Vielfältige Räume der Differenz

Rezension von Nina Schuster

Sybille Bauriedl, Michaela Schier, Anke Strüver (Hg.):

Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen.

Erkundungen von Vielfalt und Differenz im spatial turn.

Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2010.

245 Seiten, ISBN 978-3-89691-227-5, € 27,90

Abstract: Dieser Überblick über die aktuelle Forschungslandschaft der geschlechtsbezogenen Raumforschung zeichnet sich durch eine große Vielfalt an Themen, Perspektiven sowie theoretischen und methodischen Zugängen aus. Die Autor/-innen diskutieren die – historisch im Wandel begriffene – Konzeptualisierung von Geschlecht und beziehen diese auf das jeweilige geographische Forschungsgebiet; auch konzeptionelle Überlegungen zum Raumbegriff finden sich in mehreren Beiträgen. Die meisten untersuchen die Ko-Konstitution von Raum und Geschlecht, wobei sie entweder bereits eine intersektionale Perspektive einnehmen oder eine solche für zukünftige Arbeiten befürworten. Dies wird damit begründet, dass der Intersektionalitätsansatz geeignet sei, der Komplexität sozialer Ungleichheiten gerecht zu werden und differente soziale Positionen in der Forschungspraxis wie auch im gesellschaftlichen Miteinander aufzuwerten.

Feministisches Wissen in der Geographie

Ein kurzes Geleitwort der britischen Geographin Doreen Massey in englischer Sprache führt in den Band Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen ein. Dies erscheint umso passender, als Massey seit den 1980er Jahren feministische Perspektiven in die Geographie einbringt; viele der Beiträge des Sammelbandes nehmen auf ihre Arbeiten Bezug. Massey würdigt den vorliegenden Band, indem sie insbesondere auf die komplexen Beziehungen von Geschlecht und Raum hinweist sowie auf die Geringschätzung bzw. Ignoranz, die feministischem Wissen nach wie vor in den meisten Disziplinen, und so auch in der Geographie, entgegengebracht wird.

Die zwölf Beiträge des Bandes stammen allesamt von raumwissenschaftlich und feministisch Forschenden der zweiten Generation. Fast alle Autor/-innen ordnen sich Forschungsfeldern innerhalb der Geographie zu; alle rekurrieren auf interdisziplinäre Perspektiven der Geschlechterforschung. Da der Band nicht in Teilabschnitte unterteilt ist, erscheint er aufgrund der thematischen Vielfalt auf den ersten Blick etwas unübersichtlich. Jedoch: Die Reihenfolge der Beiträge folgt einer gewissen Logik. So werden zunächst die Zusammenhänge von räumlichen Strukturen und Geschlecht in der Forschung zu Siedlungsentwicklungen (Susanne Frank, Claudia Wucherpfennig, Doris Damyanovic/Brigitte Wotha) aufgegriffen, danach geht es um die Themenfelder Migration (Bettina Büchler/Marina Richter), Mobilität/Multilokalität (Michaela Schier) und Arbeit (Anne von Streit), es folgen Beiträge zur Entwicklungsforschung (Sabin Bieri/Dörte Segebart) und zur Klimaforschung (Sybille Bauriedl) sowie zu grundsätzlichen Fragen der Thematisierung des Körpers (Anke Strüver) und der Forschung zu Männlichkeiten (Bettina van Hoven/Peter Hopkins). Mit diesen Themenfeldern decken die Beiträge die wichtigsten Bereiche der aktuellen geschlechtsbezogenen Forschung in den Raumwissenschaften ab. Insbesondere für die Klimaforschung, die Erforschung der Rolle des Körpers in der Geographie und für die Männlichkeitsforschung wird dabei großer Forschungsbedarf konstatiert.

Innovative Perspektiven und Kontexte: Geschlecht und Raum

Exemplarisch möchte ich an dieser Stelle zwei Perspektiven vorstellen, die besonderen Forschungsbedarf verdeutlichen: Sybille Bauriedl analysiert in ihrem Beitrag, inwiefern in der Klimaforschung Geschlecht (neben anderen Kategorien sozialer Ungleichheit) eine Rolle spielen könnte. Sie plädiert für eine sozialwissenschaftliche Perspektive, da die Folgen des Klimawandels nicht ausschließlich durch technologische Veränderungen gebremst werden könnten, welche doch die Logik kapitalistischer Wirtschaftsweise nicht hinterfragen. Um die notwendigen „gesellschaftlichen Innovationen“ (S. 212) voranzutreiben, erachtet sie kritische Perspektiven aus der Geschlechter- bzw. Intersektionalitätsforschung als hilfreich dafür, die sozialen Dimensionen des Klimawandels zu verdeutlichen.

