Mariann Lewinsky (Hg.):
Cento Anni Fa.
Attrici Comiche E Suffragette 1910–1914/Comic Actresses and Suffragettes 1910–1914.
Bologna: Edizioni Cinemateca di Bologna 2010.
DVD und Booklet (54 Seiten), ISBN 978-88-95862-00-2, € 19,90
Abstract: Diese DVD stellt 19 kurze Komödien aus den Jahren 1910 bis 1914 zusammen. Das noch junge Genre der Komödie, so die Kuratorin Mariann Lewinsky, war innerhalb der Filmproduktion das entscheidende Terrain der Auseinandersetzungen um Geschlechterrollen. In den Filmen werden Komikerinnen gezeigt, die mit traditionellen Geschlechterrollen brechen und den Handlungsraum von Frauen erweitern. Ein Kapitel ist den Suffragetten gewidmet, hier findet sich auch dokumentarisches Filmmaterial der Zeit. Im beigefügten Booklet werden die Filme mittels feministischer Theorien zum (Frühen) Kino in die Filmgeschichte eingeordnet, eine Verknüpfung mit den politischen Ereignissen der Zeitgeschichte wird leider nicht vorgenommen.
Um 1900 war in Westeuropa und Nordamerika die Forderung nach einem allgemeinen Frauenwahlrecht nicht mehr zu überhören. In Großbritannien und in den USA kam es gar zu militanten Aktionen. Diese Forderung war eingebettet in Kämpfe um Teilhabe von Frauen an Öffentlichkeit – Kämpfe etwa für das Vereinsrecht oder den Zugang zu Universitäten. Zudem stand die Debatte um das Frauenwahlrecht im Zusammenhang mit weiteren Auseinandersetzungen um das Wahlrecht, das in weiten Teilen der Welt an Familienstand, Besitz und Steuerzahlung gekoppelt war. In der Rechtsprechung zum Wahlrecht verbinden sich somit Gender- und Klassenfragen.
Wie unerhört und radikal die Forderung nach Teilhabe von Frauen an Öffentlichkeit war, zeigt sich in den Stummfilmen der DVD 100 years ago – Comic Actresses and Suffragettes 1910–1914: Treten Frauen aus der Privatsphäre hinaus, hat dies nicht nur Konsequenzen für das Geschlechterverhältnis, sondern auch für die Sichtweise auf Öffentlichkeit und Privatheit – und erschüttert damit einen Grundpfeiler bürgerlichen Selbstverständnisses.
Über zweieinhalb Stunden Filmmaterial ist auf der DVD in insgesamt 19 Filmen zusammengestellt, die in Italien, Frankreich, den USA und in Großbritannien zwischen 1910 und 1914 produziert wurden. Die Filme sind mit Klavierbegleitung unterlegt, die Zwischentitel wahlweise englisch oder italienisch untertitelt, die Mehrheit der Filme ist koloriert. Die DVD lässt sich sowohl im DVD-Player als auch auf dem PC mit den gängigen Programmen abspielen. Sie ist über die Cinemateca di Bologna oder über Buchhandlungen zu beziehen, die mit Auslieferungen italienischer Verlage kooperieren.
Im beigefügten Booklet (54 Seiten, italienisch/englisch) werden die Filme mittels feministischer Theorien des Frühen Kinos in die Filmgeschichte eingeordnet. Die Kuratorin Mariann Lewinsky hat sich entschieden, den Fokus auf die komischen Darstellungen zu legen, und hat nur wenige dokumentarische Filme in die DVD aufgenommen. Sie begründet dies mit dem subversiven Potential des Genres Komödie: „but the truely exciting and burning issues of women’s emancipation were addressed in the comedies: films shook up, played through and dramatised male and female roles in all variants of negative and positive fantasy. Thus under the protective umbrella of comic unreality, films rendered visible possibilities that were still almost inconceivable.“ (S. 29)
In dieser Möglichkeit, etwas nicht Bestehendes, Utopisches sichtbar zu machen, liegt die Radikalität dieser Produktionen. Die DVD ist eingeteilt in vier Kapitel, wovon die ersten drei verschiedenen Aspekten der Komödie gewidmet sind. Im Mittelpunkt des vierten Kapitels „Suffragettes in fact and fiction“ stehen schließlich die Suffragetten.
Die Filme im ersten Kapitel („Out of Control“) zeigen aktive und selbstbewusste Frauen, die sich traditionellen Rollen nicht fügen: Sie gehen aus, treiben Sport, erlauben sich einen Spaß auf Kosten anderer Leute und entwenden dazu auch mal einen Feuerwehrwagen. In „Rosalie et Léontine vont au théâtre“ (F 1911) gehen zwei Angehörige der Unterschicht ins Theater, verhalten sich nicht entsprechend der gültigen Codes und haben – im Gegensatz zu den durch sie empfindliche gestörten anderen Menschen im Publikum – eine gute Zeit. Nicht einmal die Polizei vermag sie davon abzuhalten.
In den Filmen des Kapitels „At work“ misslingt es den Frauen, die ihnen zugedachten häuslichen Aufgaben ordentlich zu erfüllen: Beim übereifrigen Versuch des Dienstmädchens, mit Unterstützung von Freundinnen die Arbeit schneller zu erledigen, um so Zeit mit ihrer Familie zu haben, wird das bürgerliche Haus im Putzeifer verwüstet („Cunnégonde reçoit sa famille“, F 1912). Als Lea stricken muss, obwohl sie lieber lesen will, zerstört sie unabsichtlich das gesamte Heim, als sie sich auf die Suche nach dem Ende des Wollknäuels macht („Lea et il gomitolo“, I 1913).
