Geschlechterbezogene Erkenntnisse zur Politik des Wohnens

Rezension von Ortrun Brand

Darja Reuschke (Hg.):

Wohnen und Gender.

Theoretische, politische, soziale und räumliche Aspekte.

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010.

303 Seiten, ISBN 978-3-531-15910-2, € 39,95

Abstract: Eine Vielfalt an theoretischen und empirischen Erkenntnissen zum Themenkomplex ‚Wohnen und Geschlechterverhältnisse‘ liefert der Sammelband von Darja Reuschke, der zur Verabschiedung von Ruth Becker zusammengestellt wurde. Als Autorinnen sind unter anderen einige grandes dames der feministischen und genderorientierten Raumforschung versammelt. In vier Teilen und 14 Artikeln werden sowohl Theorien als auch Politiken, unterschiedliche Lebenslagen, soziale Gruppen und Wohnstandorte sowie Mobilität betrachtet. Insbesondere die Beiträge zur Wohnungspolitik werden in dieser Rezension näher untersucht: Diese verfolgt zwar in der Regel integrative und geschlechtergerechte Ziele, bewirkt jedoch oft das genaue Gegenteil.

Was hat das Wohnen als eine der alltäglichsten Praxen der Menschen mit Geschlechterverhältnissen zu tun? Diese Frage steht im Zentrum des Sammelbands von Darja Reuschke, den sie unter Mitarbeit von Beate Kortendiek, Anja Szypulski und Shih-cheng Lien zusammengestellt hat und der der Raumforscherin und langjährigen Leiterin des Netzwerks Frauenforschung NRW Ruth Becker aus Dortmund zu ihrer Emeritierung gewidmet ist.

Theoretische Auseinandersetzung

Die feministische und genderorientierte Perspektive in der Beschäftigung mit Architektur, mit Wohnen und mit räumlichen Beziehungen ist im Kontext der zweiten Frauenbewegung aus dem konkreten Anliegen heraus entstanden, an der lebensweltlichen Situation insbesondere von Frauen etwas zu verändern (vgl. u. a. Dörhöfer, insb. S. 31–37). Es war nicht zuletzt die Gruppe „Frauen, Steine, Erden“, die Anfang der 1980er Jahre eine explizite Auseinandersetzung mit dem Thema initiierte (vgl. Sozialwissenschaftliche Forschung für Frauen e.V. (Hg.): Frauen – Räume – Architektur – Umwelt. Beiträge 4 zur feministischen Theorie und Praxis. München 1980). Diesem Entstehungsmoment feministischer und genderorientierter Raumforschung trägt der Sammelband insofern Rechnung, als seine vier Teile sich nicht nur rein wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzen, sondern explizit auch die politische und damit eine handlungsorientierte Ebene in den Blick nehmen.

Der erste Teil ist den „Theoretischen Annäherungen“ gewidmet. Hier betrachtet zunächst Ulla Terlinden unter dem Titel „Naturalisierung und Ordnung. Theoretische Überlegungen zum Wohnen und zu den Geschlechtern“ das Wohnen als Ausdruck und Instrument symbolischer Herrschaft. Unter Rückgriff auf Bourdieu zeigt sie, wie das Wohnen einerseits naturalisiert bzw. biologisiert und andererseits einer systematischen Ordnung unterworfen wird – eine Ordnung, die der Verräumlichung von Geschlechterverhältnissen dient und die auch heute noch selbst bei vermeintlich enttraditionalisiert lebenden Doppelkarrierepaaren anzutreffen ist (u. a. S. 22). Eine andere Perspektive nimmt Kerstin Dörhöfer ein, die sich in ihrem Beitrag „Ein Dach über dem Kopf? Oder ‚Was ist das Wohnen?‘“ der grundlegenden Frage widmet, wie eine adäquate und nicht androzentrische Definition und Ausgestaltung des Wohnens aussehen könnte. Das Wohnen wurde und wird von der Mainstream-Wissenschaft als Schonraum definiert, was aber im Kontext eines männlichen Ernährermodells nur für die dort lebenden und sich erholenden Männer zutrifft. Die Architektin Dörhöfer zeigt dabei in einem geschichtlichen Abriss der Entwicklung einer architektur- und planungsbezogenen wissenschaftlichen Frauenbewegung, wie diese androzentrischen Normen hinterfragt und – zumindest innerhalb der feministischen Architektur, Stadtentwicklung und -planung – durch ein Plädoyer für die Wahrnehmung des Wohnraums auch als Arbeitsraum ersetzt wurden.

