Waltraud Ernst (Hg.):
Geschlecht und Innovation.
Gender-Mainstreaming im Techno-Wissenschaftsbetrieb.
Berlin u.a.: LIT Verlag 2010.
243 Seiten, ISBN 978-3-643-10712-1, € 24,90
Abstract: Die Technowissenschaften haben Frauen als potentielle Arbeitskräfte noch immer nicht adäquat erkannt – trotz Fachkräftemangel. In dem von Waltraud Ernst herausgegebenen Sammelband werden die Bemühungen und Strategien für die Herstellung von Chancengleichheit erörtert, mit dem Ziel einer Überwindung von Geschlechterhierarchien in den grundsätzlich innovationsbesetzten Berufsfeldern der Technik- und Naturwissenschaften. Der Band enthält überaus interessante, teilweise einzigartige Einblicke, wie die Zusammenhänge von Technik und Geschlecht in den unterschiedlichen Forschungsbereichen entworfen und diskutiert werden und wie die Verwirklichung von Gleichberechtigung als soziale Innovation angestrebt wird.
Seit vielen Jahren sind Wissenschaft, Wirtschaft und Politik bemüht, Chancengleichheit in den Technik- und Naturwissenschaften herzustellen. Diese Arbeitsfelder sind mit einem hohen Fachkräftemangel konfrontiert, obwohl sie als die Wachstumsbranchen in Deutschland gelten. Mit Blick auf die Unterrepräsentanz von Frauen in den Technowissenschaften werden in den Beiträgen des Sammelbandes innovative Methoden des Gender Mainstreaming und Impulse des Gender- und Diversity-Managements analysiert, die helfen sollen, diesem Trend entgegenzuwirken. Dabei werden die Innovationsfelder der neuen Technologien, der Informatik, Physik, Robotik, Raumplanung und des Produktdesigns unter dem Geschlechteraspekt betrachtet. Ausgehend von der Annahme, dass die Wissenschaftskultur die Eigenart besitzt, stets dazu herauszufordern, neue Wege zur Herstellung von Chancengleichheit zu finden, formuliert die Herausgeberin Waltraud Ernst die zentrale Forschungsfrage: „Warum ist die Verwirklichung von Chancengleichheit – als soziale Innovation – gerade in einem Feld so schwierig, das wissenschaftliche und technologische Innovationen zum Markenzeichen erklärt?“ (S. 9)
Die Diskussion über Maßnahmen und Strategien zum Abbau von Ungleichheit und Stereotypen zwischen den Geschlechtern ist nach wie vor aktuell. Viele Maßnahmen wurden entwickelt und implementiert, wobei eine durchwegs positive Trendwende in den Technowissenschaften noch nicht in großem Maße erkennbar ist. Die Auswirkungen für die Zukunft sind ebenso nicht vorhersehbar. Die Herausgeberin Waltraud Ernst zieht eine Parallele zwischen der nicht prognostizierbaren Entwicklung der Geschlechterverhältnisse und Innovationen, die ebenfalls unvorhersehbare Ereignisse darstellen. Innovationen und Abbau von Diskriminierungen könnten zwar anvisiert werden, dennoch sei eine strategische Planung und gesicherte Zielerreichung unmöglich. Im Hinblick auf diese Gegebenheit bedürfe es im Bereich der politischen Anstrengungen zur Gleichstellung der Geschlechter weitreichender Erneuerungen, die immer wieder und auf dauerhafte Weise hergestellt werden müssten. Dies gilt – laut der Herausgeberin – besonders im Wissenschaftsbetrieb, der einerseits sehr schnelllebig ist, es andererseits aber nicht schafft, alte Geschlechtsstrukturen aufzubrechen und gleiche Chancen zwischen den Geschlechtern hervorzubringen.
Aus den unterschiedlichen Disziplinen der Technowissenschaften, aus denen die insgesamt 13 Artikel im Sammelband stammen, werden im Folgenden drei Beiträge näher betrachtet, in denen sich das Vorhaben – die Verwirklichung der Chancengleichheit als soziale Innovation – deutlich herauskristallisiert. Die Beiträge aus der Informatik, der Raumplanung und zum Hochschulbetrieb vermögen dabei die Vielfalt des Sammelbandes abzubilden.