In den Filmbeispielen im Kapitel „Love is a many splendoured thing“ verweigern Frauen ein unterwürfiges Verhalten in Beziehungen zu Männern; sie entscheiden selbst. Mitunter verbünden sich Dienstmädchen und Dame gegen aufdringliche Männer („A Lady and Her Maid“, USA 1913; „La nuova camariera è troppo bella“, I 1912), oder sie rächen sich für übergriffiges Verhalten („Lea si diverte“, I 1912).
Das Kapitel „Suffragettes in fact and fiction“ schließlich ist explizit den Suffragetten gewidmet. In komischer Verkehrung der männlich bzw. weiblich konnotierten Aufgaben wird die Trennung öffentlich/privat entlang der Geschlechtergrenzen deutlich. In „Les femmes députées“ (F 1912) werden Frauen auf der Straße/im Parlamanet und Männer bei Reproduktionsarbeiten gezeigt. Der Wechsel in die jeweils andere Sphäre wird durch Crossdressing visuell verdeutlicht: Die Ehegatten, die sich um die Kinder kümmern und die Kinderwagen schieben, sind mit dem für Nannys typischen Band am Hut ausgestattet. Das Wechseln von Männern in die private und von Frauen in die öffentliche Sphäre lässt diese Sphären dysfunktional werden; beide kollabieren. Die Diskussionsrunde der anwesenden Frauen gerät außer Kontrolle und endet in einer Prügelei, beim Abwasch zerstört der Mann alle Teller. Erst durch die Amtsniederlegung der Frau und ihre Rückkehr ins häusliche Glück ist die Ordnung wieder hergestellt.
Wesentlich härter geht es im Film „The Pick Pocket“ (USA 1913) zu: Eine bei den Suffragetten engagierte Frau entwendet ihrem Ehemann eine Theaterkarte und etwas Geld, um sich zu amüsieren. Der Ehemann fädelt ein, dass seine Frau beim Betreten des Theaters von der Polizei verhaftet und ins Gefängnis gebracht wird. Er bezahlt die Kaution erst, als seine Frau unterschreibt, sich nicht mehr bei zu den Suffragetten zu engagieren. Die zu Beginn lebensfrohe Frau ist am Ende des Films ein gezähmter Mensch ohne aufrechten Gang und Witz. Eindrücklich verweist dieser Film auf ökonomische Machtverhältnisse und Widerstände im sogenannten Privatleben als einem weiteren umkämpften Terrain.
Die dokumentarischen Filmaufnahmen von Demonstrationen für Frauenwahlrecht (in England, Frankreich und USA) zeigen, wer an ihnen teilnahm, wer die Masse war, die für das Wahlrecht stritt, und geben einen Einblick, wie viele Frauen und Männer verschiedener sozialer Klassen sich daran beteiligten.
Feministische Theorien des (Frühen) Kinos betonen die Kraft der Bilder, sich gegen geschlossene Narrative patriarchaler Geschichtsschreibung zu wenden. Sie identifizieren kritisches Potenzial in den Erfahrungen, die in der Konfrontation mit den Bildern gemacht werden können. Blickt man aus dieser Perspektive auf die Bilder der auf der DVD versammelten Filme, findet man viele widerspenstige Frauendarstellungen, die als Argument gegen eine behauptete natürliche (Geschlechter-)Ordnung dienen können. Den konservativen Enden der Filmhandlungen zum Trotz hatten die weiblichen Charaktere bis dahin eine gute Zeit – und diese Erfahrung kann weder ihnen noch dem Publikum genommen werden.
Auch für diejenigen, die den Optimismus dieser Interpretationen nicht teilen, bieten die Filme viele Anregungen. Das Filmmaterial kann auch für diejenigen, die nicht filmwissenschaftlich arbeiten, nützlich sein: beispielsweise für historische Forschungen zu Geschlechterbildern in Medien oder für Diskussionen strategischer oder normativer Kriterien der Repräsentation von Frauen in visuellen Medien.
Die Kuratorin Lewinsky plädiert für eine Korrektur der Frauengeschichtsschreibung auf der Grundlage des Filmmaterials: „Reflecting a multiplicity of social milieux and diverse, changing images of gender roles, films from around 1910 clearly disprove the conventional wisdom that women before the First World War were unliberated Victorians and that the great era for emancipation of women was the 1920s. In the cinema, at least, that was not the case. […] The actresses were largely responsible for creating their own roles, some […] wrote scripts; others became producers.“ (S. 28)
Leider reißt das Booklet den zeitgeschichtlichen Kontext nur kurz an. Die Möglichkeit, auf der DVD neben den Filmen weiteres Material bereitzustellen, wurde nicht genutzt; die Menüführung ist entsprechend übersichtlich. Trotzdem ist die DVD uneingeschränkt zu empfehlen: Es ist dem Zusammenwirken verschiedener Filmarchive und Lewinsky zu danken, dass diese sonst allenfalls für ein Festivalpublikum zugänglichen Filme als DVD-Edition erschienen sind. Diese Kompilation erleichtert es (nicht nur) der historisch arbeitenden Frauen- und Geschlechterforschung, diese – wie andere Stummfilme – oft aufgrund ihrer populären Form verkannten, visuellen Materialien zu erschließen und zu würdigen.
URN urn:nbn:de:0114-qn122031
Sarah Dellmann
Utrecht University, Niederlande
Research Institute for History and Culture/Media and Performance Studies, Promovendin
Homepage: http://www.uu.nl/hum/nation-and-its-other
E-Mail: s.dellmann@uu.nl
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