Der zweite Teil des Buches widmet sich der Politik rund um das Wohnen: „Wohnungsbauplanung und Wohnungspolitik in gesellschaftlichen Kontexten“ stehen im Mittelpunkt. Eine intensivere Würdigung der Inhalte dieses Teils erfolgt in einem eigenen Abschnitt dieser Rezension.

Wohnen in spezifischen Lebenslagen

Der dritte Teil nimmt unter der Überschrift „Wohnbiografien, Lebensform und Lebenslagen“ unterschiedliche Wohnformen und ihren Zusammenhang zu konkreten Lebensumständen in den Blick, mit Schwerpunkt entweder auf bestimmte Wohnweisen oder aber auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen und deren Wohn- und Lebensumstände: Annette Harth untersucht in ihrem Beitrag „Frauen Wende(n) Wohnen. Zur Wohnweise ostdeutscher Frauen im Transformationsprozess“ die Veränderungen, die sich für diese spezifische Gruppe von Frauen durch die Systemtransformation ergeben haben. Viele Aussagen ähneln denen des Artikels von Marlies Schulz im selben Band, fokussierend zeigt Harth aber auf, wie sich insbesondere in den Jahren der ersten Transformation von 1989 bis 1994 das Wohnverhalten und der Wohnmarkt auf dem Gebiet der neuen Bundesländer insbesondere für Frauen verändert hat. Interessant ist u. a. die Darstellung und gender-kritische Kommentierung von Wohngrundrissen aus DDR-Zeiten (S. 139). Gabriele Sturm widmet sich der Wohnform des Alleine-Lebens: „Alleine wohnen – empirische Befunde zu einer weit verbreiteten Lebensform“, ein Beitrag, der insbesondere durch die kritische Würdigung der quantitativen Ergebnisse der Bevölkerungsumfrage des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung und das umsichtige Aufzeigen unterschiedlicher Interpretationsalternativen (z. B. S. 160, S. 164, S. 170) überzeugt. Im nachfolgenden Aufsatz von Peteke Feijten und Clara H. Mulder steht der Effekt von Scheidung bzw. Trennung auf die Wohnsituation im Zentrum; die präsentierten quantitativen Daten beziehen sich dabei auf die Niederlande („Gender, divorce and housing – a life course perspective“) und zeigen, dass Geschlechterunterschiede bei dem Effekt einer Scheidung oder Trennung auf Männer und Frauen zeitabhängig sind, sich eine Trennung vor allem langfristig schlechter für Frauen auf ihre Wohnsituation auswirkt (u. a. S. 186 und 188 f.)

Uta Enders-Drägässer und Brigitte Sellach beleuchten obdachlose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Frauen auf Basis einer qualitativen Studie und unter Zuhilfenahme des Lebenslagenansatzes, den sie allerdings aus Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung um einige begründete Aspekte erweitern („Lebenslagen von Frauen und Wohnungsnotfallproblematik“). Sie zeigen auf, dass die Situation dieser Frauen sowohl im Hinblick auf Ursächlichkeit wie auch im Hinblick auf Handlungsspielräume differenziert betrachtet werden muss. Viktoria Waltz liefert in ihrem Beitrag, in dem sie den Fokus auf die soziale Gruppe älterer Migrant/-innen setzt, einen umfänglichen Überblick über deren gesamte Lebenssituation („Ältere Migranten und Migrantinnen – Wo wohnen sie, wie leben sie, wie wünschen sie sich ihr Leben im Alter?“). Auf Basis einer qualitativen Studie betrachtet sie zudem die gesonderte Situation älterer, alleinstehender Migrantinnen, von denen die Mehrheit in Mietwohnungen lebt, deren Wohneigentum, wenn vorhanden, sehr renovierungsbedürftig ist und deren Wohnverhältnisse in Mehrgenerationenhaushalten beengt sind (S. 228). Leider werden in diesem Beitrag unterschiedliche forschungsleitende Fragestellungen formuliert (S. 217), außerdem werden nicht nur Daten unvollständig dargestellt – siehe etwa die Tabellen auf S. 225 f., bei denen die Benennung der absoluten Zahlen und der Grundgesamtheiten fehlt –, es wird auch eine insgesamt schwierige Datenlage zu einer spezifischen Gruppe nicht ausreichend hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Belastbarkeit gewürdigt. Zudem werden Belege wie etwa Internetseiten unkorrekt – ohne Angabe des URL und des Aufrufdatums – zitiert.

