Caroline Stern:
Intersexualität.
Geschichte, Medizin und psychosoziale Aspekte.
Marburg: Tectum Wissenschaftsverlag 2010.
120 Seiten, ISBN 978-3-8288-2163-7, € 24,90
Abstract: Caroline Stern veröffentlicht mit ihrer Diplomarbeit zum Thema Intersexualität, die 2004 vermutlich eine der ersten nicht-medizinischen Arbeiten im deutschsprachigen Raum überhaupt war, eine umfassende Darstellung verschiedener Aspekte der Intersexualität. Deutlich wird dabei eine eindeutige parteiliche Position zur Intersex-Bewegung. Die Arbeit muss im Kontext ihres Entstehungszeitpunkts als Grundlagenforschung angesehen werden, und so wird die Darstellung aller die Intersexualität betreffenden gesellschaftlichen Diskurse einer einengenden Fragestellung vorgezogen – zum damaligen Zeitpunkt eine legitime und, im Sinne der Stoßrichtung der Arbeit, notwendige Vorgehensweise. Eine Aktualisierung der Forschungsergebnisse bei der Veröffentlichung 2010 wurde leider nicht vorgenommen, obwohl sich seither auf dem Gebiet der nicht-medizinischen Intersexualitätsforschung Signifikantes bewegt hat.
Caroline Stern stellt mit ihrer Diplomarbeit, die sie 2004 zum Abschluss ihres Sozialarbeit/-pädagogik-Studiums verfasste, wichtige Aspekte im Diskurs um Intersexualität dar. Die Arbeit war zu dem Zeitpunkt im deutschsprachigen Raum eine der ersten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur Intersexualität überhaupt. Die rar gesäte nicht-medizinische Literatur zum Thema war auf die verschiedensten Veröffentlichungen und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen verteilt. Insofern bestand zunächst vor allem Bedarf an Systematisierung des im deutschsprachigen Raum bis dato wenig beachteten Forschungsfeldes, um es der Forschung zugänglich zu machen, so dass es der Autorin – auch im eingeschränkten Rahmen einer Diplomarbeit – nicht möglich war, sich dezidiert mit einem der fünf thematisierten Aspekte (Geschichte, Recht, Medizin, psychosoziale Aspekte und sozialarbeiterische Handlungsmöglichkeiten) auseinanderzusetzen. Sie vermittelte aber einen vielseitigen und reflektierten Einblick in das Thema.
Zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches im Jahr 2010 hat sich sowohl die sozialwissenschaftliche als auch die medizinische Intersexualitätsforschung bedeutend weiterentwickelt. So ist der Veröffentlichungszeitpunkt sechs Jahre nach der Erarbeitung wissenschaftlich betrachtet problematisch. Mit Claudia Langs Dissertation Intersexualität. Leben zwischen den Geschlechtern von 2006 gibt es eine umfassende Erörterung und Einordnung der verschiedenen Diskurse um Intersexualität. Michael Groneberg und Kathrin Zehnder veröffentlichten 2008 den interdisziplinären Sammelband Intersex. Geschlechtsanpassung zum Wohl des Kindes? Erfahrungen und Analysen, in dem aktuelle Standpunkte aus Sozialpädagogik, Geschichte, Recht und Medizin erstmals gemeinsam dargestellt werden. Die Bemerkung Sterns im Vorwort, es habe sich „in der Zwischenzeit […] einiges in Bewegung gesetzt“ (S. 1), verdeutlicht mehr die Distanz der Inhalte vom aktuellen Diskurs, als dass sie sie kompensiert. Durch die Aufnahme einiger inzwischen veröffentlichter Erkenntnisse einerseits und der eigenen kritischen Einordnung andererseits hätte der wissenschaftliche Gewinn der Arbeit in der Gegenwart deutlicher erhalten werden können. So dagegen handelt es sich um ein historisch zu betrachtendes Werk, dessen Inhalte in Teilen bis heute aktuell (Recht, medizinisches Vorgehen, Kritik Intersexueller), in Teilen bereits vom Diskurs überholt sind (Forschungsgruppen zum Thema, Diagnosestellung/Begrifflichkeiten, Entwicklungen durch die Aktivität der Intersex-Bewegung). Stern verwendet zudem im Vorwort das gender gap, in der Arbeit selbst verwendet sie das Binnen-I; hier wäre eine Korrektur der Arbeit hin zur mittlerweile eher gebräuchlichen Verwendung des gap zweckmäßig gewesen.
Intersexualität wird in der Studie als ein soziales Phänomen verstanden, nicht als medizinisch-pathologisiertes. Über einen geschichtlichen Überblick und über die Darstellung der aus der Geschichte begründbaren heutigen medizinischen Behandlung nähert sich Stern der kritischen Perspektive auf den gesellschaftlichen Umgang mit Intersexualität als Un-Normales. Die Autorin analysiert hierfür vier autobiographische Texte Intersexueller und stellt Positionen, Ziele und Forderungen im intersexuellen, medizinkritischen Diskurs vor, um dieser ‚Anamnese‘ kurz, aber reflektiert Ausführungen zu sozialarbeiterischen Handlungsmöglichkeiten folgen zu lassen. Stern sieht in der Sozialarbeit die Möglichkeit, über einen aktiv unterstützenden Umgang mit Intersexuellen gesellschaftliche Akzeptanz für das Thema zu schaffen (vgl. S. 96). Hierfür fordert sie eine offensive Informationspolitik und Sensibilisierung der sozialen Arbeit (etwa durch eine entsprechende Strukturierung der Lehre) und ihrer speziellen Arbeitsbereiche (Kindergärten, Schulen, medizinische und psychologische Einrichtungen). Sie verweist auf die Schwierigkeit, Transgender und Intersexualität zu verbinden, da „beide Themengebiete mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten aufweisen“ (S. 100), und benennt damit abschließend einen weiteren bedeutenden Punkt der Kritik Intersexueller.
