Sabine Strasser, Elisabeth Holzleithner (Hg.):
Multikulturalismus queer gelesen.
Zwangsheirat und gleichgeschlechtliche Ehe in pluralen Gesellschaften.
Frankfurt am Main u.a.: Campus Verlag 2010.
370 Seiten, ISBN 978-3-593-39172-4, € 32,90
Abstract: Dieser Sammelband ist so kühn wie notwendig. Er bietet empirische und theoretische, wissenschaftliche und politische Grundlagen, um in den Debatten über Multikulturalismus und Frauenunterdrückung, Parallelgesellschaften und sexuelle Autonomie eine eigene Position entwickeln zu können. Schon der Zugang überrascht: Nicht nur der Mangel an sexueller Autonomie, der in Zwangsehen zum Ausdruck kommt, steht im Fokus, sondern zugleich wird nach deren Bedingungen in der Mehrheitsgesellschaft, konkret der Anerkennung homosexueller Partnerschaften, gefragt. In Beiträgen aus Großbritannien, Österreich und der Türkei wird Licht auch in versteckte Ecken der Debatten geworfen und – ohne unklar oder unangemessen detailverliebt zu werden – beherzt den zutage tretenden Verschränkungen, Verwicklungen und sogar Widersprüchen begegnet.
Gewalt gegen Frauen oder sexuelle Minderheiten, die als ‚traditionsbedingte‘ oder ‚kulturell legitimierte Gewalt‘ exklusiv ethnisch minorisierten Gruppen zugeschrieben wird, lässt Konzepte von Multikulturalismus zunehmend fragwürdig werden. Im vorliegenden Sammelband setzen sich die Autor/-innen den Fragen aus, die entstehen, wenn gesellschaftliche Konzepte weder auf Toleranz gegenüber ethnisch minorisierten Gruppen noch auf Geschlechteregalität und sexuelle Autonomie verzichten wollen. Der erste Schritt, um der scheinbar zwingenden Alternativität von Frauenunterdrückung oder Intoleranz zu entgehen, ist der Verzicht auf die Essentialisierung und Normativierung von Kultur (Holzleithner/Strasser, S. 41 f.). Toleranz bedeutet nicht das Gewährenlassen von Gewalt, sondern den Verzicht auf Generalisierungen, die Wahrnehmung von Komplexität, das Infragestellen von Minderheiten und Mehrheiten als stabile Entitäten. Kultur meint dabei diverse Praktiken, Haltungen und Normen, die von Transformationsprozessen durchkreuzt werden (Strasser, S. 350 ff.). Bruchlos können weder die ‚Anderen‘ mit Zwangsehen noch der Mainstream mit sexueller Autonomie identifiziert werden.
Eine der wesentlichen Fragen ist: Woher rührt eigentlich unser (handlungsleitendes) Wissen über Kultur und Geschlechternormen der ‚Anderen‘? Und können wir tatsächlich zutreffend Auskunft geben über ‚unser‘ Normensystem, in das die ‚Anderen‘ sich ‚integrieren‘ sollen? Das Wissen über Zwangsehen als ‚fremde kulturelle Praxis‘ kann medienunterstütztes Alltagswissen, aber auch Expert/-innenwissen sein. Bei anthropologischen Feldstudien in einer österreichischen Kleinstadt mit jahrzehntelanger Migrationsgeschichte (Strasser/Markom, S. 71 ff.) wird deutlich, wie das ‚Wissen‘ über die Sexualnormen der jeweils Anderen und deren Eigenwahrnehmung auseinanderfallen. Die Sexualnormen werden in der ‚türkischen community‘ als weitaus uneinheitlicher und selbstbestimmter erlebt, als die ‚Einheimischen‘ dies annehmen. Umgekehrt präsentiert sich die sexuelle Freizügigkeit der ‚Einheimischen‘ bei näherer Betrachtung als dichtes Netz diffuser, sanktionsbewehrter gesellschaftlicher Erwartungen. Doch auch Expertisen als zunächst vorzuziehende Alternative zu Alltagswissen bieten keine sichere Datengrundlage für politische Entscheidungen. Dies belegt eine Analyse verschiedener Auftragsstudien zu Zwangsehen eindrucksvoll (Schiller, S. 47 ff.). Vorannahmen aus dem Alltagswissen werden übernommen, binäre Prämissen kaum reflektiert, Urheber/-innen von Forderungskatalogen nicht explizit benannt, unzureichende empirische Daten als Basis genommen. Das mangelnde Reflexionsniveau kann dazu führen, dass die gewünschten Maßnahmen vom eigenen Theorieansatz konterkariert werden, so verträgt sich die Forderung nach Teilhabe nicht mit einer neo-assimilationistischen Grundhaltung, wie sie der untersuchten deutschen Studie zugrunde liegt (vgl. Schiller, S. 56).
