Sebastian Scheele:
Geschlecht, Gesundheit, Gouvernementalität.
Selbstverhältnisse und Geschlechterwissen in der Männergesundheitsförderung.
Sulzbach im Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2010.
139 Seiten, ISBN 978-3-89741-305-4, € 16,90
Abstract: Wenn es um ihre Gesundheit geht, gelten Männer mittlerweile als Mängelwesen: Sie essen lieber Fleisch als Salat, lassen ihr Auto regelmäßiger warten als ihren Körper und trinken auch gerne mal ein Glas zu viel. Die Zielgruppe Mann wird in der Gesundheitsförderung zunehmend in den Blick genommen. Sebastian Scheeles detaillierte Analyse zeichnet erstmalig nach, welches Geschlechterwissen dabei (re)produziert wird. Zudem hinterfragt er die in der Männergesundheitsförderung propagierten Selbstverhältnisse kritisch und stellt sie in den Kontext neoliberaler Regierungsweisen. Dafür erweitert er Foucaults Konzept der Gouvernementalität um sozialkonstruktivistische Geschlechtertheorie und verknüpft diese mit den Gesundheitswissenschaften.
Risikoreiches Verhalten, ungesunder Lebensstil, mangelnde Vorsorge – in Fragen der Gesundheit wird Männern Nachholbedarf attestiert. Seit einigen Jahren versuchen insbesondere Politik, Wissenschaft und Krankenkassen, die Zielgruppe Mann zu einem anderen Selbstverhältnis zu bewegen. Doch diese sträubt sich hartnäckig. Das ist wenig verwunderlich, da positives Gesundheitsverhalten und die Sorge um den eigenen Körper dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben werden. Eine männerspezifische Ansprache soll helfen, dies zu ändern.
Für die Geschlechterforschung ist die Männergesundheitsförderung ein Novum. Während Männer gemeinhin als Norm und Frauen als Abweichung gelten, wird hier das Verhältnis umgedreht und Männern ein Defizit diagnostiziert. Die „Entdeckung des Mannes als Problemfall“ in der Männergesundheitsförderung wurde bereits von Michael Meuser beschrieben (Die widersprüchliche Modernisierung von Männlichkeit – Kontinuitäten und Veränderungen im Geschlechterverhältnis. Vortrag im Rahmen der Reihe Gender Lectures des GenderKompetenzZentrums, Berlin, 24.05.2005).
Sebastian Scheele legt erstmals eine Diskursanalyse dieses Phänomens vor. Welche Selbstverhältnisse werden in der Männergesundheitsförderung propagiert, welches Geschlechterwissen wird (re)produziert? Und wie sind diese miteinander verknüpft? Diesen zentralen Fragestellungen widmet sich der Autor in seinem Buch. Er zeigt dabei, dass sich die derzeitigen Strategien zwischen zwei Polen bewegen: Geschlechterrollen werden flexibilisiert wie auch rigide festgeschrieben.
Um das Spezifische der Männergesundheitsförderung zu verdeutlichen, verortet Scheele das Konzept zunächst in den Gesundheitswissenschaften sowie in der gesundheitsbezogenen Kritik sozialer Bewegungen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Männergesundheitsförderung ist ein umfassender Gesundheitsbegriff, der mehr umfasst als die Abwesenheit von Krankheit. In der – mit der Ottawa-Charta von 1986 institutionalisierten – Gesundheitsförderung „wird der weite Begriff der Gesundheitswissenschaften praktisch, indem Forderungen nach Selbstbestimmungen aus Neuen Sozialen Bewegungen aufgegriffen werden“ (S. 32). Scheele zeigt, dass neben der Betonung sozialer Faktoren und Verhältnisse gerade die Entdeckung individueller Faktoren für die Gesundheitsförderung elementar ist.
Da die geschlechtsspezifische Konkretisierung der Gesundheitsförderung nicht im Hinblick auf Männer begonnen hat, geht der Autor auf die unterschiedlichen Wurzeln ein. Dazu zählt er insbesondere die Frauengesundheitsbewegung und -forschung sowie ihre Institutionalisierung und Erweiterung im Zuge der Umsetzung von Gender Mainstreaming im Gesundheitsbereich, außerdem die aus der Schwulenbewegung entwickelte HIV-Prävention sowie nicht zuletzt die Männerbewegung und -forschung.
Er zeigt auf, dass diese Gesundheitsbewegungen sich meist gegen Repression und Medikalisierung wenden und eine Befreiung der Subjekte durch Selbstbestimmung anstreben. Diese Perspektive, kritisiert Scheele, könne jedoch die neue Qualität neoliberaler Gesundheitspolitik theoretisch nicht fassen. Denn diese setze gerade auf eine zunehmende Selbstverantwortlichkeit der Menschen für ihren Körper. Einen Ausweg aus dieser theoretischen Schwäche sieht er in Foucaults Konzept der Gouvernementalität.
