren? „Es muss hier einfach Ziel werden“, so eine Beraterin, „dass man bei Frauen nicht an eine Sondergruppe denkt. Eigenständige Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit gilt für Männer wie Frauen und bei diesem Selbstverständnis sind wir noch nicht angelangt. Auch die BA müsste mit diesem Selbstverständnis arbeiten, aber das will der Gesetzgeber nicht. Er hat sich da einfach noch nicht klar entscheiden. Das merkt man dann bei uns, und deswegen gibt’s immer wieder so Ausweichstrategien.“ (S. 21, S. 108)

Zu dieser kognitiven Barriere gesellen sich Faktoren wie eine steuerliche Begünstigung des Alleinernährermodells durch ein überkommenes Ehegattensplitting statt Einzelbesteuerung, traditionell ausgerichtete Weiterbildungs- und Umschulungsangebote für erwerbslose Frauen und die Risiken des Humankapitalverlustes bei beruflichen Unterbrechungen. Vor dem Hintergrund eines neuen Scheidungs- und Unterhaltsrechts, das Frauen gemäß modernisierter Geschlechterverhältnisse und Individualisierungszwänge vermehrt zur eigenständigen Existenzsicherung zwingt, erscheint es umso fataler und paradoxer, dass nicht erwerbstätige Frauen, die über ihren gut verdienenden Ehemann gesichert sind, „finanziell wesentlich besser“ stehen und der „Heiratsmarkt finanziell und gesundheitlich Erfolg versprechender als der Arbeitsmarkt“ (S. 58) ist. Für erwerbstätig ambitionierte Frauen scheint dagegen im deutschen Beschäftigungsmodell „der Verzicht auf Kinder“ „mittel- und langfristig sicherer“ (S. 50) zu sein. Die eingangs beobachtete und im Alltagsleben diffus gefühlte Zwiespältigkeit von familien- und erwerbsorientierten Frauen kann deutlicher nicht sichtbar gemacht werden und liefert den Leserinnen und Lesern handfeste Argumente für die Anerkennung der Forderungen der Autorin nach einem zweiten und dritten Arbeitsmarkt für Berufsrückkehrerinnen und erwerbslose Frauen, nach Prävention und Minimierung bis Eliminierung beruflich langer Unterbrechungsphasen bei gleichzeitiger Verabschiedung der „Fiktion einer ununterbrochenen Beschäftigung“ (S. 146) im Lebenslauf sowie nach vermehrten gesetzlichen und privatwirtschaftlichen Initiativen.

Wiedereinstieg, Alter und Qualifikation

Unter diesem ambivalenten Konglomerat werden aber auch verschiedene Faktoren eines gelingenden Wiedereinstiegs in den Job sichtbar, wie die Erfolgstories der in diesem Buch kursorisch vorgestellten Frauen zeigen: Vor allem das Alter und die Qualifikation spielen im Vergleich zu Arbeitszeit, Bildung, Lebensform, Herkunft, Staatsangehörigkeit und Behinderung für die Rückkehr eine bedeutende Rolle. Ernüchternd, aber plausibel ist dabei, dass gerade für eine nicht dem „traditionellen Verständnis von Geschlechterrollen“ (S. 109) entsprechende Wiedereinsteigerin allein der hart erkämpfte Weg in die Selbstständigkeit bleibt, um ihr Berufsziel zu realisieren, lassen doch die strukturellen Barrieren zu wenig Spielräume für ein modernes betriebliches Arrangement von Beruf und Familie.

Weitere Entlarvungen der konservativ verharrenden Arbeitsmarktpolitik beziehen sich auf den Mythos des Ehrenamtes (das sich letztlich nur gut situierte Ehefrauen als wichtige Erweiterung ihres Horizontes erlauben können) oder die Vorstellung von der Weiterbildung als Jobmotor schlechthin. In einem eigenen Kapitel beschreibt Allmendinger den Kontext arbeitsmarktpolitischer Innovationen, wenn es darum geht, unter der „Perspektive Wiedereinstieg“ (S. 95) Neuland erschließen zu müssen, wenn Erwerbspotentiale jenseits traditioneller Erwerbsverläufe voll ausgeschöpft und der Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik zwischen „Reparatur und Prävention“ (S. 102), zwischen Hartz IV und Arbeitsförderung, Fordern und Fördern konsequent gemeistert werden soll.

Abschließende Bewertung

Mit empirisch komplexen und aufeinander aufbauenden Erhebungen gelingt es der Autorin überzeugend, umfassend Material zur Verfügung zu stellen, um die strukturellen Barrieren erwerbsinteressierter, aber nicht erwerbstätiger Frauen nachzuweisen, deren Existenz sich nicht allein im Hausfrauendasein oder als ‚stille Reserve‘ erschöpft. Das durch zahlreiche Schaubilder, tabellarische Abbildungen und Berechnungen illustrierte und mit einem 30-seitigen informativen Anhang versehene Buch dürfte das Interesse von arbeits- und geschlechterpolitisch interessierten Expertinnen und Experten finden, die differenzierte Argumente für eine moderne und geschlechtergerechte Arbeitsmarkt- und Gesellschaftspolitik an die Hand bekommen. Fallgeschichten und reportageähnliche Darstellungsformen der Lebenswege der befragten Frauen lockern kontrastreich die verdichteten berichtsförmigen Passagen auf. Allmendigers Arbeit bietet einen unerlässlichen Daten- und Erkenntnisgewinn und ist damit ein Muss für die Arbeits- und Geschlechterforschung und kann nur bestens empfohlen werden. Weiter auszubuchstabieren bliebe dabei sicherlich die Anforderung, die Konsequenzen aus dieser Studie für die Berufsberatung junger Erwachsener zu ziehen sowie geschlechtersensiblere Hilfe- und Beratungssettings für die berufliche Qualifizierung und Rückkehr von Frauen anzubieten.

URN urn:nbn:de:0114-qn121074

Prof. Dr. Stefanie Ernst

Universität Hamburg

Junior-Professur für Soziologie: Arbeit – Organisation – Geschlecht; Fachbereich Sozialökonomie

Homepage: http://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereiche/sozialoekonomie/fachgebiete/fachgebiet-soziologie/team/jun-prof-dr-stefanie-ernst-ma/

E-Mail: stefanie.ernst@wiso.uni-hamburg.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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