Familie in Europa heute – vielgestaltig und dynamisch

Rezension von Isabelle Kürschner

Olaf Kapella, Christiane Rille-Pfeiffer, Marina Rupp, Norbert F. Schneider (Hg.):

Die Vielfalt der Familie.

Tagungsband zum 3. Europäischen Fachkongress Familienforschung.

Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2009.

448 Seiten, ISBN 978-3-86649-252-3, € 48,00

Abstract: Der Sammelband enthält die Vorträge der 3. Europäischen Fachkonferenz für Familienforschung, die im Juni 2008 abgehalten wurde. Die Aufsätze beleuchten aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven, wie Familien heute in Europa zusammenleben und was Familie heute bedeutet. Neben der Formenvielfalt und Dynamik werden unterschiedliche nationale und internationale Rahmenbedingungen und entsprechende Entwicklungen ins Blickfeld genommen.

„Die Vielfalt der Familie – ihre Pluralität oder Pluralisierung – ist seit langen ein Merkmal, das wichtige Trends in der jüngeren Entwicklung familialen Zusammenlebens trefflich zu beschreiben scheint.“ (S. 9) Diese Trends werden in den Einzelbeiträgen des Sammelbandes Die Vielfalt der Familie, herausgegeben von Olaf Kapella, Christiane Rille-Pfeiffer, Marina Rupp und Norbert F. Schneider, aufgegriffen. Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert: Unter der Überschrift „Familienbilder“ werden im ersten Teil sowohl die verschiedenen Vorstellungen von Familienleben als auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrachtet. Im zweiten Abschnitt („Geschlechterrollen in der Familie“) geht es um Veränderungs- und Beharrungstendenzen im Spannungsfeld der Familie. „Globalisierung und Herausforderungen für die Familie“ stehen im Mittelpunkt des dritten Teils, in dem vor allem die Themen globalisierter Arbeitsmarkt, Mobilität und institutionellen Wandel dargelegt werden. Im letzten Abschnitt wird unter dem Titel „Familiale Entwicklungsverläufe und Dynamiken in Europa“ ein Überblick über die regionalen Unterschiede in Europa gegeben.

Über 30 Autoren aus den Bereichen Soziologie, Psychologie, Ethnologie, Rechtswissenschaften, Familienforschung, Frauenforschung, Ökonomie und Anthropologie beleuchten „die Vielfalt der Familie“ aus Perspektive der unterschiedlichen Disziplinen. Daraus ergibt sich eine bunte Mischung an Themen, deren Gliederung den Herausgebern jedoch recht gut gelungen ist. Auch ist es als positiv zu bewerten, dass trotz der Anzahl von 28 Beiträgen Wiederholungen vermieden werden. Wie es die Fülle an Beiträgen bereits vermuten lässt, dient das Werk eher dazu, einen Überblick über die Teilbereiche der Familien- und Geschlechterforschung zu vermitteln, nicht jedoch eine vertiefte Analyse in den jeweiligen Bereichen. Da es aus einer breit angelegten Tagung hervorgegangen ist, mag dies auch nicht die Intention der Herausgeber gewesen sein.

Kultur, Tradition und Religion

Im ersten Abschnitt werden „Familienbilder“ unter den Aspekten Kultur, Tradition und Religion betrachtet. Dabei werden als Familienbilder sowohl die Leitbilder der Familien für die eigene Lebensgestaltung als auch die Möglichkeit zu ihrer externen Erfassung dargestellt. Positiv hervorzuheben ist in diesem Abschnitt die vielfältige Auffassung des Begriffs ‚Familienbild‘, welches anhand der kulturellen Unterschiede in Europa, der einzelnen Struktur- und Organisationsformen sowie der Einflüsse von Immigration und Religion auf die Familienwirklichkeit in den einzelnen Ländern und Gesellschaften beleuchtet wird. Wünschenswert wäre an dieser Stelle eine intensivere Auseinandersetzung mit verschiedenen Religionen und deren Einflüssen auf Familie und Geschlecht im europäischen Vergleich. Zwar geht Rosa Aparicio Gómez auf die Bedeutung des Islam bei pakistanischen, türkischen und marokkanischen Einwanderern ein, doch wäre neben dem Beitrag von Thomas Knieps-Port le Roi („Wie heilig ist die Familie? Zum Einfluss religiöser und ethischer Faktoren auf die Familie“), in dem der Autor sich mit dem christlichen Familienverständnis auseinandersetzt, auch eine Ergänzung um islamische Einflüsse sinnvoll gewesen.