Sabin Bieri und Dörte Segebart ebenso wie Bettina Büchler und Marina Richter denken u. a. über die in der Entwicklungs- bzw. der Migrationsforschung verwendete Raumkonzeption nach. Sie konstatieren, dass der Raumbegriff in diesen Forschungsfeldern entweder schwammig bleibt oder dass überhaupt kein Raumbegriff vorhanden ist. Daher regen sie die Inwertsetzung von Raum und Geschlecht und deren konzeptionelle Verknüpfung an. Dies bedeutet neben einer dekonstruktivistischen Perspektive auf die Konstruktion von Geschlecht in sozialen Praktiken auch ein mehrdimensionales Raumkonzept, das materielle ebenso wie soziale, politische, psychologische, diskursive, symbolische und ökonomische Aspekte einbeziehe.

Dekonstruktion von Geschlecht

In (fast) allen Beiträgen wird ein deutlich dekonstruktivistischer Blick auf Geschlechterverhältnisse und Raumkonstruktion sowie auf ihr Verhältnis eingenommen oder zumindest befürwortet. Dies scheint auf das Anliegen der Herausgeberinnen Sybille Bauriedl, Michaela Schier und Anke Strüver zurückzugehen, die unterschiedlichen Gegenstände des Forschungsfeldes möglichst aus poststrukturalistischer Perspektive zu beleuchten (S. 12). Zugleich verdeutlicht dies die vorherrschende Position dieser Perspektive in aktuellen feministischen Forschungen. In ihrer Einleitung geben die Herausgeberinnen eine kursorische Einführung in die theoretischen Entwicklungen der Geschlechterforschung seit den 1970er Jahren, die allerdings kleine Ungenauigkeiten und Fehleinschätzungen enthält. So ordnen sie beispielsweise das Doing gender, das auf das ethnomethodologische Konzept von West/Zimmerman (Candace West/Don H. Zimmerman: Doing Gender. In: Gender & Society 1 (1987), S. 125-151) zurückgeht, fälschlicherweise den differenztheoretischen Ansätzen zu (S. 16). Ebenfalls ungenau ist die Annahme, dass die Thematisierung von über die Kategorie Geschlecht hinausgehenden Differenzen in den 1990er Jahren begonnen habe – diese begann bereits in den frühen 1980er Jahren (ebd.). Darüber hinausgehend ist zu bemängeln, dass die Herausgeberinnen die Bedeutung des Austauschs mit feministischen Bewegungen für die Theorieentwicklung sowie die Rückwirkungen theoretischer Debatten auf die Praxis unterschätzen bzw. gar nicht würdigen (S. 14 ff.). Diese Lücke mag darauf zurückzuführen sein, dass in der Rezeptionsgeschichte und im Rahmen der Akademisierung feministischer Wissenschaft und Geschlechterforschung in der Geographie wie auch in anderen Disziplinen das Wissen um die enge Verbundenheit von Theorie und Praxis teilweise verlorengegangen ist.

Obwohl in jedem der Aufsätze auf die soziale Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit bzw. Geschlecht hingewiesen wird, können viele der Texte das Problem einer Reifizierung von Zweigeschlechtlichkeit in der Forschungspraxis nicht lösen. Claudia Wucherpfennig thematisiert dieses Problem in ihrem Aufsatz. Sie erläutert am Beispiel des öffentlichen Raums, wie dualisierende Perspektiven auf das raumbezogene Handeln von Mädchen und Jungen in der Debatte um räumliche Sozialisation und Geschlecht dazu beitrügen, „Geschlechterstereotype und -differenzen performativ zu verfestigen“ (S. 58). Dies geschehe, indem Verhaltensformen und Interessen als geschlechtstypisch betrachtet würden, wobei das Verhalten der Jungen meist als Norm angesehen werde, wie im Beispiel des (abwertend betrachteten) eher ortsgebundenen Handelns von Mädchen und des (positiv bewerteten) vergleichsweise expansiven Herumschweifens von Jungen.