Scheele bezieht sich in seinen Überlegungen auf eine Theorie der Subjektivität, die Selbstverhältnisse, also die Verhältnisse eines Subjektes zu sich selbst, als historisch spezifisch und veränderbar begreift. Mit dem theoretischen Konzept der Gouvernementalität können Selbstverhältnisse als Element neoliberaler Regierung verstanden werden. Regierung ist dabei nicht im üblichen, institutionalisierten Sinne zu verstehen. Vielmehr werden staatliche Ziele – wie etwa Gesundheitsvorsorge – in die Eigenverantwortung der Subjekte verlagert. Diese sollen die gewünschten Ziele aus sich selbst heraus verfolgen. „Neoliberale Regierung funktioniert nicht über die Unterdrückung individueller Freiheit, sondern ist gerade auf sie angewiesen“ (S. 76).
Um „die in der Männergesundheitsförderung geförderten sowie geforderten Selbstverhältnisse“ (S. 55) zu untersuchen, verknüpft der Autor diesen Ansatz mit sozialkonstruktivistischer Geschlechtertheorie. Er stellt dabei heraus, dass vergeschlechtlichte Körper nicht die Voraussetzung einer Analyse der Selbstverhältnisse, sondern deren Ergebnis sind und dass Gouvernementalitätsstudien nicht ohne Geschlechterperspektive auskommen.
Vor diesem theoretischen Hintergrund führt Scheele eine Diskursanalyse der Männergesundheitsförderung durch. Er verwendet dabei einen Begriff der Diskursanalyse, der diese nicht als Methode im engeren Sinne versteht, sondern als eine Perspektive der Problematisierung, die sich einer Operationalisierung widersetzt. Grundlage seiner Untersuchung sind Materialien, vorwiegend aus Wissenschaft, Politik und Verwaltung, aus den Massenmedien und der Wirtschaft, die seit der Herausbildung des Diskurses über Männergesundheitsförderung in den 1990er Jahren entstanden sind. Er stellt Regelmäßigkeiten in den Texten fest und arbeitet daraus zwei Achsen und deren Verknüpfungen heraus, um die der Diskurs strukturiert ist: Die erste Achse sind die bereits angesprochenen Selbstverhältnisse. Scheele zeigt, wie in der Männergesundheitsförderung die Subjekte gefordert werden, ein Selbstverhältnis der permanenten gesundheitlichen Optimierung zu entwickeln. Als zweite Achse stellt er das Geschlechterwissen heraus. Dabei geht es ihm weniger um das individuelle, biographisch angeeignete, als um das kollektive gesellschaftliche Geschlechterwissen. Auf dieser Achse wird, so Scheele, „Männlichkeit über Elemente konstruiert, die Hindernisse für die Gesundheitsförderung darstellen, wie Risikofreude und die Orientierung an Leistung und Autonomie. Gleichzeitig greift der Diskurs eben diese Elemente auf, und knüpft, um die Zielgruppe zu erreichen, an deren Geschlechterwissen an“ (S. 110).
Er beschreibt zwei Wege, mit dem Dilemma des dezentrierten männlichen Subjektes umzugehen: „auf der einen Seite intensivierte normalistische Selbstverhältnisse, während das Geschlechterwissen flexibilisiert wird; auf der anderen Seite wird der Veränderung der Selbstverhältnisse ein Riegel vorgeschoben in Form einer rigiden Festschreibung des Geschlechterwissens“ (S.111).
Sebastian Scheeles Anliegen ist es, mit seinem Buch „ein Bewusstsein der Widersprüche und Effekte der Männergesundheitsförderung zu schaffen um letztlich zu einem klareren Verständnis ihrer Möglichkeiten und Gefahren zu kommen“ (S. 111). Die theoretische Herausarbeitung der Verknüpfung neoliberaler Regierungsformen und geschlechtsspezifischer Gesundheitsförderungsstrategien, die er leistet, ist nicht nur ein spannender und innovativer Beitrag zur aktuellen Geschlechterforschung. Auch wenn er kein Handbuch vorlegt: Für Organisationen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, sind seine Anregungen für eine männergesundheitsfördernde Praxis wegweisend und herausfordernd zugleich. Denn auf essentialisierende und stereotypisierende Männlichkeitskonstruktionen sollte auch dann verzichtet werden, wenn sie „vermeintlich niedrig schwelligen Zielgruppenzugang versprechen. Sie versperren gleichzeitig Zugänge zu all denjenigen, die sich von diesem Geschlechterwissen nicht repräsentiert fühlen, produzieren Ausschlüsse und zementieren Geschlechterverhältnisse“ (S. 113). Handlungsmöglichkeiten sieht Scheele dennoch, denn die Regierungstechniken brächten eine neue Form des Selbstbezugs als Fähigkeit hervor, was Widerstandspotential gegen die Regierungstechniken biete. Auch die Männergesundheitsförderung schaffe die Freiheit, mit den Vorschlägen zur Selbstführung im Sinne eines guten Lebens zu experimentieren und sich gleichzeitig den neoliberalen Optimierungsanforderungen zu entziehen. Am Ende liefert Scheeles lesenswertes Buch damit nicht nur spannende neue Ideen und Erkenntnisse – es macht auch neugierig auf diese Experimente.
URN urn:nbn:de:0114-qn121144
Jutta Kühl
Politikwissenschaftlerin
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