Barbara Becker-Cantarino:
Genderforschung und Germanistik.
Perspektiven von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne.
Berlin: Weidler Buchverlag 2010.
239 Seiten, ISBN 978-3-89693-386-7, € 34,00
Abstract: Die Grundlage der literaturhistorischen Untersuchung bilden literarische und religiöse Texte von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne – Romane, Dramen und Briefe sowie Ego-Dokumente, philosophische Schriften und bildliche Darstellungen. Die Autorin konzentriert sich auf die Rekonstruktion der in den Primärtexten auffindbaren Geschlechterverhältnisse und -rollen und auf die kritische Beleuchtung ihrer Produktions- und Rezeptionsbedingungen in einem grundlegend patriarchalisch strukturierten literarischen Feld. Damit gelingt es ihr, einerseits anschaulich vorzuführen, inwiefern Geschlecht als strukturierende Struktur in literarische und religiöse Texte eingeschrieben ist, und andererseits zu zeigen, welche Lücke aufgrund der Demarkierung weiblicher Autorschaft und weiblichen Schreibens bis heute in der literaturhistorischen Forschung klafft.
„Sollten denn aber geistreiche und talentvolle Frauen nicht auch geist- und talentvolle Freunde erwerben können, denen sie ihre Manuscripte vorlegten, damit alle Unweiblichkeiten ausgelöscht würden […]“, fragt Goethe rhetorisch in einer Rezension im Januar 1802. Und in der Tat, lange schien nichts dagegen, aber viel dafür zu sprechen, dass Literatur und Literaturwissenschaft in machtvoller Einigkeit Weiblichkeit par excellence semantisch kodierten. Bereits 1979 konstatierte Silvia Bovenschen in ihrer bahnbrechenden Studie Die imaginierte Weiblichkeit, dass die „Geschichte der Bilder, der Entwürfe, der metaphorischen Ausstattungen des Weiblichen ebenso materialreich, wie die Geschichte der realen Frauen arm an überlieferten Fakten“ ist (Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 11).
Wie Bovenschen, so setzt sich auch Barbara Becker-Cantarino anhand ausgesuchter Primärliteratur mit den in den Texten vorfindbaren Präfigurationen des Weiblichen und ihren Verschiebungen über die Zeitenwenden hinweg auseinander. Der sehr interessante Primärliteraturkorpus umfasst dabei neben dem bereits auch von Bovenschen in diesem Zusammenhang untersuchten Text von Sophie von La Roche, Das Fräulein von Sternheim, unter anderem die anonym verfasste Historia von D. Johann Fausten, Grimmelshausens Lebensbeschreibungen der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courasche, Eichendorffs Marmorbild und eine genauere Untersuchung zu mehreren Texten von Carl Hauptmann. Weiter sind einige Texte Goethes, Döblins Berlin Alexanderplatz, Schriften von Luther, Fichte, Schleiermacher und von Anna Maria van Schurman berücksichtigt. Becker-Cantarino bleibt hier jedoch nicht dabei stehen, ihre Untersuchungen historischen Kriterien unterzuordnen, sondern sie bringt ihre Analysen synchron in thematischen Feldern zusammen, die dabei die aktuellen Diskussionen in der Germanistik abbilden – zumindest soweit diese von kulturwissenschaftlichen Strömungen beeinflusst sind.
Während im ersten Kapitel einführend ein Überblick über „Gender: Zur Genese eines Forschungsfeldes“ gegeben wird, enthalten die weiteren Kapitel die folgenden Themen: „Geschlechterdiskurse: Symbolische Weiblichkeit und Männlichkeit“ (Kapitel 2), „Körperdiskurse: Dämonisierung, Sexualität, Gewalt“ (Kapitel 3), „Familie, Freundschaft, Geselligkeit“ (Kapitel 4) und „Auto/Biographie, Autorschaft, Ästhetik aus der Geschlechterperspektive“ (Kapitel 5). Im Epilog versucht sich Becker-Cantarino an einer Abstrahierung ihrer Ergebnisse unter der Überschrift „Kulturelles Gedächtnis, deutsche Literatur und Gender“.