In dem Aufsatz von Cecile K. M. Crutzen „Informatik, ein Dialog zwischen Sozialwissenschaften und Technologie“ wird deutlich, dass die Informatik nicht als eine rein technische Disziplin zu sehen ist. Durch Denken und alltägliches Handeln sowie durch die Interaktion zwischen den Menschen, die im Produktionsprozess beteiligt sind, hält das Soziale Einzug in die Informatik. Aber: „Obwohl innerhalb der Disziplin Informatik die Anerkennung dieses Dialogs langsam zunimmt und auch teilweise in ihren Methoden und Theorien reflektiert wird, ist dies in den Curricula kaum sichtbar.“ (S. 34) Die Neugier nach dem Sozialen nimmt zwar stetig zu, dennoch wird das Soziale immer noch als fern und fremd angesehen. Der Dialog zwischen dem Technologischen und dem Sozialen wird von Crutzen als ein oppositioneller Dialog ausgeführt. So stellt sie die Verbindung zum Geschlecht her: „Durch die Separation zwischen dem Technologischem und dem Sozialem wird Gender auch implizit als ein oppositioneller Dialog zwischen Weiblich und Männlich dargestellt, weil in der gesellschaftlichen Konstruktion von Bedeutung das Soziale stets noch stark mit dem Handeln von Frauen verbunden ist.“ (S. 35) Die veraltete Zuschreibung Sozial/Weiblich und Macht/Männlich führe zu der geringen Beteiligung von Frauen in der Disziplin Informatik, und diese geringe Beteiligung „ist eine der vielen offensichtlichen Konsequenzen aus der Unterbewertung der Differenziertheit, die das Soziale in die Informatik […] einzubringen hätte.“ (S. 38) Eine mögliche und zugleich innovative Wende sieht die Autorin in der Einbeziehung von Methoden der Soziologie in die Informatik, um diese kritisch und reflexiv gestalten zu können. „Denn aus der Tradition der Informatik ist eine größere Affinität zu den ‚naturwissenschaftlichen‘ Methoden in der Soziologie vorhanden.“ (S. 45) Daraus folgt, „dass diese Soziologie damit ein konservatives Fundament bietet für technologische Innovationen im Allgemeinen.“ (S. 45) Das Curriculum der Informatik sollte nach der Autorin daher reformiert und soziologische Methoden sowie Genderaspekte integriert werden. „Nur das kann Studenten sensibilisieren, das Soziale nicht als selbstverständlich zu akzeptieren.“ (S. 46)
Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt werden in dem Aufsatz von Susanna von Oertzen „Treffpunkt, Bühne, Oase: Aneignungsmuster öffentlicher Stadträume und Geschlecht im europäischen Vergleich“ ausgeführt. Öffentliche Räume werden hier als Orte der Kommunikation, als unverzichtbarer Bestandteil demokratischer Gesellschaften und als Gegenstand stadtsoziologischer Untersuchungen verstanden. Eingegangen wird dabei auf zentrale Fragen wie die Faktoren, welche die Repräsentanz von Frauen in öffentlichen Räumen bedingen, die Relevanz der Qualität des Raumes und die Rolle der planenden und verwaltenden Institutionen. Ziel der Erhebung war es, mit Hilfe der Ergebnisse Planungsempfehlungen für öffentliche Räume zu geben, um das „Entstehen einer lebendigen emanzipatorischen Stadtkultur“ (S. 138) anzuvisieren, mit dem Fokus auf eine feministische Perspektive. „Es wurden Elemente erarbeitet, die eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Mädchen in öffentlichen Räumen gewährleistet und ihnen Möglichkeiten der sozialen Wahrnehmung und Darstellung in der öffentlichen Sphäre eröffnen.“ (S. 138) Dabei wurden fünf Quartiersgärten/-parks in Paris, Barcelona und Berlin untersucht und für die Auswertung gegenübergestellt. Kriterien waren die Aneignung des Raumes und die gleichberechtigte Teilhabe, die soziale Interaktion und Kommunikation sowie die Sicherheit und Konfliktbewältigung. Als zentrale Ergebnisse konnte festgehalten werden, „dass sich im Prozess der Selbstregulation der ‚Stärkere‘ durchsetzt“ (S. 149): Nutzungsoffene Aktionsräume werden für raumgreifende Spiele von Jungen und Männern genutzt, Rückzugsorte für Begegnungen und Kommunikation von Mädchen und Frauen. „Werden die bewegungsaktiven, männlich dominierten Aneignungsformen durch Topographie, Gestaltung und/oder autoritäres Reglement aus dem zentralen Aktivitätsraum verbannt, füllt sich auch der zentrale Raum mit Frauen – und mit Männern, die sonst eher weiblich konnotierte ruhige Aneignungsformen übernehmen.“ (S. 149) Die Frage, ob eine solche erzwungene Raumplanung nötig ist, beantwortet von Oertzen mit überaus interessanten Planungsempfehlungen, welche den Aufsatz in seiner Gesamtdarstellung als innovativen Beitrag in diesem Forschungsbereich auszeichnen. Diese Planungsempfehlungen beruhen zum einen auf Gestaltungsprinzipien, der Regelung und Betreuung in öffentlichen Räumen, zum anderen auf einer Doppelstrategie in der Planung für das weibliche Geschlecht. „Einerseits sind ihre beobachteten Bedürfnisse nach attraktiven Rückzugs-, Begegnungs- und Beobachtungsorten zu berücksichtigen, andererseits sind aber gleichzeitig aktive Formen weiblicher Raumaneignung durch das Schaffen von geschützten Freiräumen und Angeboten zu ermutigen.“ (S. 150)
Martina Schraudner und Katharina Hochfeld thematisieren in ihrem Aufsatz „Sind die Universitäten in Deutschland in der Lage, die Potenziale von Frauen zu nutzen?“ auf der Basis aktueller Zahlen Maßnahmen der Gleichstellungspolitik, präsentieren ausgehend von einer Befragung Ergebnisse von erfolgreichen Forscherinnen und Erfinderinnen und diskutieren abschließend, ob die universitären Strukturen für erfolgreiche Karrieren ausgelegt sind. Die Gesamtzahlen von hochqualifizierten Frauen sind in den vergangenen Jahren bei Promotionen und Habilitationen stetig gestiegen. Dennoch: „Der prozentuale Anteil von Frauen nimmt über die Stufen der zunehmenden Qualifizierung ab.“ (S. 155) Mit gleichstellungspolitischen Maßnahmen – wie z. B. die Gender Action Plans im 6. Rahmenprogramm der Europäischen Union, das Professorinnenprogramm des BMBF, die Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung im Rahmen der Exzellenzinitiative oder die forschungsorientierten Gleichstellungsstandards der Deutschen Forschungsgemeinschaft – „gewann das Thema Chancengleichheit an deutschen Universitäten enorm an Bedeutung“ (S. 156).