Die Auslegungen zur Geschlechtergeschichte sind maßgeblich von Laqueurs Theorie des Ein-Geschlecht- und Zwei-Geschlechter-Modells geprägt. Die Herleitung der These, dass körperliche Zweigeschlechtlichkeit ein kulturelles Konstrukt darstellt, hätte von Butlers auch schon im Jahre 2004 paradigmatischem Theorem gestützt werden können, Stern entscheidet sich jedoch ausschließlich für die Ausführungen Andrea Maihofers. Wünschenswert wäre eine zumindest kurze kritische Betrachtung der Thesen Laqueurs gewesen; bereits die Studie FeMale von Susanne Schröter (2002) weist auf Lücken und Widersprüche seiner Ausführungen hin.
Die Darstellung des medizinischen Umgangs mit Intersexualität und der dort verwendeten Rechtfertigungsargumente sowie die Benennung medizinkritischer Stimmen aus den Reihen intersexueller Aktivist_innen stellen den Hauptteil der Arbeit und sind so repräsentativ für die (Ge-)Wichtigkeit jener Diskurse in der Diskussion um Intersexualität. Gerade die medizinkritischen Positionen erhalten mit der Systematisierung biographischer Schilderungen intersexueller Personen und der Zusammenfassung maßgeblicher Kritikpunkte der Intersex-Bewegung einen Raum. Indem Stern die daraus geschlussfolgerten Auswirkungen auf psychischer und sozialer Ebene für intersexuelle Personen benennt, macht sie die Folgen einer medizinischen Intervention erfahrbar. Sie stellt dem benannten „Vakuum“ (S. 91) der durch die Ärzte verordneten Geheimhaltung umfassende Informationen zum Thema entgegen.
Die einzelnen Kapitel der Arbeit könnten je für sich als Themenkomplexe stehen; dies ist Vor- und Nachteil der Studie zugleich: Einerseits ermöglicht es sich Stern so, breit auf das Thema einzugehen und möglichst viele Blickwinkel darzustellen. Andererseits lässt die Arbeit dadurch an einigen Stellen eine zielführende Argumentation vermissen. Der rote Faden wird aufgrund der thematischen Alleinstellung der einzelnen Kapitel nicht ohne weiteres deutlich. Der_die Leser_in muss sich deshalb den Weg durch das – sehr gut lesbare – Buch selbst erarbeiten. Zwischenergebnissicherungen hätten den_die Leser_in stärker ‚bei der Hand genommen‘ und die Zusammenhänge der einzelnen Kapitel expliziter herausgehoben.
Außerdem wurde für die Arbeit keine fokussierende Fragestellung formuliert, wie auch am Ende kein zusammenfassendes Fazit steht. Ist als Ziel der Arbeit eine generelle Dokumentation des Phänomens zu sehen, rechtfertigt sich diese Art der Darstellung. Für das Jahr 2004 kann ihr ein explorativer Charakter zugeschrieben werden. Die Auswertung biographischer Schilderungen und die Beschreibung der Auswirkungen des medizinischen Umgangs mit Intersexualität ebenso wie erste Überlegungen zum Handlungsbedarf der Sozialarbeit sind Eigenleistung der Autorin. Im Jahr 2010 publiziert, doppeln sich aber einige der Ausführungen mit in der Zwischenzeit erschienenen Veröffentlichungen. Die Überlegungen von Kathrin Zehnder im o. g. Sammelband und der dort beschriebene sozialarbeiterische Ansatz hätten in einer Überarbeitung kurz berücksichtigt bzw. verglichen werden können.
Tenor der Arbeit insgesamt ist eine deutlich parteiliche Position zur medizinkritischen Intersex-Bewegung. Primär ist sie eine umfassende Einführung in das Thema, die die verschiedenen Aspekte der Intersexualität sammelt und bündelt. Sekundär zielen einige der behandelten Aspekte auf die Entwicklung reflektierter Handlungsanweisungen für die Sozialarbeit ab. Die ausführliche Adaption von Texten aus der Intersex-Bewegung und die Analyse biographischer Schilderungen ist bemerkenswert an dieser Arbeit, ebenso die Tatsache, dass mit ihr nun, bedauerlicherweise erst sechs Jahre nach ihrer Durchführung, eine der ersten Systematisierungen der Diskurse um Intersexualität im deutschsprachigen Raum veröffentlicht ist, die insbesondere und auch gegenwärtig noch als eine Einführung in die Themenfelder des Intersexualitätsdiskurses gelesen werden kann.
URN urn:nbn:de:0114-qn122094
Anja Gregor, M.A.
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Studium der Pädagogik, Geschlechterforschung und Philosophie an der Universität Göttingen von 2000 bis 2008. Doktorandin der Doktorand_innenschule Laboratorium Aufklärung seit 2009 (Fachbereich Allgemeine und Theoretische Soziologie). Lehrbeauftragte am Institut für Soziologie seit 2010.
E-Mail: anja.gregor@uni-jena.de
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