Eindrucksvoll gelingt es Becker-Cantarino, die mysogynen Subtexte der literarischen und religiösen Texte und die Interferenzen mit ihren diskursiven Kontexten freizulegen. Besonders das dritte Kapitel ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Die vielfach gebrauchte Formel des (Post-)Strukturalismus von dem Weiblichen als dem ‚Anderen der Vernunft‘ gewinnt in dem Kapitel über Körperdiskurse eine opulente Anschaulichkeit, welche an den Detailreichtum und die strukturelle Qualität der Ausarbeitung von Bourdieus Die männliche Herrschaft heranreicht: In Hexensabbatdarstellungen weist die Autorin eine Modulation in Richtung einer Hierarchisierung der dichotomen Unterscheidung Mann/Frau nach. Stelle der Holzschnitt von Hans Baldung Grien (1510) den Hexensabbat noch ohne „Hierarchie von Teufel und Hexen dar, sondern eher [als] eine einverständliche Interaktion der Frauen, eine unheimlich-machtvolle Frauengruppe“ (S. 101), so sei bei Frans Franckens Abbildung „Der Hexensabbat“ von 1607 der „Teufelskult, auf den die Hexen/Frauen sich beziehen“ (S. 109), bereits zentral, auch oder vielleicht gerade weil bei Francken „die magisch-zauberische Kraft der Frauen allgegenwärtig“ sei (ebd.). Diese beherrsche das Tableau, „auf dem die Macht der schwarzen Magie umso mehr betont wird: das Tierische, Bestialische, Grausame, die schwarze Magie, Nacht, Unwetter und Blitze, das Widernatürliche, Zerstörerische der geheimnisvoll-unverständlichen Beschwörungen“ (S. 109). Über die Struktur dieser Befunde hinausdenkend vermag die Autorin die sogleich aufkommende Assoziation an Bachtins Konzept der ‚Karnevalisierung‘ überzeugend abzuwehren und nimmt davon ausgehend die Leerstellen einer abstrahierenden strukturellen Perspektive in den Blick.
In Anschluss an die Herausarbeitung der dämonischen Allegorien des (anderen) Weiblichen in den Hexensabbatdarstellungen geht Becker-Cantarino den Weiblichkeitsbildern in Döblins bedeutendem expressionistischen Großstadtroman Berlin Alexanderplatz (erschienen 1929) nach. Sie weist hier einen „ähnlich angst- und gewaltbesetzte[n] Geschlechterdiskurs“ (S. 118) wie in den Hexensabbatdarstellungen nach; kritisch wertet sie Döblins Darstellungen als ein „Verfallensein an Gewaltphantasien und ihre Ausführung“ (S. 125). Die Autorin nimmt hier eindeutig Stellung, wenn sie kritisiert, dass der Autor seine dichterische Freiheit auch hätte nutzen können, um den realen Gesellschaftsverhältnissen ausdifferenzierte und weniger objekthafte Geschlechterbeziehungen entgegenzusetzen. So aber, empört sie sich, lässt Döblin „Biberkopf (und alle Männer des Romans) wie brutale Sadisten den Frauen begegnen“ (S. 124).
In einem kontrapunktischen Verfahren wendet sie sich anschließend dem 1978 erschienenen Roman Gestern war heute von Ingeborg Drewitz zu und arbeitet bei diesem im Unterschied zu Döblins Roman die „Hilflosigkeit vor der Gewalt“ als zentrales Thema heraus. Auf der Ebene ihrer Analysen gelingt es Becker-Cantarino hier, wie programmatisch zu Beginn des Kapitels angekündigt, die „Verquickung von Dämonisierung der weiblich kodierten Körperlichkeit mit dem Gewaltdiskurs“ (S. 91) freizulegen. Sie unterlässt es jedoch, die Ergebnisse der analytischen Freilegung wieder in ihren theoretischen Rahmen einzuführen, und begnügt sich mit einer beliebig wirkenden, allgemein gehaltenen Zusammenfassung. Damit verschenkt sie die Möglichkeit, dem Titel der Veröffentlichung gerecht werdend den Zusammenhang von Genderforschung und Germanistik genau zu lokalisieren, und bleibt damit auf theoretischer Ebene weit hinter der Qualität ihrer Forschungsergebnisse zurück.
