Geschlechterkonstruktionen bewusst machen

Rezension von Martin Lücke

Anita P. Mörth, Barbara Hey (Hg.):

Geschlecht und Didaktik.

Graz: Leykam Buchverlag 2010.

167 Seiten, ISBN 978-3-7011-0175-7, € 19,90

Abstract: Auf der Basis des Konzeptes von „vielfältigen Lebensweisen“ (Jutta Hartmann) wird in theoretischen und praxisorientierten Einzelbeiträgen der Versuch unternommen, geschlechterspezifische Ansätze einer allgemeinen Didaktik zu entwickeln. Dabei kann der Band in theoretischer Hinsicht durch seine Orientierung an Konzepten von kritischer Gender- und Diversity-Forschung überzeugen. Die praxisorientierten Einzelbeiträge könnten jedoch auf deutlichere Weise einen Transfer von Theorie in Praxis zum Ausdruck bringen.

Ergebnisse der dekonstruktivistischen Geschlechterforschung haben bisher – wenn überhaupt – nur langsam Eingang in didaktische Reflexionen erhalten. In den Fachdidaktiken werden die Anliegen der Gender Studies oft nur halbherzig oder vor dem Hintergrund falsch verstandener Konzepte von Geschlechtergerechtigkeit und Gender Mainstreaming aufgegriffen. In der Didaktik der Geschichte zum Beispiel ist noch oft davon zu hören und zu lesen, dass ein Aufgreifen der Kategorie Geschlecht als geschichtsdidaktische Analysekategorie heißen könne, historisches Wissen geschlechtergerecht zu quotieren, indem Frauen als handelnde Akteurinnen der Vergangenheit in Lernmedien genauso häufig vorkommen wie ihre männlichen Zeitgenossen. Vom kritischen Potenzial der Analysekategorie Geschlecht sind solche Konzepte freilich weit entfernt.

Der Band Geschlecht und Didaktik, herausgegeben von Anita P. Mörth und Barbara Hey und entstanden an der Koordinationsstelle für Geschlechterstudien, Frauenforschung und Frauenförderung der Karl-Franzens-Universität Graz, traut sich – so zumindest der Anspruch – andere Wege zu gehen. Er geht auf einen Workshop zurück, der im Juni 2006 in Graz veranstaltet wurde, und liegt mittlerweile in zweiter Auflage vor. Im Band soll insbesondere solche Unterrichtsforschung und -praxis skizziert werden, „die Geschlecht neu zu denken versucht und dabei Geschlechtergerechtigkeit anstrebt, die bestehende Strukturen aufzubrechen versucht“ (S. 9).

Das Konzept der „vielfältigen Lebensweisen“

Theoretische Grundlage ist das von der Erziehungswissenschaftlerin Jutta Hartmann entworfene und im Buch unter der Überschrift „Differenz, Kritik, Dekonstruktion – Impulse für eine mehrperspektivische Gender-Didaktik“ ausführlich erläuterte Konzept der „vielfältigen Lebensweisen“: Differenz, Kritik und Dekonstruktion (die als Kernbegriffe der Geschlechterforschung hier nicht näher erläutert werden müssen) sollen eine produktive Verbindung eingehen und gleichzeitig die Geschlechter-Didaktik dazu herausfordern, „ihre eigene Beteiligung an der Reproduktion heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit kritisch im Blick zu behalten“ (S. 16). Didaktik wird auf diese Weise nicht lediglich als Instrument hin zu einer gendersensiblen und geschlechterkritischen (utopischen) Lern- und Lebenswirklichkeit angesehen, sondern als systemisch mit der Produktion von machtvollen Geschlechterkonzepten verflochtene Wissenschaft. Dementsprechend stellt der Anspruch einer Selbstreflexivität von Gender-Didaktik, den Jutta Hartmann erhebt, eine zentrale Forderung im Band dar.

Dass in den Einzelbeiträgen des Bandes einem Konzept der „vielfältigen Lebensweisen“ und dem Anspruch von Selbstreflexivität mal mehr und mal weniger explizit nachgegangen wird, liegt in der Natur einer wissenschaftlichen Anthologie begründet. Zumindest bilden die Beiträge in ihrer Zusammenschau ein breites Spektrum didaktischer Themenstellungen ab. Claudia Schneider referiert über good practice und pädagogische Standards bei genderfairen Unterrichtsmaterialien, Heike Schrodt schreibt zu Konzepten von Gender Mainstreaming bei der Förderung von Jungen und Mädchen in Unterrichtsprozessen, Gerald Payer zu einer gendersensiblen Didaktik Bewegung und Sport. Angela Pointner analysiert unter Anwendung des Konzeptes einer „Pädagogik vielfältiger Lebensweisen“ Grundschulbücher „zwischen Vielfalt und Norm(alis)ierung“. Michaela Gindl und Günter Hefler verlassen den Bezugsrahmen von schulischem Unterricht und betrachten gendersensible Didaktik in den Bereichen der universitären Lehre und der Weiterbildung für Erwachsene. Während Anita P. Mörth „Handlungsvorschläge für einen nicht-binären Umgang mit Geschlecht“ vorstellt, legt Gesine Spieß eine Materialsammlung für gendersensible Lehre vor. Anita Thaler befasst sich mit dem Themenkomplex „E-Learning und Gender“, und Barbara Hey präsentiert abschließend einen Leitfaden für eine geschlechtergerechte Curriculumsentwicklung.