Kern der Debatten um Zwangsheirat ist die schwierige Abgrenzung von Zwang, Arrangement und Selbstbestimmung (vgl. Strasser/Tuncer/Sungur, S. 202 ff.), Kern der Debatten um Homosexualität und Ehe die Frage nach gleichem Status. Es scheint also um die klassischen Themen Freiheit und Gleichheit zu gehen, die allerdings vielfach miteinander verschränkt sind. Ausgangspunkt aller rechtlichen Aktivitäten ist die Eheschließungsfreiheit als Menschenrecht, die vom Staat – auch mit den gravierenden Mitteln des Strafrechts (vgl. Beclin, S. 150 ff.) – geschützt wird. Bei näherem Hinsehen meint Eheschließungsfreiheit allerdings nur die Freiheit von dem Zwang, eine unerwünschte Ehe schließen zu müssen, nicht die Freiheit, mit einer frei gewählten Person eine Ehe schließen zu können. In den meisten europäischen Staaten steht bspw. gleichgeschlechtlichen Paaren kein der Ehe gleichwertiges Rechtsinstitut zur Absicherung ihrer Partnerschaft zur Verfügung.
Verheiratetsein ist ein privilegierter Status. Dieser bringt nicht nur Anerkennung und Steuererleichterungen, sondern eröffnet durch den sogenannten Ehegattennachzug auch eine der wenigen legalen Zuwanderungsmöglichkeiten nach Europa. Nun werden oft aber gerade jene Personenkreise, die über keine anderen legalen Zuwanderungsmöglichkeiten verfügen, unter Verdacht gestellt, Zwangsehen als Bestandteil ihrer Kultur zu pflegen. Vorgeblich um Zwangsehen zu bekämpfen, werden die Regelungen zum Ehegattennachzug verschärft – und ein restriktives Zuwanderungsrecht kann als Kampf gegen Frauenunterdrückung gefeiert werden (Philipps, S. 187). Dieses Zuwanderungsrecht transportiert dann auch noch die Zuweisungen, auf denen es beruht, von der geschlechteregalitären Mehrheitsgesellschaft hier und der gewaltlegitimierenden ethnischen Minderheit dort.
Die Entscheidung für Zuwanderungskontrolle und gegen die Freiheit zur Eheschließung fällt schließlich dort, wo sogenannte Scheinehen für nichtig erklärt und die Eheschließenden auch strafrechtlich verfolgt werden. Eine Scheinehe soll vorliegen, wenn mindestens eine/r der Eheschließenden die Ehe nur eingeht, um ein (abgeleitetes) Aufenthaltsrecht zu erlangen. Die Freiwilligkeit der Eheschließung bleibt dabei völlig unbeachtet (vgl. Rössl, S. 139). Diese Dynamiken des Schutzes ‚unterdrückter Frauen‘ vor unfreiwilligen Ehen einerseits und des Schutzes der Ehe (als privilegierendes Rechtsinstitut) vor heiratswilligen Zuwander/-innen oder sexuellen Minderheiten andererseits hätten im Buch noch mehr entfaltet werden können. Dies hätte auch den Zusammenhang von Sexualität und Ehe noch einmal schärfer in Frage gestellt; denn dass die Wirksamkeit der Ehe vom regelmäßig vollzogenen Geschlechtsverkehr als ehelicher Pflicht abhinge, bedürfte wohl der Begründung. Eine interessante Form der staatlichen Zwangsvergemeinschaftung sind übrigens die Bedarfsgemeinschaften im Sozialrecht, in denen Menschen gegen ihren ausdrücklichen Willen zu rechtlich relevanten Paaren zusammengefasst werden und so nur die Nachteile einer Ehe erleiden, während sie ihre Vorzüge gar nicht genießen wollen.
Die willkürliche Auswahl, welche Motive für die Wahrnehmung der Eheschließungsfreiheit rechtlich anerkannt sind – ökonomische Anreize im Steuerrecht ja, Streben nach Aufenthaltstitel nein, gemeinsame Kindererziehung nur bei heterosexuellen Paaren – wirft die Frage auf, ob die Ehe überhaupt eine erstrebenswerte Option für bisher weitgehend Ausgeschlossene, bspw. homosexuelle Paare, darstellt. Alexander Sharpe benennt die kritischen Punkte beim Streben nach dem gleichen Status (S. 261 ff.): Die Ehe sei eine Institution unter enger staatlicher Kontrolle, die Inklusion gleichgeschlechtlicher Paare könne zu weiterem Normalisierungsdruck und ungerechtfertigten Privilegien führen, soziale Fragen würden durch statusorientierte Ressourcenverteilung privatisiert und eine tief greifende Veränderung von Sexualität, Sexualnormen und Gesellschaft bleibe vielleicht aus. (Angesichts dieser bedenkenswerten Einwände überrascht die Schärfe der Kritik an queeren Konzepten, denen Elisabeth Holzleithner moralisch aufgeladen Respektlosigkeit vor anderen Lebensentwürfen vorwirft, vgl. S. 317.) Dagegen bricht Nikolaus Benke eine Lanze für die „Hetero/Homo-Ehe“ (S. 223 ff.), indem er Gleichheit und Ressourcenverteilung zu sekundären Topoi erklärt und stattdessen die Frage der Anerkennung umfassender Bindung, also Würde und Freiheit, in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. Von dort aus kann er die Debatte um die gleichgeschlechtliche Partnerschaft in Österreich als kommunitaristischen Diskurs dechiffrieren, der nur nach Nützlichkeit im Sinne von Fortpflanzung fragt und zugleich sexuellen Minderheiten alle reproduktiven Rechte verwehrt.