Ausgehend von der Studie „Gender Chancen“ zeigen Schraudner und Hochfeld Erfolgsfaktoren der Arbeit von erfolgreichen Frauen auf. „Die Ergebnisse der Studie bestätigen, dass es nach wie vor spezifische Arbeitsweisen und Arbeitsstile von Frauen gibt, die eine bestimmte Gestaltung der Arbeitsbedingungen implizieren, damit Frauen ihr Potenzial angemessen nutzen und einbringen können.“ (S. 158) Neben persönlichen Interessen und Engagement seien unter anderem auch die Übernahme von eigenverantwortlichen Aufgaben, Durchsetzungsfähigkeit, Wertschätzung und positive Rollenvorbilder zentrale Bestandteile einer erfolgreichen Karriere gewesen. Bei dem Vergleich der persönlichen Faktoren, der Strukturen des beruflichen Umfeldes sowie der Rollenbildern in der Gesellschaft mit den Strukturen in der Universität kommen die Autorinnen zu dem Schluss, dass bereits viele Maßnahmen implementiert wurden, die Frauen in der Forschung erfolgreich unterstützen. „Dennoch sind gerade Maßnahmen in der Personalentwicklung, die auf Akzeptanz von unterschiedlichen Perspektiven und Meinungen auch von kleinen Gruppen innerhalb eines Teams hinwirken, neue Ansätze.“ (S. 162) Unter dem Begriff ‚Wertschätzung durch Vielfalt‘ sehen Martina Schraudner und Katharina Hochfeld eine zukunftsorientierte Universität: „[E]ine solche Universität [setzt] Maßnahmen, um im Rahmen einer sozialen Öffnung (widening participation) neue Zielgruppen anzuziehen.“ (S. 162) Das Konzept der sozialen Öffnung verbunden mit einer Wertschätzung durch Vielfalt stellt einen neuen innovativen Ansatz in diesem Forschungsbereich dar.
Waltraud Ernst ermöglicht mit ihrem Sammelband empirischer Arbeiten einen dezidierten Einblick in die Bedingungen der Kategorie Geschlecht als Forschungsperspektive in den Technik- und Naturwissenschaften. Die Symbiose aus der Überwindung von Geschlechterhierarchien und den Möglichkeiten des Gender Mainstreaming in den Technowissenschaften im Wirtschafts- und Hochschulbetrieb beleuchtet ganzheitlich, wie technologische und soziale Innovationen kombiniert werden können. Mit dem Ziel, der Unterrepräsentanz von Frauen in diesem Berufsfeld entgegenzuwirken, liefert die Herausgeberin eine breit gefächerte Auswahl von Studien der unterschiedlichsten Disziplinen mit verschiedenen theoretischen Zugängen, auf denen weitere Anstrengungen der Chancengleichheit und einer Kultur der Ermutigung Fuß fassen können. Mit der Ausführung von Forschungsergebnissen und der Präsentation von Handlungsempfehlungen stellt der Sammelband einerseits eine solide und fruchtbare Grundlage für weiterführende Arbeiten dar, andererseits gewährt er Einblicke in die aktuelle theoretische Debatte.
URN urn:nbn:de:0114-qn122114
Dr. Quirin J. Bauer
Universität Augsburg
Stellvertretender Gleichstellungsbeauftragter
Homepage: http://www.quirin-bauer.de
E-Mail: quirin.bauer@zsb.uni-augsburg.de
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