Der vierte Teil des Buches widmet sich unter dem Titel „Wohnstandort, räumliche Mobilität und Multilokalität“ vorrangig der Mobilität und damit verbundenen, teilweise wechselnden Wohnstandorten. Die beiden britischen Forscher/-innen Irene Hardill und Dan Wheatley richten dabei ihr Interesse auf Paare, bei denen beide erwerbstätig sind („Dual Career Couples, Gender and Migration“) und zeigen anhand zweier Studien zur Region East Midlands in Großbritannien, dass es in diesen Haushalten trotz deutlich gestiegener Arbeitsmarktpartizipation der Frauen nach wie vor häufiger die beruflichen Entwicklungen der Männer sind, die priorisiert werden, die also weitgehend bedingen, wo das Paar lebt, und die Frauen zu trailing spouses werden lassen. Darja Reuschke, gleichzeitig Herausgeberin des Sammelbandes, beschäftigt sich mit dem Phänomen von Multilokalität („Residing at multiple locations for job reasons; dwelling conditions, housing needs, and residential location of men and women in a multilocational way of life“). Am Beispiel von München, Stuttgart, Berlin und Düsseldorf zeigt sie mit quantitativen eigenen Daten, dass es mehr als doppelt so viele Männer wie Frauen sind, die in einer Partnerschaft mit Kindern zwischen zwei Wohnungen pendeln. In Abgrenzung zu der Vermutung, multilokale Partnerschaften seien Ausdruck modernisierter Verhältnisse, belegt Reuschke, dass gerade der Erstwohnsitz solcher Pendler zum überwiegenden Teil aus einem Einfamilienhaus in Eigentum besteht (S. 268). Antje Flade betrachtet abschließend den Komplex „Wohnen, Mobilität und Geschlecht“ aus einer umweltpsychologischen Perspektive und berichtet dabei über Ergebnisse einer eigenen quantitativen Studie zur Alltagsmobilität von Männern und Frauen in vor allem großstädtischen Regionen. Der Beitrag irritiert jedoch insofern, als aktuelle Erkenntnisse der Queer-Forschung nicht einbezogen werden, sondern stattdessen darauf verwiesen wird, dass „bereits Kleinkinder erkennen, dass es zwei Geschlechter gibt und dass sie selbst entweder weiblich oder männlich sind“ (S. 286). Dieser Eindruck der Reproduktion dichotomer, essentialisierender Zweigeschlechtlichkeit durchzieht den gesamten Beitrag und wird erst im abschließenden Resümee etwas aufgelöst (S. 297); auch die Diagnosen und vor allem Bewertungen zur Raumkompetenz und zum Mobilitätsverhalten von Mädchen und Jungen erscheinen nicht ganz auf der Höhe der Zeit und referieren implizit geschlechterstereotype Bewertungen, wie die kritische Relektüre der Raumsoziologin Martina Löw zu solchen Ergebnissen zeigt (Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 91ff. und insb. S. 248–254). Zudem fehlen hier ebenso bei den Tabellen die Angaben zu den Grundgesamtheiten, zu Signifikanztests und -niveaus und zur Anzahl der Freiheitsgrade.

Wohnpolitik und Geschlechterverhältnisse – was wird wie und wohin gesteuert?

Das Spezifikum des zweiten Abschnitts des Sammelbandes ist der Fokus auf die politische Gestaltung des Wohnens. Politiken des Wohnungsbaus und der Stadtplanung gerieten schon zu Beginn der feministischen Auseinandersetzung mit der Wohngestaltung in den Blick. Die grundsätzlich androzentrische Gestaltung und Prägung des Wohnens und des Wohnungsmarktes vorausgesetzt, steht hier die Frage im Zentrum, ob und inwiefern die Hierarchie und Ordnung des Wohnens, wie etwa in dem Beitrag von Terlinden aufgezeigt, auch staatlicherseits gesteuert wird. In einer international vergleichenden Perspektive werden daher die nationalen (Wohnungs-)Politiken in Israel, Japan, Frankreich und in der ehemaligen DDR betrachtet.