Hier wird einmal mehr die Stärke des Buches deutlich, konträre Positionen nebeneinander gelten zu lassen, damit die Leser/-innen eigene Positionierungen finden können. Komplexität wird nicht nur abgebildet, sondern zum Leitmotiv der eigenen Forschung und Politik erhoben. So kann mehr Liberalismus gefordert und doch ein liberaler Multikulturalismus abgelehnt, rechtliche Maßnahmen eingeklagt und doch deren kontraproduktive Wirkung analysiert, für und wider die Ehe gestritten, zwischen der Betrachtung von ‚Mehrheiten‘ und ‚Minderheiten‘ souverän gewechselt werden. Diese Herangehensweise hat auch den Vorteil, dass keine Themen ausgespart werden müssen: Der Beitrag zu institutionellen Widerständen und massiver homophober Gewalt als Begleiterscheinung von Transformationsprozessen in der Türkei (Öktem, S. 276 ff.) ruft Betroffenheit und Solidarität hervor, erhebt aber niemals den Anspruch, Antwort auf die Fragen nach der ‚richtigen‘ Anerkennung sexueller Minderheiten zu geben.
Gerade homophobe oder gegen Frauen gerichtete Gewalt soll als Beleg dafür dienen, dass multikulturelle Konzepte ausgedient haben, weil sie solche Gewalt als ‚kulturelle Eigenart‘ tolerieren würden. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, welche Konzepte von Multikulturalismus konkret gemeint sind. Für islamophobe Diskurse und solche, in denen der Begriff der Kultur nur den Begriff der Rasse ersetzt, ist ein essentialisierender Multikulturalismus als leicht auszuschaltender Widerpart attraktiv. Dass ein solcher Multikulturalismus auch aus Sicht der Herausgeberinnen und Autor/-innen keine Überlebenschancen hat, wird bereits zu Beginn des Buches klargestellt (Holzleithner/Strasser, S. 27 ff.). Elisabeth Holzleithner verwirft überdies liberale Konzepte des Multikulturalismus, die ihre Unterstützung für (sexuelle) Minderheiten in ethnisch minorisierten Gruppen auf Exit-Strategien beschränken, ohne deren soziale Kosten oder religiöse Einflüsse innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu thematisieren (S. 305 ff.). Eine Zukunft sieht Sabine Strasser für einen deskriptiven Kulturrelativismus, der Essentialisierung und Normativierung von Kultur vermeidet und damit informierte und respektvolle Einmischungen ermöglicht (S. 350 ff.). Dieses bedenkenswerte Konzept erläutert sie anhand der Möglichkeit kultursensibler Interventionen gegen Zwangsehen und schließt damit gelungen den Bogen des Buches.
Das Vorhaben dieses Sammelbands war anspruchsvoll – und es wurde erstaunlich (und erfreulich) viel bewältigt. Die Komplexität des Themas sexueller Autonomie in pluralen Gesellschaften wird unerschrocken breit entfaltet, ohne dass jemals in politische Paralyse verfallen wird. Neben einer umfassenden Reflexion des Wissens über und des Umgangs mit Zwangsehen einerseits und Homosexualität andererseits bietet das Buch einen Überblick über theoretische Konzepte, politische Strategien und rechtliche und gesellschaftliche Maßnahmen. Da das nur zu oft verlorengeht, sei erwähnt, dass auch die Erscheinungsform des Buches die Leser/-innen erfreuen kann: Layout und Satz sind ansprechend, ein klares Konzept, sorgfältiges Lektorat und durchgängig geschlechtergerechte Sprache unterstützen erhoffte Erkenntnisprozesse. Der doppelspurige Zugang zum Thema schien zunächst gewagt, aber die Lektüre des Buches ist jedenfalls ein Gewinn. Wer es gelesen hat, wird viele Debatten um Multikulturalität und sexuelle Autonomie anders wahrnehmen können und muss auch selbst keine Scheu mehr haben, sich an komplexen Auseinandersetzungen zu beteiligen.
URN urn:nbn:de:0114-qn121131
Jun.-Prof. Dr. Ulrike Lembke
Universität Hamburg
Juniorprofessorin für Öffentliches Recht und Legal Gender Studies an der Fakultät für Rechtswissenschaft
Homepage: http://www.feministisches-studienbuch.de
E-Mail: ulrike.lembke@uni-hamburg.de
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