Der aktuelle Forschungsrahmen des vierten Kapitels, der sich unter der Überschrift „Familie, Freundschaft, Geselligkeit“ auftut, wird mit soliden literaturhistorischen Analysen von sogenannten Eheschriften und von Hausväterliteratur illustriert. Eine facettenreiche Rekonstruktion der in diese Texte eingeschriebenen Frauen- und Männerbilder entschädigt zwar für die fehlenden Rekurse auf aktuelle Debatten in der wissenschaftlichen Geschlechterforschung über unterschiedliche (biologische, diverse soziologische und psychologische) Modelle von ‚Familie‘. Dennoch hätte ein kritischer Hinweis auf die (Un-)Eindeutigkeit der reproduzierten Weisen von Beziehungen die ungeheure Produktivität der Fragestellungen der Genderforschung deutlich machen und die Relevanz dieser theoretischen Wissenschaftsrichtung wirkungsvoll illustrieren können. So jedoch greift Becker-Cantarino immer wieder auf ein essentialistisches Setting zurück, das sich gelegentlich unter Einsatz poststrukturalistischer Formulierungen aktuell gibt, um an anderen Stellen den (Vor-)Denker/-innen dieser Konzepte „unhistorisches von der Realität abgehobenes Wunschdenken“ (S. 17) zu unterstellen, das „postmoderne Beliebigkeit und ein abgehobenes, sog. postfeministisches Geschlechterperformativ […] ausdrücklich propagiert“ (ebd.).
Es verwundert auch, dass die Autorin Foucaults Schriften in ihrem Problemaufriss des Kapitels zwar einführt, es aber dann unterlässt, die Geschlechtergestaltung (Patriarchat) als wesentliches Element der Macht(reproduktion) der christlichen Lehre interpretativ auszudifferenzieren. Sie formuliert stattdessen, dass „im Kontext der christlichen Lehre Ungleichheit als gesellschaftliche Abhängigkeit sanktioniert und festgehalten“ (S. 140) wird, und demarkiert damit unglücklicherweise die Modi der Macht, die sie eigentlich in den Blick bekommen möchte. Dennoch muss konstatiert werden, dass Becker-Cantarino die christlichen Schriften hinsichtlich ihrer Funktion für die anhaltende Dominanz des Männlichen überaus gewinnbringend aufbereitet. Durch die Zusammenstellung der Zitate aus der Primärliteratur wird die subtile Macht der geschlechtlichen Einschreibung in die religiösen Schriften auf bedrückende Weise verdeutlicht. Die Autorin stellt sicher, dass kein Zweifel an deren Wirkmächtigkeit aufkommt, und weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die merkliche Lockerung der Ausgrenzung von Frauen und Anderen (beispielsweise Juden) aus der literarischen Sphäre nach 1806 wieder aufgehoben wurde.
In dem Kapitel zu „Auto/Biographie, Autorschaft, Ästhetik aus der Geschlechterperspektive“ geht Becker-Cantarino am Beispiel des eindrucksvoll recherchierten Lebenswegs der hochintelligenten Anna Maria van Schurman (1607-1678) der spannenden Frage nach, inwiefern eine individuelle Identität über Handlungsmöglichkeiten, die sich zum Beispiel durch Autorschaft realisieren, entwickelt werden kann. Der genauen Exegese des Ego-Dokumentes der Anna Maria van Schurman folgt jedoch unglücklicherweise ihre interpretative Rekonstruktion in den Begrifflichkeiten des Freudschen Modells der psychosexuellen Entwicklung und des Identitätsmodells von Erikson als dessen Weiterentwicklung . Hier lässt die Autorin leider die Chance ungenutzt verstreichen, auf aktuellere, Freud-kritische Untersuchungen zurückzugreifen und damit ein differenziertes Identitätsmodell, wie es Judith Butler in Anschluss an Michel Foucault herausgearbeitet hat, in Anschlag zu bringen. Ihre Interpretation ist darauf angewiesen, eine harmonische Selbstfindung Anna Maria van Schurmans zu konstruieren, welche die interessanten Brüche und Verwerfungen, die in der Analyse erarbeitet werden, nicht erklären kann. Becker-Cantarinos Resümee liest sich dann auch in seiner Zirkularität etwas holprig: „Die Übernahme dieser sozialen und religiösen Rolle verschafft dem autobiographischen Ich die Identität; die drei physischen Instanzen Es, Ich und Über-Ich harmonieren für Anna Maria van Schurman im freiwilligen Anschluss an die Labadisten; hier kann sie die Triebansprüche und die Ansprüche der Gesellschaft in der religiösen Ich-Identität (Erikson) miteinander versöhnen; sie ist im klaren Bewusstsein innerer Identität.“ (S. 203) Dennoch fesseln die Untersuchungsergebnisse durch ihre Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit.