Anhand einer palästinensischen Eigenheimsiedlung im nördlichen Israel zeigen Iris Levin and Rachel Kallus („Residential Experiences and Identity of Women in Givat Faradis“), dass die Städtebaupolitik des Staates Israel für die dort lebenden Frauen einen doppelten Effekt hat: Sie ermöglicht durch eine hybride, von den strengen staatlich-westlichen Vorgaben abweichende Architektur einerseits eine Referenz an die palästinensische Herkunft und andererseits nach Wahrnehmung der interviewten Frauen eine teilweise Integration in jüdische Kultur. Zwar erleichtere die Anlage der Siedlung einiges für die Frauen (S. 62), reiche jedoch nicht aus, um grundlegend patriarchale und patrilokale Strukturen der palästinensischen Gesellschaft aufzubrechen; zudem fessele die westlich-suburbane Struktur der Siedlung die Frauen erneut in einer häuslich definierten Geschlechterrolle (S. 64 ff.). Eine – zumindest aus israelischer Sicht – ‚gut gemeinte‘ Siedlungsbaupolitik präsentiert sich hier als hochgradig ambivalent hinsichtlich ihres Effekts für die dort lebenden Frauen und zeigt zudem, dass auch strenge staatliche Planungsvorgaben stets durch die Realität und die bauenden Akteure unterlaufen wird bzw. werden kann.

In Japan wurde der Wohnungsmarkt liberalisiert und privatisiert, indem u. a. die staatliche Behörde Government Housing Loan Corporation 2007 abgeschafft wurde, eine Einrichtung, die ab den frühen 1950er Jahren intensiv Wohneigentum für die Mittelschicht durch zinsgünstige Kredite für Paar-Haushalte und Familien gefördert hat (S. 75 f.). Die Autorinnen Misa Izuhara und Yosuke Hirayama („Women and Housing in Japan“) belegen eindrücklich mit eigenen quantitativen Daten von 2004, dass die Frage, ob eine Frau auf dem japanischen Wohnungsmarkt Wohneigentum besitzt oder nicht, in hohem Maße abhängig ist von ihrem Familienstand, d. h. ob sie ledig oder verheiratet ist (insb. S. 77). Zudem ist sie, wenn sie in Eigentum wohnt, zumeist gerade nicht Miteigentümerin, sondern Haus oder Wohnung gehören dem Ehemann (S. 78).

Für die französischen Vorstädte unternimmt Christine Bauhardt („Wohnungsbau und Stadtentwicklung in Frankreich – Eine intersektionale Analyse stadträumlicher Segregation“) den Versuch, aus intersektionaler Perspektive ein „entdramatisiertes Bild“ (S. 90) des Alltags in diesen Bezirken zu zeichnen; sie fragt danach, ob dort ethnisch stigmatisierte Gruppen konzentriert und exkludiert werden sowie welche Rolle dabei Geschlechterverhältnisse spielen (S. 89). Die Entwicklung dieser Quartiere zu marginalisierten sei durch eine „wechselseitige Verstärkung von Rahmenbedingungen der Wohnungspolitik und der ökonomischen Krise einerseits und den sozialen Distinktionsbestrebungen der weißen Mittelschicht andererseits“ (S. 109) zu erklären; sowohl Klasse wie auch Ethnizität und Gender durchzögen diese Politik und produzierten je spezifische Ein- und Ausschlüsse (S. 111). So seien von Anfang an ethnisch differenzierte Teile innerhalb der Viertel des sozialen Wohnungsbaus entstanden, auch wenn dies nicht durch offizielle Quellen belegt werden kann (S. 108 f.). Die politische Absicht und Utopie, mit solchen staatlich gebauten Vierteln soziale Angleichung und Mischung zu fördern, wurde von Anfang an durch eine unpassende und de facto ethnisch segregierende Zuweisungspraxis durch Verwaltungsakteure der unteren Ebenen unterlaufen; dies kulminiert aktuell in der nun expliziten ethnischen Konnotation der ‚Problemviertel‘ mit den ‚Vorstadtriots‘. Die Programme der politique de la ville ab den 1980er Jahren haben dabei, ebenfalls trotz anderslautender Ziele, die Zuweisungen von Männern und Frauen resp. Mädchen und Jungen in getrennte Sphären sogar noch verstärkt (S. 111).