Handlungsvorschläge

Bei der – im positiven Sinne – heterogenen Zusammenstellung der Beiträge lohnt sich insbesondere ein intensiverer Blick auf diejenigen Aufsätze, die konkrete Anweisungen für die Praxis geben möchten, kann man daran doch erkennen, ob insbesondere der selbstreflexive Anspruch von Jutta Hartmann, stets auch im Blick zu behalten, dass Didaktik immer auch an der Reproduktion heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit beteiligt ist, eingelöst wird. So nimmt sich Anita P. Mörth vor, „Handlungsvorschläge“ für einen nicht-binären Umgang mit Geschlecht zu präsentieren. Ihre Handlungsvorschläge (die sich im Schwerpunkt auf die Hochschullehre beziehen) sollen sich für „Geschlechter-Dekonstruktion als Prinzip in Unterrichtssituationen“ (S. 61) einsetzen; sie verortet sich auf diese Weise „im Sinne eines dekonstruktivistischen Umgangs mit Geschlecht“ (S. 61). Die Vorschläge, die sie für die Praxis benennt, haben dann aber überwiegend appellativen Charakter. Dass es in der Hochschullehre „eines reflektierten grundlegenden Zugangs zur Welt“ bedarf, dass die „wichtigste Rahmenbedingung darin besteht, ein Klima herzustellen, das Offenheit, Sicherheit und Angenommenwerden bietet,“ und dass auch „alternative Identitätsentwürfe und Subjektpositionen“ (S. 65 ff.) sichtbar gemacht werden müssen, hat sich leider im Mainstream akademischer (und auch schulischer) Lehre bei weitem noch nicht durchgesetzt. Solche Forderungen zum Kern des Beitrags zu machen, erscheint aber als etwas dünn. Auch ihre Vorschläge von Methoden für einen solchen nicht-binären Umgang mit Geschlecht (z. B. Alltagswissen aufgreifen, wissenschaftliche Texte lesen und diskutieren, empirische Forschungen analysieren, intersektionell denken) erscheinen vor dem Hintergrund gegenwärtiger Lehr- und Lernpraxis mehr als berechtigt, bleiben in der Konkretisierung jedoch zu blass.

Gender, Diversity und ökonomisch gedachte Geschlechtergerechtigkeit

Hier zeigt sich ein Dilemma des Bandes: Der theoretische Anspruch des Bandes kann nur sehr vage in Praxisanleitungen transferiert werden. Sobald es hingegen um die Vorstellung ganz konkreter Praxisleitfäden geht, bleibt der theoretische Anspruch eines Konzeptes der „vielfältigen Lebensweisen“ auf der Strecke. Wenn Barbara Hey zum Beispiel einen Leitfaden für eine „geschlechtergerechte Curriculumsentwicklung“ vorschlägt, so lässt zunächst die neoliberale Ökonomierhetorik erstaunen, mit der sie ihren Beitrag beginnt. „Benefits“ von gendergerechten Curricula in institutionalisierter Bildung könnten die „Teilhabe […] an Arbeitsmärkten“ verbessern, die „Wettbewerbsfähigkeit“ einer Wirtschaftsordnung erhöhen und die „Ergebnisqualität in Lehre und Forschung“ (S. 145) steigern. Wenn sie schließlich den Allgemeinplatz verkündet: „Innovation wird durch Diversität gefördert“ (S. 145), wird das Anliegen ihres Beitrags freilich überdeutlich: Nicht Vielfalt und Geschlechtergerechtigkeit als Werte sui generis stehen im Mittelpunkt. Vielmehr versteht sie Diversity (was sie schließlich im Begriffsglossar ihres Beitrags auch explizit ausweist) als Analysegröße der Wirtschafswissenschaften, mit deren Hilfe ökonomische Prozesse z. B. in den Bereichen Arbeitsmarkt und Marketing optimiert werden können. Geradezu grotesk mutet es deshalb an, wenn sie (vor dem Hintergrund der theoretisch elaborierten Ausführungen von Jutta Hartmann zum Konzept von „vielfältigen Lebensweisen“ zu Beginn des Bandes) ausführt: „Diskriminierung verursacht Kosten aufgrund von Fehlzeiten, fehlender Motivation, Reibungsverlusten.“ (S. 161) Dass Didaktik (in diesem Fall ihre Subdisziplin der Curriculumsentwicklung) tatsächlich immer auch an der Reproduktion heterosexueller Zweigeschlechtigkeit beteiligt ist, zeigt Hey, indem sie zum Schluss ihres Beitrags die sogenannte 4-R-Methode vorstellt, mit der „vor allem im EU-Kontext“ Genderaspekte identifiziert werden können. Hier ist selbstredend und ohne jeden dekonstruktivistischen Anspruch von eben jener Binarität Männer/Frauen die Rede: Männer und Frauen sollen in den entsprechenden Organisationen gezählt und in ihrer horizontalen und vertikalen Repräsentation erfasst werden.

Fazit

So bleibt ein sehr gemischter Eindruck zurück: Zielstellungen einer Beschäftigung mit dem Begriffspaar Geschlecht und Didaktik benennt der Band überzeugend und theoretisch abgesichert. Bei der Transferleistung in die Bereiche der Pragmatik und Methodik bleibt das Buch unbefriedigend. Didaktik sollte mehr können.

URN urn:nbn:de:0114-qn122130

Prof. Dr. Martin Lücke

Freie Universität Berlin

Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften; Friedrich-Meinecke-Institut (Geschichte); Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte

Homepage: http://www.martinluecke.de; http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/mitglieder/luecke.html

E-Mail: martin.luecke@fu-berlin.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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