Daneben stellt Becker-Cantarino mit Bourdieu die aufschlussreiche Frage (und beantwortet sie auch), welches die Produktionsbedingungen von Literatur, Wissenschaft und christlichen Schriften in einem grundlegend patriarchalisch strukturierten Feld sind. Die Forschungsergebnisse verdeutlichen in diesem Zusammenhang, dass es für van Schurman überhaupt nur in bestimmten Diskursformen möglich ist, sich an den Debatten ihrer Zeit zu beteiligen. Die Unmöglichkeiten weiblichen Schreibens und weiblicher Autorschaft befähigen/zwingen insofern das schreibende Subjekt zu subversiver Partizipation an den hegemonialen Aussageformationen.
Im Schlusskapitel „Kulturelles Gedächtnis, deutsche Literatur und Gender“ greift die Autorin den Begriff des kulturellen Gedächtnisses auf, den sie in der theoretischen Einleitung recht umstandslos eingeführt hatte: „Es ist an der Zeit, auch das kulturelle Gedächtnis hinsichtlich der Genese der Gender Studies aufzufrischen“ (S. 19). Sie verweist hier auf die Literaturgeschichte als „Archiv des kulturellen Gedächtnis“ und plädiert für eine „gendersensible Literaturwissenschaft“ (S. 230). Wie diese im Einzelnen aussehen soll, wird in dem knappen Kapitel zunächst nur angerissen. Es steht jedoch zu hoffen, dass in einer Literaturgeschichte, wie sie Becker-Cantarino fordert, der Anspruch für die Auswahl der Beiträge, dass diese „offen [sei] für die unterschiedliche Repräsentanz anderer, nicht-kanonisierter Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ (S. 230), mit größerer Ernsthaftigkeit eingelöst wird, als anachronistische Ausführungen wie die folgende es vermuten lassen: „Darstellungen zu anderen Kontexten wie österreichische Literatur, Arbeiterliteratur, jüdisch-deutsche Literatur oder Migranten-Literatur gibt es zur Genüge“ (S. 233).
Becker-Cantarino gelingt es nur teilweise, das Versprechen, das der Titel ihres Buches suggeriert, nämlich eine grundlegende Darstellung zu „Genderforschung und Germanistik“ zu bieten, einzulösen. Um so eher wird deutlich, dass interdisziplinäre Arbeiten, die sich in beiden Forschungsfeldern ansiedeln, zwischen diesen Wissensformationen transferieren und produktive Interferenzen ausloten, dringend benötigt werden. Nachdem sich die Germanistik vor allem durch den Einfluss der Kulturwissenschaften für gemeinhin unter dem Label des Poststrukturalismus rangierende Konzepte öffnete, stehen nun Forschungen aus, die sich auch aus germanistischer Sicht an eine Weiterentwicklung poststrukturalistischer, queerer oder sogenannter ‚genderforschender‘ Ansätze und Konzepte machen und diese nicht nur unkritisch übernehmen oder beliebig zum Einsatz bringen. Becker-Cantarinos Arbeit muss deshalb unbedingt im Kontext dieser schwierigen Aufgabe gewürdigt werden. Die vorgelegte Untersuchung erschließt umsichtig und detailreich literarische und religiöse Texte vor dem Hintergrund feministischer Studien und der Gender Studies und führt damit die grundlegende Relevanz der Genderforschung für die Germanistik, insbesondere für die Literaturgeschichte deutlich vor Augen. Zwar ist das Ziel, profund in theoretische Konzepte der Genderforschung einzuführen, wohl etwas zu hoch gegriffen, doch erhalten die Leser/-innen einen deutlichen Eindruck von den Spuren, die Geschlechterverhältnisse in den untersuchten Materialien hinterlassen haben. Theoretische Unsicherheiten im Bereich der Geschlechterforschung werden durch die Hypotypose des konstitutionellen Zusammenhangs von Geschlecht und Text schließlich mehr als ausgeglichen.
URN urn:nbn:de:0114-qn122063
Sahra Dornick
Universität Potsdam
Institut für Germanistik, Neuere deutsche Literatur/19. und 20. Jahrhundert
E-Mail: sahra.dornick@googlemail.com
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