Ein Großteil der in diesem Sammelband vorgestellten Forschung fokussiert jedoch die Praktiken von „Frauen“ und „Männern“, z. B. in Bezug auf (zwei-)geschlechtliche Zuschreibungen und Geschlechterbilder, wie in der Mobilitäts- und Arbeitsforschung, der Entwicklungsforschung und den Männlichkeitsstudien. So stellen Doris Damyanovic und Brigitte Wotha aus einer geschlechterdifferenzierenden Perspektive hinsichtlich des ländlichen Raums fest, dass eine Chancengleichheit von Frauen und Männern, insbesondere in Bezug auf Bildung und Arbeit, hier noch nicht erreicht sei. Zwar betonen sie die Beeinflussung der Kategorie Geschlecht durch andere gesellschaftliche Strukturkategorien wie Schicht und Bildungszugang, Lebensphase und Alter sowie Ethnie, verlassen dabei allerdings die zentrale Unterscheidung in „Frauen“ und „Männer“ nicht.

Die hier exemplarisch vorgestellte Problematik verweist meines Erachtens auf eine generelle methodologische Schwierigkeit empirischer Studien im Bereich der Geschlechterforschung. Regine Gildemeister u. a. diskutieren bereits seit Anfang der 1990er Jahre Forschungsansätze, die der Reifizierung von Geschlecht in der Forschungsperspektive besondere Aufmerksamkeit schenken, um sie zu vermeiden (Regine Gildemeister: Geschlechterdifferenz – Geschlechterdifferenzierung: Beispiele und Folgen eines Blickwechsels in der empirischen Geschlechterforschung. In: Sylvia Buchen/Cornelia Helfferich/Maja S. Maier (Hg.): Gender methodologisch. Empirische Forschung in der Informationsgesellschaft vor neuen Herausforderungen. Wiesbaden: VS-Verlag 2004, S. 27-46). Für die hier versammelten Untersuchungen hieße das, eher nach der gegenseitigen (Re-)Konstruktion von Raum und Geschlecht zu fragen und weniger nach den Differenzen zwischen „Frauen“ und „Männern“. Dazu bietet u. a. Anke Strüvers Beitrag konzeptionelle Anregungen. Sie zeigt, wie geschlechtsspezifische Körper und Räume einander in Alltagspraktiken sowohl wechselseitig als auch durch die Machtwirkungen, die in dieses Zusammenspiel eingelassen sind, konstituieren. Am Beispiel von Plakaten von NGOs, die sich in der Entwicklungszusammenarbeit engagieren, verdeutlicht sie, wie die jeweilige Institution geschlechtlich und rassistisch aufgeladene Körperbilder für ihre machtvoll inszenierten politischen Aussagen instrumentalisiert.

Intersektionale Perspektiven

Eine intersektionale Forschungsperspektive erscheint fast allen Autor/-innen des Sammelbands als ideale Konzeption, um Probleme der Homogenisierung von „Frauen“ und „Männern“ zu vermeiden. Als aktuelle Zielvorstellung „guter Forschung“ ist Intersektionalität in diesem Band offensichtlich Programm (S. 19). Einige Beiträge zeigen, dass diese Perspektive bereits zumindest partiell umgesetzt wird. So untersucht Susanne Frank am Beispiel von Suburbanisierungs- und Gentrifizierungsprozessen die gesellschaftlichen Bedeutungen räumlicher Entwicklungen vor dem Hintergrund der Verflechtung schicht- und geschlechtsspezifischer sowie sexualitätsbezogener sozialer Positionierungen. Gentrifizierung erscheint dabei in einem neuen Licht, nämlich als „sozialräumlicher Ausdruck einer allmählichen Aufweichung überkommener Geschlechterrollen“ (S. 38) und als „Katalysator veränderter Lebens- und Partnerschaftsentwürfe“ (S. 39).