Familiale Rollen aus Sicht der Geschlechterforschung

Im zweiten Abschnitt werden die „Geschlechterrollen in der Familie“ aus der Genderperspektive eingehend betrachtet. Hier fällt positiv auf, dass Frauen und Männern bzw. Müttern und Vätern gleichermaßen Beachtung geschenkt wird. Prüft man die Literatur der Geschlechterforschung, insbesondere im deutschsprachigen Raum, erkennt man schnell, dass dies nicht selbstverständlich ist. Dies zeigt auch Heather Hofmeister („Die Integration der Geschlechter-, Frauen- und Männerforschung in die Familienforschung. Ein Vergleich englisch- und deutschsprachiger Quellen“). Sie merkt an, dass „dem Studium weiblicher Rollen gegenüber der Untersuchung männlicher Rollen Vorrang gegeben“ wird (S. 221). Drei der sieben Beiträge in diesem Abschnitt des Sammelbandes handeln von der Rolle des Mannes bzw. des Vaters in der Familie. Michael Meuser geht in seinem Aufsatz „Männer und Familie – Perspektiven aus der Männlichkeitsforschung“ auf den Wandel des Verständnisses von Vaterschaft ein und fragt nach den Konstruktionen von Männlichkeit. Cornelia Helfferich beschreibt „Männer in der Familie“ und beschäftigt sich insbesondere mit dem Wandel der Familienrolle des Mannes und dem Abbau des Alleinernährerprinzips zugunsten des Zwei- bzw. Hinzuverdienermodells. Sie erkennt dabei jedoch einen „ungleichmäßig voranschreitenden Veränderungsprozess insgesamt ebenso wie im Vergleich der europäischen Länder“ (S. 199). „Veränderungen in der Vaterschaft“ ist schließlich Inge Seiffge-Krenkes Beitrag betitelt, in dem sie eine „Umstrukturierung in den Erziehungsprinzipien“ (S. 203) beschreibt sowie die „Bedeutung der Väter für die körperliche und psychische Entwicklung ihrer Kinder“ (ebd.) festhält.

Positive und negative Auswirkungen der Globalisierung

Im dritten Abschnitt, „Globalisierung und Herausforderungen für die Familie“, werden die Auswirkungen der Globalisierung von verschiedenen Seiten beleuchtet. Den positiven Faktoren wie Chancen, Mobilität und Freiheit werden Unsicherheit, Instabilität und Risiko gegenübergestellt, wobei die Tendenzen zum Negativen überwiegen. So erkennt Hans-Peter Blossfeld in seinem Artikel „Globalisierung, wachsende Unsicherheit und Veränderung bei der Familiengründung in der jungen Generation“ negative Auswirkungen auf Partnerauswahl und Fertilitätsprozesse, und Gerlinde Vogl („Betriebliche Mobilitätsregime: Die strukturierende Kraft betrieblicher Mobilitätspolitik auf Arbeit und Leben“) beschreibt, wie „mobile Beschäftigte ihre sozialen Beziehungen (soziale Netzwerke) zu Kollegen und zur Familie, Freunden und Bekannten organisieren und stabilisieren.“ (S. 259) Während die Autorin einerseits feststellt, dass Mobilität nicht nur Chance, sondern auch Risiko bedeutet, insbesondere, wenn sie ihren freiwilligen Charakter verliert und zur Forderung erhoben wird, stellt sie auch die Frage, ob „unter hochmobilen Lebensbedingungen nicht nur Leid akkumuliert“ wird, sondern sich auch „durchaus gelingende Lebens- und Solidaritätsentwürfe und -formen realisieren lassen“ (S. 270). Martin Abraham sieht in seinem Beitrag „Institutioneller Wandel, Familie und das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen“ eine gestiegene Unsicherheit, hervorgerufen durch den Globalisierungsprozess, und gibt dabei zu bedenken, dass aber „insbesondere Kinder ein höheres Maß an Planbarkeit des Lebenslaufes nach sich ziehen.“ (S. 280)