In ihrem Beitrag „Wohnen und Fertilitätsverhalten in der DDR“ analysiert die Geographin Marlies Schulz Einflüsse der Politik auf das Wohnen in der DDR. Wohnungspolitik als ein zentrales Standbein der Sozialpolitik sei einerseits auf die Angleichung sozialer Verhältnisse ausgerichtet gewesen, habe starke urbane Konzentrationsprozesse und Bevölkerungsbewegungen bewirkt und andererseits indirekt zentrale Anreize für frühe Elternschaft und insbesondere Mutterschaft gesetzt, weil dies die Zuweisung einer eigenen Wohnung beschleunigte (insb. S. 123–127). Anders als in den Beispielen aus Frankreich und Israel wurde auf Geschlechterebene damit eine starke Wirkung hinsichtlich der Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen bei gleichzeitiger Realisierung von (früher) Mutterschaft erzielt: Diese Politik sorgte dafür, dass junge Familien vom Land in gezielt geförderte Städte und Industriestandorte zogen, sie sorgte ebenfalls für frühe Elternschaft und damit die ‚Produktion‘ von neuen Arbeitskräften. Andererseits zeige sich hier die Machtlosigkeit der Politik hinsichtlich der Förderung einer höheren Fertilitätsrate: Letzteres – und dies auch ein Beispiel für die Wirkmächtigkeit materieller Räume – sei u. a. dadurch verhindert worden, dass das staatliche Wohnungsbauprogramm der DDR relativ kleine Wohnungen konzipierte und dass dementsprechend „die Familien ihre gewünschte Kinderzahl reduzierten“ (S. 125).

Welches Fazit lässt sich aus diesen Beispielen unterschiedlicher nationaler Wohn(ungsbau)politiken ziehen? Es deutet sich hier m. E. an, dass diese Politiken zwar grundsätzlich androzentrisch geprägt waren und sind, aber oft hehre Ziele von mehr Integration und sozialer Angleichung verfolg(t)en, die jedoch in der Umsetzung und eigensinnigen Praxis oft das genaue Gegenteil und zumeist gleichzeitig im wahrsten Sinne des Wortes eine neue Zementierung alter Geschlechterhierarchien bewirken bzw. bewirkt haben.

Ein Sammelband mit Forschungsinspiration

Festschriften zeichnen sich in der Regel durch mehr oder minder eher zusammenhanglose Sammlungen relativ beliebiger Texte von ‚Weggefährt/innen‘ aus. Das ist bei diesem Band deutlich anders: Er ist zwar de facto eine solche Widmung und mithin Festschrift zur Emeritierung von Ruth Becker; die Lektüre der durch hohe empirische Aktualität gekennzeichneten Beiträge und der stets präsente ‚rote Faden‘ im Vierklang von Theorie, Politik, Sozialem und Räumlichen lassen diesen Umstand jedoch schnell vergessen.

Der Vielfalt des gesellschaftlichen Konstrukts ‚Wohnen‘ wird das Buch insofern gerecht, als unterschiedliche Regionen, Wohnformen und Lebenslagen in den Blick genommen werden. Überzeugend wirkt auch die Gesamtgliederung des Bandes etwa durch die Hinzunahme politischer Einflüsse auf ‚das‘ Wohnen; allerdings lässt die Lektüre der einzelnen Beiträge die Frage aufkommen, ob der eine oder andere Beitrag nicht auch in einen anderen Teil hineingepasst hätte, so etwa die ausführliche Darstellung der DDR-Politiken im Beitrag von Harth.

Der insgesamt positive Eindruck wird leicht geschmälert durch die unterdurchschnittliche wissenschaftliche Qualität in zwei Beiträgen. Abgesehen davon präsentiert Reuschke mit diesem Sammelband aber eine aufschlussreiche Bandbreite an Forschungsergebnissen. Damit eignet er sich für die Forschung oder für fortgeschrittene Studierende, da hier wesentliche Impulse und theoretische Ansätze für die Vielfalt von Wohnformen bei gleichzeitig persistierender Geschlechterordnung und -hierarchie geliefert werden; der Sammelband regt dazu an, diese Forschungsansätze weiter auszubauen, und zeugt zudem von der Vielfalt der möglichen Datenquellen. Der Nutzen für die Geschlechterforschung kann damit unter anderem darin liegen, dass zahlreiche empirische Erkenntnisse zu Unterschieden und Persistenzen bei verschiedenen sozialen (Genus-)Gruppen zusammengetragen wurden und mithin die derzeit stark diskutierte intersektionale Perspektive in der Geschlechterforschung hier einige Impulse zu materiellen (Wohn-)Unterschieden gewinnen könnte.

URN urn:nbn:de:0114-qn121182

Ortrun Brand

Philipps-Universität Marburg

Politikwissenschaftlerin; derzeit Doktorandin im interdisziplinären Graduiertenkolleg „Geschlechterverhältnisse im Spannungsfeld von Arbeit, Organisation und Demokratie“

Homepage: http://www.uni-marburg.de/fb03/genderkolleg/stips/brand

E-Mail: ortrun.brand@staff.uni-marburg.de

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