Auch die von Bettina Büchler und Marina Richter in ihrem Beitrag zur Migrationsforschung eingenommene Perspektive ist von vornherein intersektional. Sie zeigen am Beispiel von Migrantenvereinen, dass für die soziale Positionierung von Akteur/-innen nicht nur nationale, regionale oder religiöse Aspekte relevant sind, wie in vielen Studien angenommen wird, sondern dass auch Alter und Erfahrungen der Personen sowie Bildungsstatus und sozioökonomische Position eine wichtige Rolle für die Intensität und die Art und Weise des Engagements in einem Verein spielen. Die immer internationaler werdende Umverteilung von Versorgungs- und Hausarbeit, ein weiteres Beispiel, verdeutliche, dass die Komplexität vieler sozialer Prozesse nur aus intersektionaler Perspektive verständlich werde. Büchler und Richter plädieren dafür, kontextbezogen auszuwählen und zu reflektieren, welche Kategorien in ihren gegenseitigen Überlagerungen für die jeweilige Untersuchung in Betracht zu ziehen sind (S. 111).

Kritisch ist hier anzumerken, dass außer Frank und Büchler/Richter die meisten Autor/-innen in ihren Beiträgen die heteronormative Prägung von Geschlecht weitgehend ausblenden und Heterosexualität dementsprechend immanent als Voraussetzung von Geschlecht unterstellen. Doch eine Kritik an der Polarisierung und Stereotypisierung zweier Geschlechter kann erst dadurch stark und grundlegend werden, dass sie um eine Kritik an der gesellschaftlichen Struktur erweitert wird, welche die zweigeschlechtliche Ordnung durchzusetzen hilft. Dies bedeutet, dass die Dekonstruktion von Geschlecht nicht ohne die Benennung und Erforschung von Heteronormativität auskommt – dieser äußerst stabilen Norm, die Zweigeschlechtlichkeit als heterosexuell geprägte so selbstverständlich erscheinen lässt. Eine entsprechend konsequente Dekonstruktion von Geschlecht vor dem Hintergrund heteronormativer Strukturen stellt leider in der gesamten deutschsprachigen Raumforschung bislang noch eine Ausnahme dar. Insgesamt wird deutlich, dass dem Wunsch nach intersektionalen Perspektiven zukünftig weitere forschungspraktische Schritte folgen sollten, um Wege zu entdecken, wie komplexe soziale Ungleichheiten in der raumbezogenen Forschung erfasst werden können.

Fazit

Der Sammelband spiegelt die Aktualität, Bandbreite und Lebendigkeit raum- und geschlechtsbezogener Forschung wider. Während in den meisten Aufsätzen trotz der notwendigen Kürze die Argumente fundiert unterbreitet werden, fällt der Beitrag zur Männlichkeitsforschung im Vergleich zu den anderen qualitativ deutlich ab, da er sprachlich teilweise unklar ist und die Autor/-innen theoretische Debatten oft lediglich ansprechen und aufzählen, ohne Argumente zu diskutieren. Insgesamt verdeutlicht der Band jedoch, inwiefern die hier versammelten Perspektiven in den raumbezogenen Wissenschaften unentbehrlich sind.

Nachdem als Einführung in das Forschungsfeld der feministischen Geographie im Jahr 2005 der Band Stadt Land Gender von Katharina Fleischmann und Ulrike Meyer-Hanschen (Stadt Land Gender. Einführung in Feministische Geographien. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2005) und 2010 das überblicksartig gestaltete Lehrbuch Gender Geographien von Doris Wastl-Walter (Gender Geographien. Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010) erschienen sind, bietet Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen nun einen vertiefenden Einblick in neuere Forschungen und Denkbewegungen feministischer Raumforscher/-innen, also in die vielfältige Forschung zu den Zusammenhängen von Raum und Geschlecht. Dabei wird auch ein erheblicher Forschungsbedarf in den genannten und weiteren aktuellen Themenfeldern aus Perspektiven der Geschlechterforschung ersichtlich. Alle drei Bände verdeutlichen, dass eine lebendige und thematisch breit aufgestellte Forschung die deutschsprachige Geographie zu Geschlecht und Raum ausmacht, die an andere disziplinäre Kontexte anschließt, insbesondere in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Endlich, möchte ich schließen, gibt eine Reihe von Forschenden aus den raumbezogenen Wissenschaften wieder gemeinsam einen mächtigen Wissensschub in den Gesamtstrom des Diskurses ein. Er möge viel Widerhall und viele neue Mitstreitende finden und die Wissensproduktion in der raumbezogenen Geschlechterforschung beflügeln.

URN urn:nbn:de:0114-qn122050

Dr. Nina Schuster

TU Dortmund

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Stadt- und Regionalsoziologie der Fakultät Raumplanung

E-Mail: nina.schuster@tu-dortmund.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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