In diesem Abschnitt kommt, verglichen mit dem Rest des Buches, der Genderaspekt zu kurz. Zwar wird bei Rosemary Crompton und Clare Lyonette auf den Einfluss von Gender und Klassenzugehörigkeit und deren Auswirkungen auf Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung eingegangen und untersucht Janneke Plantenga den Einfluss der Kinderbetreuung auf die sozioökonomischen Integration unter der Genderperspektive. Was m. E. aber an dieser Stelle fehlt, ist eine Darstellung, welche Anforderungen die Globalisierung und im Speziellen die damit einhergehende Mobilität an die einzelnen Mitglieder einer Familie, insbesondere unter Einbeziehung der Geschlechterperspektive, stellt.

Regionenübergreifende Betrachtungen

Im letzten Abschnitt stehen die regionalen Unterschiede in Europa im Mittelpunkt. Eine gute Übersicht bietet gleich zu Beginn Johannes Huininks Aufsatz („Familiale Entwicklungsverläufe und Dynamiken in Europa. Ein Überblick“), in dem er den Wandel der Familienformen in Europa in einem regionenübergreifenden Ländervergleich darstellt. Nachdem auf skandinavische Modelle bereits von Ilona Ostner in einem der einführenden Beiträge eingegangen wurde, widmen sich die Autor/-innen Giovanna Rossi und Zsolt Spéder mit ihren Artikeln zu „Entwicklungsmuster und Dynamiken der Familie in Südeuropa“ und „Familiale Entwicklungsverläufe in den neuen EU-Mitgliedsstaaten“ zwei weiteren Regionen Europas. Während sich Rossi mit Wandlungsprozessen von Familien in südeuropäischen Ländern beschäftigt und dabei die Transformationen in den Geschlechter- und Generationenverhältnissen betrachtet, geht Spéder insbesondere auf die familialen Entwicklungsverläufe in der post-sozialistischen Ära ein. Abgerundet wird der europäische Vergleich durch den Beitrag von Bea Verschraegen („Rechtliche Absicherung der Lebens- und Familienformen – Ein europäischer Überblick“), in dem sie auf Unterschiede im Familienrecht und die daraus erwachsenden Herausforderungen eingeht.

Fazit

Den Anforderungen eines Sammelbandes, der aus einer Tagung hervorgeht, wird das Buch in jedem Fall gerecht. Durch die Vielfältigkeit der Beiträge, mit spezifischen Analysen und Fallbeispielen wird ein ausgedehnter Überblick über das Thema ‚Familie‘ geboten und dieses in einen europaweiten Kontext gestellt. Somit eignet sich das Werk sehr gut, um gezielt einzelne Themen in den Fokus zu rücken und Anstöße zur vertieften Forschung zu geben.

Mit der Analyse von Familien- und Rollenbildern und der Arbeitsteilung innerhalb der Familie, insbesondere im Hinblick auf die Kindererziehung, der Betrachtung von Familienleben unter dem Genderaspekt sowie dem historischen Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Geschlechter- und Frauenforschung leistet der Sammelband – mehr als sein Titel zunächst vermuten lässt – einen wichtigen und umfassenden Beitrag zur Geschlechterforschung. Positiv hebt er sich von der bisher vorliegenden Literatur vor allem durch das ausgeglichene Verhältnis der Betrachtung von Frauen und Männern und ihren Rollen in der Familie ab.

URN urn:nbn:de:0114-qn121202

Dr. Isabelle Josephine Kürschner

Hanns-Seidel-Stiftung; Akademie für Politik und Zeitgeschehen

Referentin für Arbeit und Soziales, Frauen-, Familien- und Seniorenpolitik

E-Mail: kuerschner@hss.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

Creative Commons License
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter http://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons